Einleitung
Der Hunger
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen,
daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Friedrich Nietzsche1
Friedrich Nietzsche, einer der bedeutendsten deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, schrieb 1881: »Böse denken heißt böse machen.«2 Nur wenn wir etwas das Etikett böse verpassen, nur wenn wir denken, dass etwas böse ist, wird es böse. Das Böse, so argumentierte Nietzsche, sei eine subjektive Erfahrung,3 nicht etwas, was einer Person, einem Objekt oder einer Handlung innewohne.
Dieses Buch erforscht einen Teil der Wissenschaft, die diesem Gedanken zugrunde liegt, und zwar anhand eines Spektrums von Konzepten und Vorstellungen, die oft mit dem Wort böse assoziiert werden. Es ist eine Studie der menschlichen Heuchelei, der Absurdität des Bösen, des normalen Wahnsinns und der Empathie. Ich hoffe, Sie dazu herauszufordern, Ihre Vorstellung vom Bösen zu überdenken und zu modifizieren.
Während der vergangenen 13 Jahre hat es mir als Studentin, Dozentin und Forscherin Vergnügen bereitet, mit jedem über die Wissenschaft des Bösen zu diskutieren, der gewillt war, mir zuzuhören. Am meisten Spaß macht es mir, das Denken in Gut und Böse, Schwarz und Weiß zu hinterfragen und durch neue Abstufungen zu ersetzen. Mein Ziel ist es, dass wir über Verhaltensweisen, von denen wir zunächst glauben, dass wir sie weder verstehen können noch verstehen sollten, sachkundiger diskutieren. Viel zu schnell sind wir alle dabei, andere zu entmenschlichen und sie allein deswegen abzuschreiben, weil wir ihre Handlungen nicht nachvollziehen können. Wir können und müssen versuchen, das besser zu verstehen, was wir als »Böse« etikettieren.
Lassen Sie uns mit einer Empathieübung beginnen: Denken Sie an das Schlimmste, das Sie je getan haben. Etwas, für das Sie sich wahrscheinlich schämen und von dem Sie wissen, dass es andere schlecht von Ihnen denken lassen würde. Untreue, Diebstahl, Lügen. Stellen Sie sich nun vor, dass alle davon wüssten. Sie danach beurteilten. Sie deswegen in einer endlosen Tirade beschimpften. Wie würde sich das anfühlen?
Wir würden es hassen, aufgrund von nur ein oder zwei Taten, die wir sehr bedauern, von aller Welt beurteilt und abgestempelt zu werden. Doch genau das ist es, was wir Tag für Tag tun. Bei unseren eigenen Entscheidungen sehen wir die Nuancen, die Umstände, die Schwierigkeiten. Bei anderen sehen wir oft nur das Ergebnis ihrer Entscheidungen. Dies führt dazu, dass wir Menschen in all ihrer Vielschichtigkeit immer wieder durch nur einen einzigen Begriff definieren: Mörder. Vergewaltiger. Dieb. Lügner. Psychopath. Pädophiler.
Dies sind Etiketten, die wir anderen aufgrund unserer Vorstellung davon verpassen, wer sie angesichts ihres Verhaltens sein müssen. Ein einziges Wort soll den wahren Charakter eines Menschen zusammenfassen, um andere wissen zu lassen, dass man dieser Person nicht vertrauen kann: Diese Person ist gefährlich. Diese Person ist im Grunde gar keine Person, sondern eine Abnormität. Eine Abnormität, mit der wir kein Mitgefühl haben sollten, weil sie so böse ist, dass wir nie in der Lage sein werden, sie zu verstehen.
Aber wer sind solche »abnormalen« Personen? Zu begreifen, dass jeder Einzelne von uns Dinge denkt und tut, die andere als verabscheuungswürdig betrachten, hilft uns vielleicht, die Essenz dessen zu verstehen, was wir böse nennen. Ich kann Ihnen garantieren, dass irgendjemand auf dieser Welt Sie für böse hält (wenn auch nicht in dem Sinn, in dem ein Massenmörder als böse betrachtet wird). Essen Sie Fleisch? Arbeiten Sie im Bankenwesen? Haben Sie ein uneheliches Kind? Sie werden feststellen, dass Dinge, die Sie für normal halten, anderen nicht normal erscheinen, ja in ihren Augen möglicherweise völlig verwerflich sind. Sind wir also alle böse? Oder vielleicht auch keiner von uns?
Als Gesellschaft reden wir viel über das Böse und sprechen doch nie wirklich darüber. Wir hören tagtäglich von Gräueltaten und beschäftigen uns ständig oberflächlich mit einer Flut von Nachrichten, die uns das Gefühl geben, dass die Menschheit dem Untergang geweiht ist. Ereignisse, die starke Emotionen hervorrufen, werden auf reißerische Schlagzeilen für Zeitungen und Social-Media-Kanäle reduziert. Unser Appetit auf Berichte über das Böse, die wir vor dem Frühstück sehen und bis zum Mittagessen vergessen haben, ist phänomenal.
Vor allem unser Hunger nach Gewalt scheint größer zu sein denn je zuvor. Im Rahmen einer 2013 veröffentlichten Studie zu Gewalt in Filmen haben der Sozialpsychologe Brad Bushman4 und seine Kollegen festgestellt, dass »sich die Gewalt in Filmen seit 1950 mehr als verdoppelt und die Waffengewalt in Filmen für Kinder unter 13 Jahren derart zugenommen hat, dass sie neuerdings die Gewaltrate in Filmen mit einem R-Rating (ab 17 Jahren) übersteigt«. Filme werden brutaler, selbst jene, die ausdrücklich für Kinder freigegeben werden. Mehr denn je durchdringen Geschichten von Gewalt und schwerem menschlichem Leid unseren Alltag.
Wie wirkt sich dies auf uns aus? Es verzerrt unser Verständnis von der Häufigkeit von Verbrechen und lässt uns glauben, dass sie üblicher sind, als dies tatsächlich der Fall ist. Es beeinflusst, wen wir als böse etikettieren. Es verändert unsere Vorstellung von Gerechtigkeit.
An dieser Stelle möchte ich dafür sorgen, dass Sie keine falschen Erwartungen an dieses Buch stellen. Dies ist kein Buch, das sich eingehend mit einzelnen Fällen beschäftigt. Ganze Bücher sind bestimmten Menschen gewidmet worden, die als böse bezeichnet werden – wie Jon Venables, der jüngsten Person, die je in Großbritannien des Mordes überführt und von den Boulevardblättern als »böse geboren« etikettiert wurde, der Serienmörder Ted Bundy in den USA und die »Ken-und-Barbie-Mörder« Paul Bernardo und Karla Homolka in Kanada. Alles zweifellos faszinierende Fälle, doch dieses Buch handelt nicht von ihnen. Es handelt von Ihnen. Mir geht es nicht darum, dass Sie die Vergehen bestimmter Personen analysieren, sondern Ihre eigenen Gedanken und Schwächen verstehen.
Es ist weder ein philosophisches noch ein religiöses Buch. Und es geht auch nicht um Moral. Es ist ein Buch, das helfen möchte, zu verstehen, warum wir einander Entsetzliches antun. Es ist ein Buch voller Experimente und Theorien, ein Buch, das unsere Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft lenken möchte, das versucht, das Konzept des Bösen in Teilaspekte zu gliedern und jeden davon einzeln zu untersuchen.
Es ist auch kein allumfassendes Buch über das Böse. Ein Leben würde nicht ausreichen, diese Aufgabe zu bewältigen. Möglicherweise sind Sie enttäuscht, zu erfahren, dass ich kaum Zeit darauf verwende, auf so wichtige Themen wie Genozid, Kindesmissbrauch, Verrat, Inzest, Drogen, Gangs oder Krieg einzugehen. Zu diesen Themen gibt es unzählige Bücher. Dieses gehört nicht dazu. Es bietet einen Überblick über die Aspekte des Bösen, die ich persönlich für faszinierend und wichtig halte und die gerne übersehen werden.
Monsterjagd
Bevor wir uns mit der Wissenschaft des Bösen beschäftigen, möchte ich kurz erklären, wer ich bin und warum Sie sich mir auf der Reise durch Ihre Albträume anvertrauen können.
Ich stamme aus einer Welt, in der Menschen Monster jagen. In der Polizeibeamte, Staatsanwälte und die Öffentlichkeit sich ihre Mistgabeln schnappen und Mördern und Vergewaltigern auf den Fersen sind – weil sie die Struktur der Gesellschaft aufrechterhalten und jene bestrafen wollen, die ihrer Ansicht nach etwas falsch gemacht haben. Das Problem ist, dass diese Monster manchmal gar nicht existieren.
Als Kriminalpsychologin, die auf falsche Erinnerungen spezialisiert ist, habe ich es ständig mit Fällen zu tun, in denen Menschen nach einem Täter suchen, obwohl es gar kein Verbrechen gegeben hat. Falsche Erinnerungen fühlen sich zwar real an, sind aber kein Abbild von etwas, das tatsächlich geschehen ist. Sie klingen ein bisschen nach Science-Fiction, sind jedoch nur allzu üblich. Erinnerungen stellen, wie die Erinnerungsforscherin Elizabeth Loftus gesagt hat, keine akkurate Schilderung der Vergangenheit dar, sondern ähneln eher Wikipedia-Seiten: Man kann sie aufrufen und verändern, aber das können andere auch.
In extremen Situationen können unsere Erinnerungen am Ende so weit von der Realität entfernt sein, dass wir glauben, Opfer oder Zeuge eines Verbrechens geworden zu sein, das nie stattgefunden hat, oder sogar selbst ein Verbrechen begangen zu haben, das es nie gegeben hat. Dies ist etwas, was ich unmittelbar in meinem Labor untersucht habe. Ich habe die Erinnerungen von Menschen gehackt, um sie – vorübergehend – glauben zu lassen, dass sie etwas Kriminelles getan haben.
Meine Untersuchungen beschränken sich jedoch nicht auf das Labor. Ich forsche auch in freier Wildbahn. Manchmal erhalte ich extrem interessante Post aus dem Gefängnis. Ein Brief kam Anfang 2017. Er war wortgewandt und in einer wunderschön lesbaren Handschrift geschrieben, beides auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Charakteristika für einen Brief von einem Häftling.
Der Absender erklärte, dass er im Gefängnis sitze, weil er seinen betagten Vater erstochen habe. Er hatte nicht nur einmal zugestoßen, sondern 50 Mal. Der Täter war zum Zeitpunkt des Mordes Dozent an einer Universität und ohne Vorstrafen. Er gehört nicht zu den Leuten, von denen wir annehmen würden, dass sie andere erstechen.
Warum also tat er es? Ich war überrascht, als...