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Einleitung
Als ich 1957 in Petersthal geboren wurde, das damals noch nicht zu Oy-Mittelberg gehörte, da hat mir niemand vorhergesagt, dass ich einmal ein anderes Schicksal haben würde als mein Vater, als der Vater meines Vaters und als dessen Vater. Alle waren sie Bauern. Gut, ich habe in meiner Jugend zusätzlich noch ein Handwerk gelernt – das Maurerhandwerk. Das kann man als Bauer gut gebrauchen. Wenn man für einen Hof mit Gebäuden, Tieren und Maschinen zu sorgen hat, ist man schlecht dran, wenn man zwei linke Hände hat. Ein Bauer packt selbst an.
Von unserem Hof, der etwa 870 Meter über Meereshöhe liegt, hat man einen großartigen Blick über eine grüne Senke, an deren tiefstem Punkt der Rottach-See gelegen ist, der größte und höchstgelegene Badesee im Oberallgäu. In meiner Kindheit gab es diesen See noch nicht; er ist erst in den neunziger Jahren angelegt worden. Heute kommen die Touristen nicht nur zum Wandern und Skifahren nach Petersthal; sie können im Sommer baden und sich vom Stress der Großstadt erholen. Die Kuh, der Duft von frisch gemähtem Heu, auch das Mittagläuten der Sankt-Peter-und-Paul-Kirche gehören dazu.
Wir Schabers in Petersthal haben keinen großartigen Stammbaum, aus dem hervorgehen würde, dass wir bereits in der x-ten Generation auf diesem Hof an der Burgstraße ansässig sind. Niemand hat die Geschichte unserer Familie aufgeschrieben. Dazu hatten wir keine Zeit. Dazu war auch der Kampf ums Leben viel zu hart. Aber ich weiß, dass wir seit Jahrhunderten Bauern waren und Bauern sind – freie Bauern, stolze Bauern. Vielleicht muss man Menschen, die in der Stadt leben, das Selbstwertgefühl von uns Bauern heute anders übersetzen: Wir sind Selbständige, allerdings umfassender als Rechtsanwälte oder Steuerberater. Wir haben das Stück Welt, das wir bewohnen und auf dem wir Leben, weitgehend selbst gestaltet. Wir haben das Fleckchen Erde von unseren Vorfahren übernommen, die die Höfe gebaut und die Felder angelegt haben.
Bauern arbeiten über Generationen hinweg Hand in Hand. Die Sach’ zu erhalten – das ist unsere Form von Dankbarkeit. Wir achten den bäuerlichen Kollegen, der das Erbe seiner Väter und Mütter erfolgreich bewirtschaftet. Früher verachteten wir insgeheim jene, die ihren Hof herunterkommen ließen. Heute wissen wir nicht mehr, wie wir damit umgehen sollen. Wenn einer aufgibt, hinwirft, sogar sein Leben hinwirft, dann wissen wir zu genau: Der hat nicht versagt. Man hat ihm versagt, was er zum Leben und zum Überleben gebraucht hätte. Wer ist »man«?
Bauern sind die, die immer was zu jammern haben, heißt es. Tatsächlich ist es so: Wer eine Landwirtschaft betreibt, ist vom Wetter abhängig, von EU-Beschlüssen, von Weltmarktpreisen, von der Stimmung innerhalb seiner Familie, von verschiedenen Landwirtschaftsministerien, von dem, was er ererbt hat, und davon, an wen er weitervererben kann. Selbständig sind wir nur, insofern wir halt selbst und ständig arbeiten. Ansonsten sind wir tausenderlei Einflüssen ausgesetzt. Das verleitet zum Jammern, weil wir an vielen entscheidenden Dingen, die unser tägliches Leben bestimmen, nichts ändern können. Wenn’s ins Heu regnet, ist es eben nass.
Mir sagt man nicht nach, dass ich zum Jammern neige. Allgäuer gelten als Dickschädel, als zäh und zielstrebig. Das trifft es eher, sagen meine Mitstreiter. Ich kann schimpfen, aber ich unterscheide gern genau, worüber es sich zu schimpfen lohnt. Regen und Sonne kommen und gehen, und der Bauer und die Bäuerin haben immer schon damit umzugehen gewusst. Regierungen kommen und gehen. Da wird es schon schwieriger. Lange Jahre waren die Interessen der Landwirtschaft dort ordentlich vertreten. Die Regierenden hatten – zumindest in den demokratischen Zeiten – ja selber vielfach bäuerliche Wurzeln. Die wussten im Groben, worum es geht.
Heute stehen wir vor einer gänzlich anderen Situation: Es geht der Landwirtschaft nicht mal besser, mal schlechter, wie es das immer tat. Heute steht die Existenz der bäuerlichen Kultur ganz und gar auf dem Spiel. In den nächsten Jahren – und derzeit schon – wird in Deutschland und in der Europäischen Union darüber entschieden, ob das Land, auf dem wir leben, im wesentlichen von Bauern bewirtschaftet und gestaltet wird oder von Agrarindustriebetrieben. Ob also unsere Landschaften, die Besiedlung der Dörfer, die regionale Nahrungsbeschaffung und damit Natur, Heimat und ein ganzheitlicher, nachhaltiger Umgang mit unserer Lebenswelt erhalten bleiben, oder ob Industriebetriebe darüber entscheiden, wie unsere Felder und Wälder aussehen und was wir zu essen bekommen.
Da hilft kein Jammern. Da ist auch Schimpfen längst zu wenig. Da gilt nur zupacken – wie es der Bauer weit mehr noch gewohnt ist, als zu jammern. Bauern sind nicht die, die lamentieren, Bauern sind die, die etwas in die Hand nehmen. Das haben die Milchbauern in den vergangenen Jahren allen gezeigt: Den Politikern, denen sie bei Wahlkampfveranstaltungen eine Fuhre Mist vor die Lackschuhe gekippt haben, den EU-Beamten, denen sie mit tausend Schleppern und tausend dazugehörigen Fanfaren den Marsch geblasen haben. Die Milchbauern, jene 30 000, die sich im BDM, dem Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, zusammengeschlossen haben, zeigen es der Gesellschaft: Seht her, so sieht die Lage aus. Und bald sieht sie anders aus. Bald braucht ihr Städter nicht mehr über Wiesen und Wege wandern wollen. Bald esst ihr nicht mehr, was eure Landwirtschaft für euch erzeugt. Wir vom BDM versuchen, es in die Gesellschaft hineinzutragen, durch Aktionen und allem voran durch Informationen: Schaut euch an, was da passiert. Das ist nicht unser Problem allein, wenn der bäuerliche Familienbetrieb untergeht. Das ist auch euer Problem, wenn Ihr dann eure Heimat nicht mehr wiedererkennt. Das ist auch das Problem der Menschen in Kamerun und Bangladesch, in Brasilien oder Indonesien, wenn Lebensmittelkonzerne Märkte zerstören, die die Bevölkerung dort zum Überleben braucht.
Wie das alles zusammenhängt? Davon handelt dieses Buch. Nicht jammernd, manchmal schimpfend, hoffentlich Augen öffnend. Was dabei herauskommt, ist erschütternd. Mir sind ja selber die Augen erst richtig aufgegangen, als ich mit meinen Freunden vom BDM, mit den Milchbäuerinnen und Milchbauern in Holland, Frankreich, Italien, Spanien den Blick auf die ganze Wirklichkeit gewagt habe. Da kann man zum Revoluzzer werden. »Der fröhliche Milchrevoluzzer« hat die »taz« – ausgerechnet in der »taz«! – über einen Artikel geschrieben, der sich mit meiner Arbeit befasst. Damit muss ich leben. Damit kann ich leben. Wir Bauern waren immer als konservativ verschrien und wir haben auch lange brav »die Schwarzen« gewählt in Bayern. Aber wir sind keine Ideologen. Wer die falsche Politik macht, wird abgewählt. Wir Bauern brauchen keine schwarze oder rote oder gelbe Politik, wir brauchen Lebensgrundlagen. Dazu gehört Luft zum Atmen. Zurzeit wird uns die Luft abgeschnürt durch Gesetze und Verordnungen und eine Lobby-Politik, die immer nur zu einem führt: Zur Industrialisierung des Agrarsektors, zur Vernichtung der Bauern.
Bauern vernichten, das haben schon andere versucht. Die haben aber immer gewusst, dass sie uns brauchen. Die haben uns in den Bauernkriegen nur klein halten wollen. Heute ist der Kampf heimtückischer. Noch geht es darum, uns klein zu halten, uns auszupressen, uns unsere Milch abzunehmen zu Preisen, die die Kosten nicht annähernd decken. Wenn wir dann ausgeblutet sind, dann folgt die Übernahme. Dann geht es nicht mehr nur uns an. Dann wird Landschaft zerstört und mit ihr der menschliche Umgang mit dem Tier, die Umwelt, die Heimat.
Dass die Bauern sterben sollen – dass »der bäuerliche Familienbetrieb Nostalgie ist« –, sagt man in Brüssel und Berlin ganz offen. Der Effekt ist in den Planspielen einer liberalistischen Ideologie einkalkuliert. Als Kollateralschaden, wie die Zyniker sagen. Man hat ihn abgenickt in den klimatisierten Konferenzräumen der EU-Behörden. »Es gibt keine Alternative«, heißt das dann, wenn die Interessen von Konzernen und Institutionen nur mächtig genug sind. Die Bauern sollen sterben, und dieses Land soll ein anderes werden, und wenn es dabei vor die Hunde geht.
Das Buch will erklären, warum das so ist und wie wir Bauern dagegen kämpfen. Denn so viel an die Adresse der Agrarlenker in Berlin und Brüssel: Sie werden noch jede Menge Freude mit uns Bauern haben. So leicht lassen wir uns nicht von Haus und Hof vertreiben.
Kann der Mensch auf Dauer in einer künstlichen Welt aus Beton und Glas überleben? Wie viel Natur brauchen wir? Wie viel Nähe zur organischen Welt, zum Wachsen und Vergehen, zu Pflanzen und Tieren, zum natürlichen Wechsel der Jahreszeiten? In den gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden, halten viele solche Gedanken für rückständig.
Ich halte sie für zukunftsweisend. Mit mir denken meine Freunde im BDM und die Milchbauern Europas, die sich im European Milk Board zusammengefunden haben, ebenso. Mit uns denken aufgeschlossene, bewusste Verbraucher heute so und Bürger mit Zivilcourage, Nicht-Regierungs-Organisationen und auch der eine oder andere Unternehmer, der sich Gedanken um die Zukunft macht.
Deutschland ist »kein Agrarland«, heißt es. Richtig ist, dass Deutschland auch eine international erfolgreiche Industrie hat. Richtig ist aber auch, dass Deutschland zumindest bei der Milch noch über Ernährungssouveränität verfügt. Richtig ist auch, dass im...