1.
Anti-Aging im Mittelalter –
Ein Mönch irrt
Eine alte, unheimliche Geschichte, erzählt vom Mönch von Heisterbach. Es war im Mittelalter. Trutzig ragten die Burgen am Rhein empor, die Ritterkultur stand in voller Blüte, und die spannendsten geistlichen Abenteuer hatte der Zisterzienserorden zu bieten. Zu Tausenden hatten sich die Söhne der edelsten Familien, aber auch einfache Leute von den Predigten des Bernhard von Clairvaux begeistern lassen und waren in diesen Orden eingetreten, der doch nichts anderes sein wollte als eine Erneuerung des Benediktinerordens. Strenger sollte es zugehen bei den Zisterziensern, so wie es Benedikt von Nursia wirklich gemeint hatte, ohne Pracht und Reichtum, wohl aber mit viel Arbeit, vor allem Feldarbeit. Hunderte Zisterzienserklöster entstanden in ganz Europa. Nicht oben hoch auf Bergen wie viele Benediktinerabteien, sondern in fruchtbaren Tälern und Auen lagen die Zisterzen. Und so hatten Mönche aus Himmerod in der Eifel auch im idyllischen Heisterbach, nahe beim Rhein, im Siebengebirge, ein Kloster gegründet.
Wie überall bei den Zisterziensern, so war auch hier der ganze Tag durch die Gebetszeiten gegliedert. Schon um vier Uhr morgens standen die Mönche im Chor der Klosterkirche vor Gott und sangen die uralten Gebete der Kirche, die Psalmen. Die Zeit war für sie die Zeit Gottes, und die Mönche heiligten sie durch das Gebet. Allgegenwärtig war solchen Menschen die Zeit und die Ewigkeit. Jahrelang also hatte der Mönch von Heisterbach mit seinen Mitbrüdern tagein, tagaus im Chor der schönen Klosterkirche gestanden und Gott gepriesen, Gott, das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende, Gott, den Herrn der Zeit. Für kaum jemanden werden also die Zeit und die Welt so real gewesen sein wie für einen solchen Mönch. Und da passiert das Unglaubliche. Eines Tages geht der Mönch, vom wundervollen Zwitschern eines Vogels verführt, hinaus in den Wald. Der fromme Mann ist in Gedanken und verläuft sich. Schließlich schläft er, auf einem Baumstumpf sitzend, ein. Das Läuten der Klosterglocke weckt ihn, und dem Klang der Glocke folgend, kehrt er in sein Heimatkloster zurück. Er klopft an die Pforte – und es öffnet ihm ein Mönch, den er nie im Leben gesehen hat. Verblüfft schauen beide sich an. Was er denn wolle, fragt der Pförtner. Er wolle zurück in sein Kloster, habe sich ein wenig verlaufen. Er kenne ihn nicht, entgegnet der wackere Pförtner, es fehle auch kein Mönch im Kloster. Das könne nicht sein, sagt der Mönch von Heisterbach, er habe sich doch nur ein wenig verspätet. Und als er in die Kirche tritt, in der gerade die Mönche zum Gebet versammelt sind, erkennt er keinen einzigen von ihnen. Der Abt aber lässt in der Chronik des Klosters nachlesen, und da findet sich aus unvordenklichen Zeiten ein Eintrag, dass eines Tages ein Mönch dieses Namens in den Wald gegangen sei und nie mehr zurückkehrte …
Immer schon scheinen Menschen von dem Gefühl geplagt gewesen zu sein, dass die Welt, so wie sie ihnen vertraut war, sich plötzlich als Bluff erweisen könnte. Immer schon scheinen Menschen Angst davor gehabt zu haben, dass alle Selbstverständlichkeiten mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich sind, dass ein Spiel mit ihnen getrieben wird, das sie nicht durchschauen. Da gab es natürlich auch harmlose Varianten, wie den sprichwörtlichen Fürsten Potemkin, der seiner Zarin, der machtvollen Katharina der Großen, auf ihrer Reise zur Krim prachtvolle Dörfer als Kulissen vorgespiegelt haben soll. Doch wenn schon eine großmächtige Herrscherin zum Narren gehalten werden kann, wie noch viel eher dann unsereins durch wen auch immer, wann auch immer, warum auch immer.
Ahnungen eines solchen Gefühls gibt es schon aus schlichten biologischen Gründen. Jeder, der mal längere Zeit nachts durchgearbeitet hat, kennt dieses Gefühl der leichten Enthemmung und den diffusen Eindruck, dass die Welt irgendwie merkwürdig erscheint, überhell, überplastisch. Die Welt wirkt fremd. Derealisation nennt das die Wissenschaft, und ein solches Erleben ist noch ganz normal und kann jedem zustoßen. Als ich im Studium mal wieder die Nacht zum Tag gemacht hatte, um eine Hausarbeit auf den letzten Metern fertigzubekommen, passierte es mir, dass ich am anderen Tag plötzlich dem Professor gut gelaunt über den Mund fuhr, das aber glücklicherweise gerade noch merkte und im letzten Moment mit ein paar entschuldigenden Bemerkungen die Kurve kriegte. Ich weiß noch, wie ich dachte: Irgendetwas stimmt hier nicht.
Nicht nur akute Schlaflosigkeit, sondern auch dauernde Machtausübung kann offensichtlich den Sinn für die Realität trüben. Unvergesslich bleibt das namenlose Entsetzen im Gesicht des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu, als er auf den Balkon vor die auf dem Platz versammelten Volksmassen trat und plötzlich von einem Moment auf den anderen gewahr wurde, dass sie ihm nicht wohlorganisiert zujubelten wie sonst immer, sondern wütend protestierten. Ungläubig stierte der Diktator auf sein Volk wie auf eine Erscheinung.
Auch Hitler, als er im Führerbunker seinen eigenen Untergang erlebte, muss sich gefühlt haben wie im falschen Film. Er glaubte an Phantasiedivisionen, die es gar nicht mehr gab, und hielt so lange wie eben möglich die Fiktion seiner Welt aufrecht, die mit der wirklichen Welt schon längst nichts mehr zu tun hatte.
Ebenso erging es Erich Honecker und seiner Frau, Saddam Hussein, Muammar al Gaddafi. Am Schluss schien ein völliger Realitätsverlust zu bestehen. Und wer erinnert sich nicht an die ratlosen Worte des Massenmörders Erich Mielke, der die Welt nicht mehr verstand und den von ihm Bespitzelten und Verfolgten in der DDR-Volkskammer der Wendezeit zurief: »Ich liebe doch alle Menschen.«
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass gerade diejenigen, die reale Macht ausüben, in besonderer Gefahr zu sein scheinen, irgendwann der Realität zu entrücken. Auch in demokratischen Verhältnissen gelingt es kaum einem wichtigen Politiker, den eigenen dringend fälligen Abgang von der Macht würdevoll selbst zu wählen. Die kunstvolle Machtwelt, die sie sich da so lange Zeit selbst eingerichtet haben, erscheint ihnen so real, als könne daneben nichts anderes behaupten, die eigentliche Welt zu sein. Man denke nur an den spektakulären Realitätsverlust von Gerhard Schröder, der im Jahre 2005 nach klar verlorener Wahl im Fernsehen so auftrat, als könne ihm nichts und niemand seine Macht nehmen. Die Geschichte kennt ja tatsächlich kaum zurückgetretene Herrscher wie Kaiser Diocletian und Kaiser Karl V., aber so manchen machtvollen Greis, der, eingesponnen in eine längst vergangene, irreale, nostalgische Welt, verhängnisvolle Entscheidungen fällte, wie Hindenburg, als er Hitler die Tür zur Katastrophe öffnete. Wer nicht merkt, dass er im falschen Film lebt, kann gefährlich werden.
Als Psychiater erlebe ich aber auch die weniger gefährlichen kranken Varianten des Realitätsverlusts: Den Schizophrenen, der im akuten Schub seiner Störung in einer eigenen schillernden Welt aus halluzinierten Phänomenen und wahnhaften Gewissheiten lebt, die außer ihm niemand wirklich nachvollziehen kann, und der nach seiner Gesundung darüber rätselt, wie er in diese fremde Welt, von der er so überzeugt war wie von nichts anderem in seinem Leben, hineingeraten und ihr dann wieder glücklich entronnen ist. Den verzweifelt Depressiven, der in einer düsteren Welt ohne Farbe, ohne Lebendigkeit und ohne Ausweg lebt, dem die Zeit erstarrt scheint, bleiern und schwer und der sich, gesundet, im Nachhinein selbst nicht mehr versteht, wenn er wieder auftaucht aus diesem unheimlichen Reich der Schatten. Da sind die vielen anderen psychisch Kranken, die für eine gewisse Zeit ihres Lebens die Welt ganz anders, leidvoller und jedenfalls so erleben, dass niemand sie wirklich versteht. Wer sagt eigentlich, dass die Welt der Krankheit falsch und unsere gesunde Welt richtig ist? Gilt hier auch einfach das demokratische Mehrheitsprinzip, dass Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt, oder hält man es mit dem Autoritätsprinzip: Was die wahre Welt ist, bestimmt der Chefarzt?
Drogenabhängige suchen absichtlich diesen Kitzel der künstlichen Welten. Sie suchen halluzinierte Gefühle, vielgestaltige farbige Wirklichkeiten, die sie bei Bedarf herstellen wollen und nach denen sie je länger, je mehr unersättlich werden. Auch sie wollen freilich nicht im Horrortrip überrascht werden von befremdlichen anderen Welten, wollen die Theaterdirektoren bleiben im ewigen Karneval künstlicher Gefühle, auf der Suche nach dem herstellbaren Glück, und sinken doch schließlich herab zum ewig suchenden süchtigen Sklaven ihrer einstmals eigenen Inszenierung. Jede Sucht ist auch ein Ausstieg aus der Welt, in der wir alle leben, und manchmal ein Ausstieg für immer, ein Selbstmord auf Raten. Der Film, in dem der Süchtige am Ende lebt, hat mit dem, was unsereins für die Realität hält, nichts mehr zu tun. Ist also seine Welt falsch und unsere richtig?
Ganz anders als bei psychisch Kranken ist es bei Kindern, deren Geist ja bekanntlich weniger domestiziert ist als der älterer Menschen und die sich daher in ihrer Phantasie ohne weiteres in ganz vielen Welten gleichzeitig heimisch fühlen können. Manchmal stellen sie sich vor, sie wären in Wirklichkeit ein Königskind oder ein anderer bedeutender Mensch, was ihnen aber wegen einer geheimen Absprache niemand verraten dürfe. Für Kinder ist es auch nicht so wichtig, ob die Welt, in die sie sich gerade hineinphantasiert haben, die wirkliche Welt ist. Kinder schließen keine Verträge, Kinder verdienen kein Geld, Kinder fällen keine Lebensentscheidungen. Für Kinder ist die Welt noch ein großes Spiel. Erst für Erwachsene kann...