2. GEISTIGE LANDESVERTEIDIGUNG IM KALTEN KRIEG – IN EINER ZUKUNFT DER VERGANGENHEIT
Ist die Schweiz eine tadellos funktionierende, aber unnütze Maschine? Diese Frage richtet sich an eine geistige Landesverteidigung, die nach dem Krieg weitergeht. Kalte Krieger, von denen später die Rede ist, übernehmen die alte Propaganda wortgetreu für den 1947 gegründeten Schweizerischen Aufklärungsdienst (SAD). Auf erste Kritik stossen der SAD und seine Umkreise in den frühen 1960er-Jahren: Die heisse Phase des Kalten Krieges ist vorbei, und Herr und Frau Schweizer stellen sich bald die Frage, was man eigentlich sei.
Perfekt, unnütz: So charakterisiert der italienische Semiologe Umberto Eco ein Kunstwerk Jean Tinguelys namens Heureka, erstmals vorgeführt an der Landesausstellung 1964. Die Heureka sei ein «monströses Räderwerk, dessen Räder und Bolzen, Schienen und Wägelchen, Pleuelstangen, Kurbeln, Ventile, Differenziale und Ritzel sich in perfekter Synchronisation bewegen, jedes Teil auf das benachbarte ausgerichtet und das Ganze auf nichts», schreibt Eco und spannt den Bogen zur Expo.127 Tinguelys Exponat macht sich einen Spass aus ihr. «Millionen tadellos funktionierender Rädchen» sieht Eco in Lausanne, sie skandieren «die Stunden der Schweizerischen Geschichte und die Minuten ihrer Arbeit»:128
«In der Expo stellt die Schweiz vor allem ihre Expositionsfähigkeit aus, einen ihr eigenen Sinn für Ordnung und Einteilung. Die Expo stellt eine Expo aus, und die Inhalte sind nur ihr Vorwand.»129
8 Am Tag der Urschweiz an der Expo 64 in Lausanne trifft Wilhelm Tell auf Tinguelys Heureka
Der Fortschrittsoptimismus der 1950er-Jahre herrscht fort an der Expo 64. Das Land will schön sein, offen, korrekt. Problemlagen thematisiert es in einem wohlinszenierten Rahmen, selbst Subversives wie die Heureka wird integriert, «nützlich» gemacht. Avantgardistische Kunst jagt dem Bürger nicht denselben Schreck ein wie in der Vorkriegsmoderne.130 Zwar provoziert die Heureka nicht nur harmlose Empörung. Der Theologe und Schriftsteller Kurt Marti berichtet von einer «Wallung», in die Tinguely «das ominöse ‹gesunde› Volksempfinden» versetzt habe – von «Zornergüssen» noch vor der Eröffnung.131 Doch das offizielle Erinnerungsbuch der Expo nimmt das Skandalobjekt mühelos in das Ausstellungskonzept auf:
«Die Liebe des Schweizers für alles Nützliche ist ein echt helvetisches Erbgut. Es ist deshalb amüsant, dass ausgerechnet ein Schweizer eine Maschine erfand, die keinen andern Zweck hat, als den Betrachter mit dem reinen Bewegungsspiel ihres Räderwerks zu erfreuen.»132
Und noch etwas, eine Belehrung entnimmt das Erinnerungsbuch Tinguelys Skulptur: «Möge nie ein Tag kommen, an dem der Mensch der Maschine unterworfen wird!»133 Umberto Eco warnt jedoch vor der Sprengkraft einer anderen, einer politischen Frage, die in Lausanne verdrängt werde. Die Expo sei eine «Manifestation innerhalb des schweizerischen Systems, in der das System sich selbst zur Schau stellt, seine besonderen Aspekte aufrichtig kritisiert, sich selbst als System aber nicht in Frage stellt».134 Das ganz andere System, auf das Eco wohl anspielt, liegt hinter dem Eisernen Vorhang.
Die Sowjetunion ist der neue Feind vieler geistiger Landesverteidiger. Nach dem Krieg lerne die bürgerliche Schweiz «ausserordentlich rasch die These vom doppelten Totalitarismus und gibt der Bedrohung einen anderen Namen», schreibt Kurt Imhof.135 Stalin wird der neue Hitler – und Sozialismus gleichgesetzt mit Nationalsozialismus. In dieser «zweiten geistigen Landesverteidigung»136 fehlen laut Imhof sozialdemokratische, linksliberale Positionen,137 wie sie zum nationalen Selbstverständnis in den 1930-Jahren gehörten. Das «Böse»138 liege nun eindeutig im Osten. Neu aber werde es auch im Innern gefürchtet: «Der Staat selbst ist eine sozialistische Gefahr.»139
9 Der «Wehrigel» im Armeepavillon der Expo 64.
Haben sich die geistigen Landesverteidiger von einst radikalisiert? Wurden sie kalte Krieger? Ein Blick auf die Lausanner Expo 64 entspricht kaum diesem Bild von einer verschärften «zweiten» geistigen Landesverteidigung. Viele, die 1939 den Geist der «Landi» heraufbeschworen hatten, prägen auch die neue Landesausstellung. Und längst nicht alle sind Kommunistenfresser. 1959 wird von der Expo-Direktion eine Studiengruppe einberufen, zu der namhafte Vertreter gehören: Herbert Lüthy, Denis de Rougemont und Karl Schmid, wenn auch ihr Einfluss auf die Ausstellung nicht überschätzt werden sollte.140 Alle drei befinden sich auf einem Balanceakt zwischen Öffnung und Tradition.
Denis de Rougemont gehörte 1940 nach der Einkreisung durch die Achsenmächte zu den Gründern des Gotthardbundes,141 in dem sich Patrioten der unterschiedlichsten politischen Richtungen zusammenschlossen. Später, 1965, fordert er in La Suisse ou l’histoire d’un peuple heureux, die Eidgenossenschaft solle zum Bundesdistrikt der künftigen Vereinigten Staaten von Europa werden.
Karl Schmid, Oberst im Generalstab, Vortragsredner der Propagandabteilung Heer und Haus und Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich, veröffentlicht ein Jahr vor der Expo 64 seine grosse Schrift Unbehagen im Kleinstaat, in der er Max Frisch angreift. Den jungen Schriftsteller, den er fördert, sieht Schmid wie viele andere Schweizer Autoren an der «Schicksalslosigkeit» des Kleinstaates leiden – sie sehnten sich nach grösseren Verhältnissen.142 Doch Karl Schmid war nicht nur kleinstaatlich-konservativer Mahner. Fast in Vorwegnahme von Tinguelys Heureka143 schreibt er 1957 eine noch zaghafte Kritik am schweizerischen Bürgertum: an einer «Denkweise – nennen wir sie Perfektionismus –, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Frage nach den Zielen und Zwecken des Lebens und nach den wirklichen Werten ganz in den Schatten der Frage nach der Perfektion der jeweiligen Leistung tritt. Dann mag es zu einer wahren Travestie des sinnvollen Lebens kommen; Sorgfältigkeit, Säuberlichkeit, Ordentlichkeit beanspruchen den Rang des Nichtanzufechtenden, und die Heiligung des Schul- und Ordonnanzgemässen ist in schönstem Gange.»144
10 Herbert Lüthy (1918 – 2002) war der grosse Stilist und Einzelgänger der schweizerischen Geschichtsschreibung und Publizistik.
1942 bis 1944 kommentierte der Sohn eines Indien-Missionars für das St. Galler Tagblatt das Kriegsgeschehen. Im Kalten Krieg wendete sich Lüthy kritisch gegen die Dominanz linker Ideologien, ebenso sehr aber warnte er vor dem Abbruch jeglicher Ostkontakte. In seinem Essay «Die Schweiz als Antithese» verstand er 1961 sein Land als Ausnahme in der europäischen Entwicklung, als einen Ort, an dem die grosse Zusammenballung unter einem zentralisierten Regierungsapparat noch nicht stattgefunden habe. Das Zeitgeschehen beobachtete Lüthy meist von Paris aus, über Frankreich schrieb er seine angesehensten Werke. Ende der 1950er-Jahre wurde er zusammen mit J. R. von Salis zu einem der kritisch beäugten «Journalisten», die an der ETH über «Questions actuelles» dozierten. 1977, nach der Berufung Jean Zieglers, gab Lüthy sein Ehrendoktorat auf Druck der Philosophieprofessorin Jeanne Hersch an die Universität Genf zurück.
Der sensibelste, feingeistigste Landesverteidiger in der Expo-Studiengruppe ist der 1918 geborene Historiker Herbert Lüthy. Den jungen Lüthy bewegte bereits während des Zweiten Weltkrieges das Weltgeschehen mehr als die Schweizer Innenschau. Doch konnte auch er in seiner Kolumne im St.Galler Tagblatt zu Verteidigungsreden ansetzen. Ende 1944 wehrt sich Lüthy gegen den Vorwurf, die schweizerische Aussenpolitik sei «sowjetfeindlich und profaschistisch». Das sei eine «plebejische Simplifikation». Die eidgenössische Haltung habe eher dem «Geisteszustand von Grossaktionären» entsprochen – der Haltung «durchaus guter Demokraten, die bei aller Standhaftigkeit» kein einträgliches Geschäft verpassten.145 Dasselbe tadelnde Lob teilt Lüthy 1961 aus: Die Eidgenossenschaft habe «ihre Staatsform gegen den Strom der allgemeinen europäischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte aufgebaut», «das Wesentliche ihrer mittelalterlichen Strukturen» bewahrt und auch die «Identifizierung von Staat und Nation nicht gekannt».146 Ohne am nationalistischen Zeitalter teilzunehmen – «die Epoche, vor deren Ruinen das heutige Europa steht» –, setzte die Schweiz dem Nationalismus «ständig die Herausforderung ihres multinationalen und pluralistischen Bundesstaates»147 entgegen. Lüthy bewundert diese «regelwidrige Geschichte»148 – und warnt zugleich vor ihren Folgen:
«Ich glaube immer noch, dass wir uns, alles wohl erwogen, nur dazu beglückwünschen können; doch zweifellos hat uns dies auch gezeichnet. Es hat uns vor allem geprägt während jenes Triumphzugs eines frenetischen und blutrünstigen Rassennationalismus, der im grossen Weltkrieg endete. Während jener Jahre, in denen die Schweiz einer verlorenen Insel im teutonischen Meer glich, hat sie...