EINLEITUNG
Was Sie noch nie über Mädchen und Sex wissen wollten (aber unbedingt fragen sollten)
Vor einigen Jahren wurde mir klar, dass meine Tochter bald kein kleines Mädchen mehr sein würde. Sie hatte die Pubertät vor sich, und das versetzte mich, gelinde gesagt, in Panik. Als sie noch im Kindergarten war und in ihrem Prinzessinnenkostüm herumspazierte, lernte ich die Untiefen der Prinzessinnen-Industrie kennen und gelangte zu der Überzeugung, dass ihre scheinbar unschuldige, hübsche, rosarote Kultur kleine Mädchen auf etwas Heimtückisches vorbereitete, das sie später erwartete. Und dieses »später« kam jetzt auf uns zugerast wie ein Lkw – ein Lkw, dessen Fahrerin zwölf Zentimeter hohe Absätze und einen superkurzen Minirock trug und Instagram checkte, während sie eigentlich auf die Straße schauen sollte. Ich hatte von Freunden, die Eltern von Teenagern waren, Horrorstorys darüber gehört, wie Mädchen in der sogenannten »Aufreiß«-Kultur behandelt wurden, wie sie zum Sexting, also anrüchigen und pornographischen Textnachrichten, gedrängt oder Opfer von Skandalen in den sozialen Medien wurden und wie allgegenwärtig das Thema Sex ist.
Ich hätte eigentlich Expertin im Decodieren der widersprüchlichen Botschaften der Mädchenkultur sein sollen. Ich reiste durch das Land und erklärte Eltern den Unterschied zwischen Sexualisierung und Sexualität. »Wenn kleine Mädchen ›sexy‹ spielen, bevor sie die Bedeutung des Wortes verstehen, lernen sie, dass Sex eine Darbietung für andere statt einer gefühlten Erfahrung ist«, sagte ich ihnen. Wohl wahr. Aber was ist, wenn sie dann die Bedeutung des Wortes verstehen?
Nicht, dass ich eine Antwort darauf gehabt hätte. Ich tat selbst auch nur mein Bestes, um eine gesunde und glückliche Tochter großzuziehen – in einer Zeit, in der Promis sich selbst als Sex-Objekte präsentierten, um Stärke, Macht und Unabhängigkeit zur zeigen, in der begehrenswertes Aussehen ein Ersatz für das Fühlen von Begehren zu sein schien, in der der Film Fifty Shades of Grey mit seiner psychisch labilen, auf ihren Lippen herumkauenden Heldin und seinem gruseligen, stalkenden Milliardär als ultimative weibliche Fantasie gepriesen wurde und in der keine Frau unter 40 noch Schamhaare zu haben schien. Natürlich habe ich als junges Mädchen auch endlos Songs wie »Sexual Healing« und »Like a Virgin« gehört, aber im Vergleich zu L’il Waynes »Bitch«, deren »strenge Diät« im Song »Love Me« aus nichts außer »Schwanz« besteht, oder Maroon 5’s Versprechen in »Animals«, eine Frau aufzuspüren und bei lebendigem Leib aufzufressen, waren sie Stoff für den Disney Channel. (In dem Video zu »Animals« stalkt Lead-Sänger Adam Levine das Objekt seiner Begierde in Metzgerkleidung, einen Fleischerhaken schwingend, und hat am Ende blutverschmiert Sex mit ihr.) Da möchte ich mich doch glatt bei Tipper Gore dafür entschuldigen, wie meine Freundinnen und ich uns in den 90er Jahren über sie lustig gemacht haben. Seither haben unzählige Studien die schockierende Häufigkeit sexueller Gewalt an amerikanischen Colleges nachgewiesen. Das Problem ist so gravierend geworden, dass Präsident Obama (selbst Vater zweier Töchter) sich eingemischt hat.
Obwohl Mädchen inzwischen zahlenmäßig stärker als Jungen an Colleges vertreten waren und obwohl sie sich richtig »reinhängten«, um ihre akademischen und beruflichen Träume zu realisieren, fragte ich mich: Geht es in Sachen Emanzipation voran oder rückwärts? Haben die jungen Frauen von heute mehr Freiheiten als ihre Mütter, wenn es um die Gestaltung sexueller Begegnungen geht, haben sie dabei mehr Einfluss und mehr Kontrolle? Können sie sich besser gegen Stigmatisierung wehren, und sind sie besser dafür gewappnet, ihre Lust zu erkunden? Und falls nicht, warum nicht? Mädchen leben heute in einer Kultur, in der zunehmend akzeptiert wird, dass es keinen Konsens gibt, wenn nicht beide Beteiligten unmissverständlich in eine sexuelle Begegnung einwilligen – nur ja bedeutet ja. So weit, so gut, aber was kommt nach dem Ja?
Ich musste als Mutter und Journalistin die Wahrheit hinter den Schlagzeilen herausfinden – was Realität und was Hype war. Also fing ich an, Mädchen zu interviewen. Ich führte mit ihnen in die Tiefe gehende, stundenlange Gespräche über ihre Einstellungen, Erwartungen und frühen Erfahrungen mit dem gesamten Spektrum der körperlichen Intimität. Ich befragte die Töchter von Freunden von Freunden (und die Freundinnen dieser Mädchen und auch deren Freundinnen) und Schülerinnen von Highschool-Lehrern, die ich kennen gelernt hatte. Ich bat Dozenten an Universitäten, die ich besucht hatte, Rundmails zu verschicken, in denen Mädchen, die daran interessiert waren, mit mir zu sprechen, eingeladen wurden, Kontakt zu mir aufzunehmen. Schließlich befragte ich mehr als 70 junge Frauen zwischen 15 und 20 – eine Altersspanne, in der die meisten sexuell aktiv werden. (Der durchschnittliche amerikanische Teenager hat mit 17 zum ersten Mal Sex; mit 19 hatten drei Viertel aller Teenager schon Sex. Laut einer 2015 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Studie haben auch in Deuschland die meisten Teenager mit 17 zum ersten Mal Geschlechtsverkehr.) Ich habe mich nur auf Mädchen konzentriert, weil es als Journalistin schon immer meine Leidenschaft und meine Berufung, war, über junge Frauen zu schreiben. Ich berichte seit mehr als 25 Jahren über ihr Leben. Mädchen werden bei ihren auf Sex bezogenen Entscheidungen mit besonderen Widersprüchen konfrontiert: Trotz der veränderten Erwartungen und Chancen unterliegen sie immer noch derselben alten Doppelmoral, dass ein sexuell aktives Mädchen eine »Schlampe« ist, während ein sexuell aktiver Junge als cooler »Aufreißer« gilt. Heute werden allerdings auch Mädchen, die auf Sex verzichten und früher als »tugendhaft« gegolten hätten, verächtlich als »Jungfrauen« oder als »prüde« bezeichnet. Oder wie eine Oberstufenschülerin es ausdrückte: »Normalerweise ist das Gegenteil von etwas Negativem etwas Positives, aber in diesem Fall ist beides negativ. Wie soll man sich da verhalten?«
Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die Erfahrungen aller jungen Frauen wiederzugeben. Meine Interviewpartnerinnen waren entweder schon auf dem College oder hatten vor, dorthin zu gehen. Ich wollte gerade mit den jungen Frauen sprechen, die das Gefühl hatten, dass ihnen alle Chancen offenstehen, und die am meisten vom wirtschaftlichen und politischen Fortschritt profitierten. Ich hatte sie auch selbst ausgewählt. Doch ich hatte dabei mein Netz weit gespannt: Die Mädchen, die ich traf, kamen vom Land, aus Groß- und Kleinstädten. Sie waren Katholikinnen, Protestantinnen, Evangelikale, Jüdinnen und konfessionslos. Bei manchen waren die Eltern verheiratet, bei anderen geschieden; manche lebten in Patchworkfamilien, andere bei allein erziehenden Elternteilen. Die Mädchen hatten einen politisch konservativen oder liberalen Hintergrund, wenn auch die meisten eher letzterem zuneigten. Die meisten von ihnen waren Weiße, aber viele auch Afroamerikaner oder asiatischer, lateinamerikanischer oder arabischer Herkunft. Etwa zehn Prozent gaben an, lesbisch oder bisexuell zu sein, auch wenn die meisten, insbesondere wenn sie noch auf der Highschool waren, ihre Neigung noch nicht ausgelebt hatten. Zwei der Mädchen waren körperlich behindert. Die weitaus meisten kamen zwar aus der oberen Mittelschicht, aber es gab auch andere ökonomische Hintergründe. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich alle Namen und Details, die eine Identifizierung ermöglichen würden, geändert.
Zuerst machte ich mir Sorgen darüber, dass die Mädchen vielleicht nicht bereit sein würden, mit mir über ein so persönliches Thema zu reden. Doch diese Sorgen waren völlig unbegründet. Wo immer ich hinkam, gab es mehr Freiwillige, als ich befragen konnte. Die Mädchen waren nicht nur bereit zu sprechen, sondern geradezu begierig darauf. Kein Erwachsener hatte sich bisher für ihre Erfahrung mit der Sexualität interessiert – was sie taten, warum sie es taten, wie es sich anfühlte, was sie sich erhofften, was sie bedauerten, was ihnen Spaß machte. In den Interviews kam ich oft kaum dazu, eine Frage zu stellen. Die Mädchen fingen einfach zu sprechen an, und ehe wirs uns versahen, waren Stunden vergangen. Sie erzählten mir, was sie über Selbstbefriedigung und Oralsex (sowohl passiv als auch aktiv) und den Orgasmus dachten. Sie sprachen über den schmalen Grat zwischen Jungfrau und Schlampe. Sie sprachen über aggressive und einfühlsame Jungs, über Jungs, die Gewalt ausübten, und über Jungs, die ihnen den Glauben an die Liebe zurückgaben. Sie gestanden, sich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, und sprachen über ihre Angst vor elterlicher Ablehnung. Sie sprachen über das komplizierte Terrain der sogenannten »Aufreiß«-Kultur, in der es nur um Sex und nicht um Gefühle geht. Sie ist heute an Colleges gang und gäbe und breitet sich allmählich auch an den Highschools aus. Etwa die Hälfte der Mädchen hatte Erfahrungen irgendwo im Spektrum zwischen Nötigung und Vergewaltigung gemacht. Diese Geschichten waren nur schwer zu ertragen. Ebenso beunruhigend war, dass nur zwei der betroffenen Mädchen zuvor schon mit einem Erwachsenen darüber gesprochen hatten.
Aber auch wenn sie über einvernehmliche sexuelle Begegnungen berichteten, tat es mir oft weh, den Mädchen zuzuhören. Das klingt vielleicht nicht neu, aber allein diese Tatsache ist schon hinterfragenswert. Wenn sich im öffentlichen Bereich so viel für die Mädchen verändert hat, warum hat sich dann nicht mehr – viel mehr – im privaten Bereich...