Friedensrichter oder Konfliktdealer
Kulturkreisen wie den Mhallami wird immer wieder unterstellt, ihre eigene Gerichtsbarkeit über die des Staates zu stellen. Und so ist es oftmals auch. So werden Aussagen abgesprochen und Konflikte verhandelt. Sogenannte Friedensrichter, die man oft besser Konfliktdealer nennen sollte, handeln da auch schon mal für einen nie polizeilich aufgenommenen Messerstich eine Abschlagszahlung von 5000 Euro für das Opfer aus. Konfliktdealer warum? Weil hier Konflikte nicht gelöst, sondern verhandelt werden – gegen Geld. Interessanterweise sogar manchmal unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Die hier beispielhaft erwähnte Messerattacke soll vom bereits erwähnten Kurden Beleki bereits etwa zwei Jahre vor dem Überfall auf Faris im April 2013 begangen worden sein. Der kann es sich nicht leisten, dass das Opfer Anzeige erstattet, daher wird von seinem Vater ein Mhallami-Ältester zur Konfliktlösung eingeschaltet, der für beide Parteien den Deal verhandelt. Und schon ist die Sache vom Tisch. Ebenso ist es durchaus üblich, dass nach Schäden, die beispielsweise durch jüngere Mitglieder einer Familie bei einer Schlägerei entstehen, ältere Brüder oder eine andere männliche verwandte Personen bei den Opfern erscheinen, um den »Schaden zu regulieren«.
Dieses Vorgehen bietet zum einen die Möglichkeit der Bedrohung eines Opfers und garantiert zum anderen freundlich gesinnte Zeugen im Fall eines Gerichtsverfahrens und, ganz allgemein betrachtet, Ruhe in der Szene. Falls es überhaupt noch zu einem Gerichtsverfahren in solchen Fällen kommt, denn Teil der Deals ist fast immer auch das Zurückziehen von belastenden Aussagen. In solchen Fällen muss der deutsche Staat dann alleine sehen, dass er Beweise und Zeugenaussagen gerichtsfest zusammenbekommt, und kann sich auf die Aussage des Opfers und dessen Familie nicht stützen. Und apropos Bedrohungen: Sicher wird hier und da durchaus einmal mit Drohungen dafür gesorgt, dass ein Zeuge schweigt. Diese Form der Einschüchterung scheint jedoch insbesondere auf den innerfamiliären Bereich, Personen aus dem gleichen Szenenumfeld/Milieu oder auch einzelne Polizeibeamte beschränkt zu sein. Sogar ein Richter wurde sicherheitshalber einmal unter Polizeischutz gestellt, weil es Vermutungen gab, dass Miris diesen ausgespäht hatten. Eine deutsche Zeugin hingegen, die mit ihrer Aussage im Jahr 2007 dafür sorgt, dass Maarouf Miri für mehrere Jahre ins Gefängnis muss, bleibt völlig unbehelligt. Sowohl vor als auch nach ihrer Aussage mit für den Miri gravierenden Folgen geschieht nichts, was der Zeugin hätte schaden können. Die Beziehung zum jeweiligen Gegenüber scheint entscheidend dafür zu sein, ob man jemanden bedroht, anderweitig einschüchtert oder er »finanziell entschädigt« wird. Nicht selten muss ein Opfer »klein beigeben«, damit Schaden von der gesamten Familie abgehalten wird. Das interne Rechtssystem unterliegt anderen Grundlagen und Werten als das staatliche. So ist Alter und der Stand des Opfers innerhalb der Familie oder Szene/Milieu nicht unerheblich und entscheidend hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Form überhaupt Schaden festgestellt und zu ersetzen ist und wenn ja, in welcher Form. Dieses Rechtssystem funktioniert auch ethnienübergreifend, wie man sehr gut an dem Beispiel Beleki feststellen kann. Vater Beleki (Kurde) holt einen Miri (Mhallami), um den Schaden an einem Dritten (Messerstich durch Beleki) festzustellen und aus der Welt zu schaffen. Wäre Belekis Opfer ein Mhallami gewesen, hätten sich die Ältesten der Familien getroffen, um die Angelegenheit zu regeln. Ebenso dealte man Frieden, als Kasim vor Jahren von Kurden angeschossen wurde. Aber es gibt auch Fälle, in denen es »keinen Verhandlungsspielraum mehr gibt, die Verhandlungen abgebrochen werden«. So ein Fall war Hussein E., der dann in Schwanewede ermordet wurde. »Der hatte das echt übertrieben und wollte der Familie schaden. Er hat uns alle bedroht«, so dazu mal ein Miri. Ein hoher Wert dieses Rechtssystems besteht unter anderem darin, Schaden nicht nur zu regulieren, sondern Schaden von der eigenen Familie abzuwenden. Jede Entscheidung wird immer auch vor dem Hintergrund gefällt, ob die Familie ihr Gesicht wahren kann und keinen Schaden nimmt – innerhalb der Community und innerhalb der Szene, des Milieus. Dieser Aspekt kann, wie im Fall von Kasims Beinaheerschießung durch die Kurden, höher bewertet werden als der Schaden, den der Einzelne hat. In Kasims Fall hat man sich von Miri-Seite sehr darum bemüht, Frieden mit den Kurden zu schließen. Warum? Weil Rache zu nehmen bedeutet hätte, dass sich beide Parteien langfristig so bekriegt hätten, dass es irgendwann Tote gegeben hätte. Zudem wird vermutet, dass außerhalb der Familie Miri, aber innerhalb der Mhallami-Community geschäftliche Interessen bestanden haben sollen. Auch dies war zu berücksichtigen, und deshalb schien die Devise zu lauten: bloß Frieden schließen, damit alle so weiterleben können, als wäre nichts passiert. Kasim ist von dem Vorfall bis heute traumatisiert. Er verbrachte mehrere Monate im Krankenhaus und reagiert immer noch sichtlich angespannt, wenn es um die Sache von damals geht.
Neben dem »Dealen« von Konflikten treten Friedensrichter auch in ganz normalen Streitigkeiten, Scheidungen und so weiter auf den Plan. Hier vermitteln diese und kümmern sich, wenn sich Probleme innerhalb des Familiengeflechtes anbahnen. Ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Arbeit der Friedensrichter und Ältesten ist das so zustande gekommene Friedensabkommen zweier jahrelang in Osterholz-Scharmbeck nahe Bremen immer wieder in Streit geratenen Mhallami-Familien. Bevor es anlässlich einer »Bundes-Mhallami-Konferenz« im Juni 2011 in Bremen zum Friedensspruch kommt, geraten diese Familien jahrelang stets so aneinander, dass jedes Mal ein großes Polizeiaufgebot für Ruhe sorgen muss, aber eben kein länger währender Friede entsteht. Alle Vermittlungsversuche einzelner Ältester scheitern. Bei der in Bremen in einer Shisha-Bar abgehaltenen »Konferenz«, an der rund 50 Mhallami-Vertreter aus ganz Deutschland teilnehmen, kommt es schließlich zur Aussprache und bis heute gültigen Einigung beider Familien. Sicher sind diese auch heute nicht befreundet, aber man geht sich aus dem Weg, und es herrscht seitdem Ruhe auf dem alten Kriegsschauplatz.
Spurensuche
Auch an den Mhallami geht die Weiterentwicklung beziehungsweise der Einfluss von außen nicht vorbei. Ganz interessant ist zu beobachten, wie die 25 bis 30 Jahre Leben in Deutschland langsam ihre Spuren im eigentlich geschlossenen und nach alten Traditionen aufgebauten hierarchischen System hinterlassen. Die bisher verlässliche Struktur bröckelt. Die Hierarchien und alten Stammessysteme lösen sich langsam auf. Die Ehrerbietung oder natürliche Achtung vor dem Ältesten hat heute längst nicht mehr die Qualität und Bedeutung wie innerhalb der vorangegangenen Generation. In der Generation Kasim wird es nach Hakim wahrscheinlich auch nicht mehr diese durch Hakim noch gelebte Form des Familienoberhauptes geben. Hakim ist als Ältester jemand, der von sämtlichen anderen als Oberhaupt akzeptiert wird. Es wird in den kommenden Generationen einzelne Familienverbände geben, die sich zusammenschließen. Die Großfamilie (hier 600 Mhallami in Bremen) ist meiner Meinung nach in der Form, wie sie bis jetzt besteht, ein Auslaufmodell. Der Verband bröckelt.
Wenn die Generation Hakim Miri stirbt und die Kasims als Älteste an die Macht kommen, werden diese noch weniger Einfluss auf ihre Kinder haben, als Hakim eventuell noch auf seine Kinder hatte. Ähnlich wie in deutschen Familien gehen Kinder immer früher ihrer Wege und lassen sich dann auch von Eltern nichts mehr sagen. Kasim beklagt diesen Zustand einmal, indem er bemerkt, dass die Jungen nichts mehr taugen und keinen Respekt mehr haben. Was er aber eigentlich damit beklagt, ist, dass er niemals die Rolle seines Vaters übernehmen wird, nicht einmal innerhalb seiner eigenen Familie, in der er zwar noch mehr oder weniger als Oberhaupt gilt, aber beispielsweise die Mädchen ihre Entscheidungen treffen, Ausbildungen machen und ihre ganz eigenen Vorstellungen von ihrer Zukunft haben, die denen Kasims nicht unbedingt entsprechen. Die Kasims haben als Väter keine Vorbildfunktion. Sie leisten nichts für ihre Familien, ernähren sie nicht und haben damit bis auf die traditionell vergebene Rolle, ein wenig Familienchef spielen zu dürfen, nichts zu bieten. Sie übernehmen oft null Verantwortung und kümmern sich um nichts. Sie tragen deshalb zum Gelingen einer Familie auch kaum noch etwas bei. Viele Frauen, die gerade aufgrund der kriminellen Machenschaften ihrer Männer daran gewöhnt sind, dass diese oftmals wegen Haftaufenthalten abwesend sind, leben ziemlich autark und organisieren das komplette Familienleben. Männer sind in dieser Gesellschaft nicht selten eigentlich überflüssig.
Jüngere oder auch besser gebildete Mitglieder einer Familie betrachten die Taten des Onkels längst mit Verachtung und gehen diesen Familienmitgliedern möglichst aus dem Weg. Innerhalb des Gesamtfamilienbundes Miri in Bremen stehen die kriminellen Miris, von denen hier berichtet wird, ganz unten auf der Leiter der Anerkennung. Man trifft sich zwar anlässlich von Hochzeiten oder Beerdigungen, aber die Rechtschaffenden verachten die Kriminellen zutiefst. Man will mit den »Underdogs« nichts zu tun haben. Daher sind es auch fast immer dieselben, die jahrelang aktenkundig werden. Sicher wachsen stets jüngere kriminell Aktive nach, aber es handelt sich hierbei fast immer um Nachwuchs aus bereits kriminell belasteten und hierfür bekannten Familien.
Das Gesamtgefüge der großen Familienverbände scheint zunehmend ins Wanken zu geraten. Das Selbstverständnis...