26ANEKDOTE
Die Anekdote beziehungsweise ihre Interpretation ist eines der drei zentralen Elemente der Blumenbergschen Theorie der Unbegrifflichkeit, obwohl sie nirgends explizit so eingeführt wird. Die Verweigerung definitorischer Aussagen ist bei Hans Blumenberg aber nichts Ungewöhnliches, sondern – vor allem in seinen späteren Jahren – Programm. Wenn er 1979 die Notwendigkeit konstatiert, seine seit Ende der 1950er Jahre entwickelte Metaphorologie in den »weiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit« (SZ 83) einzubetten, bleibt daher generell offen, welche anderen Kandidaten für solch eine Theorie zentral wären. Offensichtlich denkt er dabei jedoch nicht an die traditionellen rhetorischen Figuren wie Metonymie, Synekdoche oder Ironie, sondern an narrative Grundstrukturen. Für den zweiten wichtigen Kandidaten, den Mythos, gibt es eine indirekte Verifikation. Der Titel der Vorlesung, die Blumenberg im Sommersemester 1975 gehalten hat, »Theorie der Unbegrifflichkeit«, wird im Vorlesungsverzeichnis durch den Untertitel »Metaphorologie und Mythologie« ergänzt. Die Prominenz des Mythos als zweites Beispiel der Unbegrifflichkeit passt zu Blumenbergs intensiver Beschäftigung mit dem Manuskript von Arbeit am Mythos, die in diese Zeit fällt. Zugleich beginnt er aber auch, sich mit der Anekdote zu beschäftigen. Sie wird in den folgenden Jahren immer wichtiger für seine Philosophie und nimmt dann im Spätwerk breiten Raum ein.
Aber auch wenn Blumenberg inzwischen weit davon entfernt ist, »Paradigmen einer Anekdotologie« zu schreiben, lassen sich indirekt einige Hinweise finden, wie er das Phänomen versteht. So teilt er implizit durchaus das fachwissenschaftliche Verständnis, dass die Anekdote eine kurze Geschichte ist, deren Protagonist eine bekannte Persönlichkeit sein müsse, die durch wahre oder auch erfundene Geschehnisse oder Aussprüche charakterisiert werde. Die zentrale Figur der Erzählung kann also nicht anonym bleiben (cf. BG 132). Gleichzeitig nutzt Blumenberg einen größeren Bestand von anschaulichen Szenen, die zwar im engeren Sinne keine Anekdoten sind, aber auf diese Weise behandelt werden, so wenn zum Beispiel Stellen aus Briefen oder Tagebüchern aus ihren Kontexten 27herausgelöst werden und damit eine besondere Signifikanz erhalten, gewissermaßen anekdotisiert werden. Haben solche Geschichten damit immerhin eine belegbare Quelle, so ist sich Blumenberg durchaus bewusst, dass der Status von Anekdoten philologisch prekär sein kann oder solchen Ansprüchen manchmal sogar überhaupt nicht genügt, am deutlichsten in den sogenannten »imaginären Anekdoten« (SF 220), vom Autor fingierten Szenen, deren Leistung es ist, einen Bedeutungsgehalt – zum Beispiel den eines philosophischen Systems – auf engstem Raum bildhaft herauszuarbeiten, die also eine Wahrhaftigkeit zeigen, obwohl sie nicht im herkömmlichen Sinn wahr sind. Letztlich können aber auch Geschichten ohne historisch identifizierbaren Akteur, wie zum Beispiel Fabeln, diese Funktion übernehmen. Es geht in allen Fällen um das Herausarbeiten von Bedeutsamkeiten im Kontext der Lebenswelt.
Bezugsrahmen, Kontexte
Blumenberg rückt seinen Umgang mit dem anekdotischen Material selbst in eine philosophiehistorische Perspektive. Philosophiegeschichte als Geschichte in Anekdoten zu erzählen war das Prinzip einer der ersten Fachhistorien, der Vitae philosophorum des Diogenes Laertius, die lange Zeit von der Disziplin nicht nur als unzuverlässig, sondern auch als unsachlich verachtet worden sind. Den Ruch der Unzuverlässigkeit haben sie, so meint Blumenberg in einem unveröffentlichten Fragment (»Die Unverächtlichkeit der Anekdote«, UNF 2241), seitdem – wie Pierre Bayle angemerkt habe – Quellenkritik auch die religiösen Texte gereinigt hat. Hegel habe diese Herabsetzung vollendet, indem er die Methode zudem der Unernsthaftigkeit bezichtigte. Erst in letzter Zeit traue man sich wieder, Anekdoten mit etwas Vergnügen als Quellen wahrzunehmen, nicht zuletzt weil man sich dabei auf Nietzsche berufen könne, der dem Diogenes Laertius den größten Teil seiner philologischen Bemühungen gewidmet habe. Blumenberg erinnert an Nietzsches Diktum, dass es möglich sei, aus drei Anekdoten das Bild eines Menschen zu geben, wie auch an dessen Vorhaben, philosophische Systeme jeweils auf drei Anekdoten zu reduzieren. Hätte Nietzsche diesen Plan ausgeführt, wäre das wohl »die vollendete Auflehnung gegen die Monokratie des Begriffs« gewesen. Blumenberg selbst hält 28das nicht nur für vorstellbar, sondern geht zudem davon aus, »daß in vielen dieser kleinen Stücke Fiktionen über das durch Philosophie an Verhalten und Lebensform Mögliche stecken, wie wir es auch als ›Gedankenexperiment‹ lesen können« (VP 185). Im Begriff des »Gedankenexperiments« klingt die imaginäre Anekdote wieder an. So hat dann auch Hannelore Schlaffer unterstellt, Denkbilder wie bei Benjamin oder in Adornos Minima Moralia seien das Vorbild der »Begriffe in Geschichten« gewesen, nicht ohne sie gleichzeitig als verfehlt zu kritisieren. Solch ein Bezug ist aber (trotz einiger äußerlicher Ähnlichkeiten wie dem experimentellen Charakter der Texte oder ihrer Entstehung aus der kleinen Form des Feuilletons) unwahrscheinlich, da Blumenberg Benjamin kaum wahrgenommen hat. Ernster zu nehmen ist ein Bezug, den er selbst (der intellektuell im Umkreis der Husserl-Schule zum Philosophen geworden ist) herstellt, zur »›freien Variation‹ des Phänomenologen, der leider nie so frei zu verfahren ist, wie er vorgibt und deshalb der zugetragenen ›Fälle‹ bedarf, an denen sich das Wesentliche in Dasein wie in Abwesenheit faßbar macht« (Lth 99). Und genau diese Fälle sind für den späten Blumenberg oft Anekdoten.
Dennoch kann die Anekdote im konkreten Philosophieren nicht allein stehen. Sie erhält im Laufe der Philosophiegeschichte vor allem dann ihr Recht, wenn sich ihre Bedeutsamkeit im Rahmen von oder im Zusammenspiel mit anderen Formen entfaltet (zum Beispiel im Kontext von Essays bei Michel de Montaigne oder in der Interaktion mit begleitenden Aphorismen bei Nicolas Chamfort), allerdings dann oft nur in einer dienenden, illustrativen Funktion. Bei Blumenberg kehrt sich das Verhältnis um: Hier steht die Anekdote im Mittelpunkt von Überlegungen, die eine allgemeine Problematik aus ihr herausarbeiten: Sie wird zur genuinen Quelle der Reflexion. Allerdings lassen sich Blumenbergs Ergebnisse bewusst nicht universalisieren; sie sind signifikant, aber nicht exemplarisch. Ein noch größeres Eigengewicht erhält eine Anekdote dort, wo nicht nur sie selbst gedeutet wird, sondern auch noch ihre Rezeption rekonstruiert und jede einzelne dieser Tradierungsstufen interpretiert wird. Diese Analyse ist dabei keineswegs etwas Äußerliches, zur Sache selbst Hinzutretendes, sondern ein weiterer Kontext. Nicht selten erklärt der Kommentar nicht einfach die Anekdote, sondern lädt sie aus eigener Kraft mit Bedeutung auf. Die Reflexion konstituiert also die Anekdote als 29philosophische Form, entscheidend ist dafür die Gestalt dieser Reflexion.
Texte
Man kann bei Blumenberg zwei Phasen der Auseinandersetzung mit Anekdoten unterscheiden, die sich allerdings überschneiden: einerseits eine im engeren Sinne philosophiegeschichtliche und andererseits eine frei variierende Phase, die eng mit dem Begriff der Nachdenklichkeit verknüpft ist.
Die erste größere Auseinandersetzung mit einer Anekdote in philosophiegeschichtlicher Perspektive ist die Analyse der Erzählung von Thales, der eines Abends beim Betrachten der Sterne in einen Brunnen fällt und daraufhin von einer Magd, die ihn dabei beobachtet, ausgelacht wird. Blumenberg thematisiert diese kurze Erzählung und die Geschichte ihrer Rezeption zunächst im Rahmen des VII. Kolloquiums der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, das unter dem Thema »Das Komische« 1974 in Bad Homburg stattfand. An dem ursprünglich 1976 als »Der Sturz des Protophilosophen. Zur Komik der reinen Theorie – anhand einer Rezeptionsgeschichte der Thales-Anekdote« publizierten Text arbeitet er in den folgenden Jahren weiter; das Ergebnis erscheint dann 1987 als eigenständiges Buch mit dem Titel Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie.
Die Anekdoteninterpretation im Gestus der Nachdenklichkeit wird in den Feuilletons der 1970er und 1980er Jahre vorbereitet (FAZ, NZZ, Akzente) und verdichtet sich zur Buchform zum ersten Mal mit dem Band Die Sorge geht über den Fluß. Sie dominiert dann aber Blumenbergs Arbeit in seinen letzten Lebensjahren. Die Ergebnisse dieser Überlegungen sind schließlich in den von ihm selbst teilweise noch vorbereiteten Nachlassbänden publiziert worden (so vor allem Ein mögliches Selbstverständnis, 1997; Lebensthemen, 1998; aber auch viele der anderen postumen Sammlungen sind nach diesem Muster konzipiert: Die Vollzähligkeit der Sterne, 1997; Gerade noch ein Klassiker, 1998; Goethe zum Beispiel, 1999; Verführbarkeit des Philosophen, 2000; Löwen, 2001; als Mischung aus schon Publiziertem und Nachgelassenem Begriffe in Geschichten, 1998).
30Philologische Rekonstruktionen philosophiehistorisch bedeutsamer Anekdoten
Die Analysen von Das Lachen der Thrakerin verlaufen methodisch noch durchaus im Rahmen einer traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung: Blumenberg rekonstruiert die Bedeutungsschichten der Erzählung und zeichnet die Abfolge ihrer Überlieferungen nach. Dieses Verfahren ist vergleichbar mit der Rekonstruktion von Metaphern- oder Mythen-Geschichten, wie er sie...