PROLOG
Luxushotels kannte sie nur vom Hörensagen. Das Ritz Carlton hatte sie noch nie betreten, war höchstens mal bei einem Spaziergang über den Boardwalk in seine Nähe gekommen. Aber jetzt saß sie hier, im Empfangsraum einer riesigen Suite mit zahlreichen Zimmern, in einem Sessel, der sie fast verschluckte. Sie hatte Angst, aber sie konnte nicht mehr zurück. Also saß sie da und spielte mit zittrigen Händen an ihrem ausgefransten Schal.
Sie gehörte nicht hierher, sie war ja nur eine Hausfrau, und im Sommer arbeitete sie als Wäscherin in einer Pension. Man sah ihr die Nervosität an. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging zu schnell, Kleid und Bluse waren nachlässig gebügelt. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Panik davonzulaufen. Sie durfte jetzt nicht gehen, denn Louis Kessel hatte ihr gesagt, dass Mr. Johnson gleich für sie Zeit hätte und dass sie warten sollte. Wenn sie jetzt wieder verschwand, war das nicht nur peinlich, es würde Mr. Johnson verärgern. Wären da nicht der Winter und die ganzen unbezahlten Rechnungen gewesen, sie hätte sich nie hierhergetraut. Aber sie hatte keine Wahl. Ihr Mann war ein Idiot, und sie hatte Angst um ihre Kinder. Schließlich erschien Louis Kessel und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie erwartete.
Als sie das Wohnzimmer betrat, kam Mr. Johnson ihr entgegen, gab ihr die Hand und begrüßte sie herzlich. Sie hatte ihn zuletzt vor Jahren bei der Beerdigung ihres Vaters gesehen, aber er erinnerte sich an sie und nannte sie beim Vornamen. Er trug einen extravaganten Hausmantel und Pantoffeln, und wollte wissen, was sie bedrückte. In diesem Moment verschwand ihre Angst. In einer rasanten Abfolge von Sätzen berichtete sie, wie ihr Ehemann letzte Nacht sein gesamtes Gehalt beim Glücksspiel verloren hatte. Er war ja nur ein Bäckergehilfe, in den Wintermonaten war sein wöchentliches Gehalt von 37 Dollar alles, was die Familie zum Leben hatte. Sie redete immer weiter, über die vielen unbezahlten Rechnungen, und dass sie nicht einmal mehr beim Lebensmittelladen um die Ecke anschreiben konnte. Johnson hörte genau zu, griff dann in seine Hosentasche und reichte ihr einen Hundert-Dollar-Schein. Sie war jetzt völlig verdattert und konnte so lange nicht mehr aufhören, sich bei ihm zu bedanken, bis er sie bat zu schweigen. Louis Kessel bat sie höflich hinaus und teilte ihr mit, es warte bereits ein Wagen auf sie. Bevor sie ging, versprach Johnson noch, ihrem Ehemann ein Verbot für jedes Karten- und Würfelspiel in der Stadt zu erteilen. Und sie möge sich melden, wenn sie wieder ein Problem hätte.
Niemand verkörperte Atlantic City vor der Zeit der großen Kasinos so wie Enoch »Nucky« Johnson. Wer seine Regentschaft versteht, begreift, wie die Stadt zu dem wurde, was sie heute ist. Johnsons Macht erreichte zur Zeit der Prohibition von 1920 bis 1933 ihren Höhepunkt, zeitgleich mit der großen Popularität der Stadt: Atlantic City war die Hauptstadt des illegalen Ausschanks von Alkohol in den USA. Vom sogenannten Volstead Act, dem gesetzlichen Verbot von Alkohol, hatte man dort offenbar nie gehört. Während der Prohibition war Nucky gleichzeitig ein hohes Tier in der republikanischen Partei und im organisierten Verbrechen, Mafiosi und Politiker gaben sich bei ihm die Klinke in die Hand. Die meisten Bürger hielten Johnson allerdings keineswegs für kriminell. Er war vielmehr ihr Held, ein Sinnbild für die Tugenden, die Atlantic City so erfolgreich gemacht hatten.
Ursprünglich wollte ein Arzt den kleinen Ort am Meer in einen Kurort für Superreiche verwandeln, aber Atlantic City wurde stattdessen zum grellen und lärmigen Urlaubsort der Unterschicht. Die Menschen kamen in der Gewissheit, dass die bürgerlichen Regeln hier nichts galten. Atlantic City florierte, weil es den Leute genau das gab, was sie wollten: eine frivole Zeit zu einem erschwinglichen Preis.
In manchen Erzählungen von früher wird die Stadt als eine Art eleganter Badeort für wohlhabende Leute beschrieben, vergleichbar mit Newport, aber das kann man getrost ins Reich der Fantasie verweisen, denn in seiner Blütezeit war Atlantic City das genaue Gegenteil. Es war ein Vergnügungspark für die Industriearbeiter aus Philadelphia. Wer sich nicht mehr als zwei oder drei Tage Urlaub leisten konnte, kam nach Atlantic City. Im Sommer flüchteten die Arbeiter hierher vor der Hitze in den Städten und der tödlichen Langeweile ihrer Fließband-Jobs, denn hier konnten sie sich ausleben.
Es gab vier essenzielle Eckpfeiler des wirtschaftlichen Erfolgs der Stadt. Der erste war der Zugang zum Schienennetz. Ohne die Eisenbahn wäre die urbane Entwicklung von Absecon Island fünfzig Jahre hinterhergehinkt. Der zweite waren die Investoren aus New York und Philadelphia. Sie brachten das Geld und das Know-how, das man benötigte, um Hunderte von Hotels und Pensionen auf eine Insel aus Sand zu bauen. Der dritte waren Unmengen von billigen Arbeitskräften. Für die gab es nur eine Quelle: die Masse der befreiten Sklaven und deren Kinder. Der vierte Pfeiler war die Bereitschaft der Anwohner, den Gesetzestext zu ignorieren, wenn es um das Amüsement der Besucher ging. Von der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert bis in die 70er-Jahre wurde die Stadt von einer Allianz aus Politikern und Kriminellen regiert, ein Resultat der engen Beziehungen zwischen Wirtschaft und Verwaltung.
Alles hier wurde einem einzigen Zweck untergeordnet: der Unterhaltung der Touristen. Die gesamte Wirtschaft hing von dem Geld ab, das die Auswärtigen hier ausgaben. Deshalb mussten die Besucher die Stadt mit einem guten Gefühl verlassen. Taten sie das nicht, kamen sie und ihr Geld nicht wieder.
Der Schlüssel zum Erfolg waren Dienstleistungen, die sich ausschließlich an den Vorlieben der Kunden orientierten, egal ob erlaubt oder nicht. Man appellierte schamlos an das Bedürfnis der Gäste nach Verbotenem und kultivierte den Exzess. Bereits kurz nach seiner Gründung war Atlantic City ein Hort der Freizügigkeit. Das Laster war die Hauptattraktion der Stadt. Also musste die Stadtverwaltung eine entsprechende Infrastruktur schaffen. Es war unvermeidlich, dass die Bosse der Lasterhöhlen mit den politischen Führern gemeinsame Sache machten, denn ohne eine Absprache dieser beiden Parteien hätte der Fremdenverkehr in Atlantic City keine Chance gehabt. Es wäre schlecht fürs Geschäft gewesen, die Urlaubsgäste polizeilich zu belangen, während sie sich amüsierten. Es spielte keine Rolle, dass Glücksspiel, Prostitution und der Verkauf von Alkohol so ziemlich jedes Gesetz und alle Moralvorstellungen der damaligen Zeit missachteten, nichts sollte das Vergnügen der Besucher beeinträchtigen. Die Stadtväter ignorierten das Gesetz, soweit es ging, und stellten der illegalen Vergnügungsindustrie einen Freibrief aus.
Diese eingeschränkte wirtschaftliche Ausrichtung erforderte auch einen eingeschränkten Blick auf die Wirklichkeit. In Kombination mit der seit Generationen vorherrschenden Dominanz der Republikanischen Partei im südlichen New Jersey ergab das eine Mentalität, die einen normalen Politikbetrieb unmöglich machte. Reformer und Kritiker waren ein Luxus, den man sich nicht leisten konnte. Der Erfolg der ortsansässigen Wirtschaft war die einzig gültige Maxime, eine zweite politische Partei als Opposition war hier undenkbar. Man passte sich dem System an oder wurde ausgebootet. Diese republikanische Bulldozer-Politik, finanziert mit Geld aus kriminellen Geschäften, war seit Anfang des 20. Jahrhunderts fest in der Gesellschaft verankert.
Der erste »Boss« von Atlantic City war Louis »The Commodore« Kuehnle, der zwischen 1890 und 1910 regierte. Der Kommodore erkannte das enorme finanzielle Potenzial der Vergnügungsbranche für seine politische Organisation. Kuehnle entwickelte ein System der Erpressung von Schutzgeldern, die er bei allen abschöpfte, die illegale Amüsiergeschäfte betrieben. Unter der Schirmherrschaft des Kommodores existierten verbotene Spielhallen, Bordelle und Flüsterkneipen, sogenannte »speak easies«, in denen illegal Alkohol ausgeschenkt wurde, als wären sie vollkommen legal. Die Polizei griff nur ein, wenn einer dieser Betriebe seine Abgaben zu spät oder gar nicht bezahlte. Diese Schmiergelder sowie die geheimen Lohnrückzahlungen von Vertragspartnern und Angestellten bildeten die finanzielle Grundlage von Kuehnles Organisation. Erst nachdem er sich bei den Gouverneurs-Wahlen mit Woodrow Wilson angelegt hatte, wanderte er wegen Wahlbetrug ins Gefängnis.
Kuehnles Nachfolger Nucky Johnson war die folgenden dreißig Jahre der absolute Machthaber in Atlantic City. Johnson hatte ein Gespür für Menschen wie für politische Intrigen. Alle, die in der Stadt oder in der Region ein öffentliches Amt innehatten, verdankten es ihm. Er verdiente an jedem öffentlichen Auftrag und jeglichem Glücksspiel mit. Bevor er ins Gefängnis ging, setzte Kuehnle Johnson als Nachfolger ein, weil nur er die Politiker und die Racketeers, die illegalen Geschäftemacher, hinter sich hatte. Zu jener Zeit waren die Bürger von Atlantic City längst an den uneingeschränkten Führungsanspruch einzelner Politiker gewöhnt, sie akzeptierten Nucky ohne Weiteres als neuen Anführer und erwarteten sogar denselben autoritären Regierungsstil von ihm. Sie wurden nicht enttäuscht. Mit List und Finesse wurde Nucky zum Anführer beider Welten. Er war der mächtigste Republikaner in New Jersey, entschied über die Karrieren von Gouverneuren und Senatoren und wurde von der Unterwelt respektiert. Gangster und Politiker vertrauten ihm gleichermaßen.
Nucky Johnson war die perfekte Galionsfigur für Atlantic City. Die wirtschaftliche und politische Struktur, die sich dort...