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E-Book

Böses Denken

AutorBettina Stangneth
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644052611
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Philosophin Bettina Stangneth, die mit ihrem Buch über den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann («Eichmann vor Jerusalem») international die Debatte über das Böse neu entfacht hat, stellt eine unbequeme Frage: Haben wir wirklich das Recht zu jedem Gedanken, oder braucht auch das Denken eine Ethik? Die Gedanken sind frei, und jeder, der selber zu denken lernt, wird so frei werden wie sie. Das glauben wir jedenfalls. Weil wir fest davon überzeugt sind, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt, fordern Philosophen seit dem 18. Jahrhundert dazu auf, alles zu bedenken, eigene Überzeugungen zu entwickeln und konsequent danach zu handeln. Wer denkt, so hoffen wir, der mordet nicht. Wer aufrichtig seinen Überzeugungen folgt, macht die Welt besser. Aber dann kam das 20. Jahrhundert und mit ihm der organisierte Massenmord, die Tat der denkenden Mörder. Und es kamen die Selbstmordattentäter, die alles andere als gedankenlos sind und dennoch töten. Dieser elegant geschriebene Essay erklärt und erweitert klassische Konzepte des Bösen, denn wer das Böse bekämpfen will, muss es zunächst einmal erkennen. Es kommt schon lange nicht mehr nur als dummer Barbar, sadistischer Schläger oder gedankenloser Bürokrat daher, sondern mit verführerisch schlüssigen Argumenten. So sehr wir es uns auch gewünscht haben: Für uns Menschen ist nichts jenseits von Gut und Böse. Noch nicht einmal das Denken.

Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.

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Leseprobe

Nichts ist so einfach wie Moral. Kein Licht, das dem Menschen aufgegangen ist, strahlte je heller, und keine Orientierung hat sich seither als eindeutiger erwiesen. Allen Geschichten, der eigenen kleinen und der großen der Menschheit, zum Trotz – jeder weiß, was damit gemeint ist, und es ist uns umso bewusster, je lieber wir dagegen anreden.

Achte das Leben aller Menschen und versuche wenigstens, die Welt nicht schlechter zu hinterlassen, als du sie vorgefunden hast.

Oder formuliert als Verbot:

Wenn deine Art und Weise zu handeln eine Welt schafft, in der du nicht selber an der Stelle eines jeden anderen leben wollen würdest, dann handle anders.

Was wäre sonst auch moralisch wesentlich! Es kann deshalb niemanden ernsthaft wundern, dass weder Religionen noch Wissenschaften unser Wissen um das, was Moral ist, grundlegend erweitern konnten – es sei denn um allerlei Ausreden, sich vor dem eigenen Anspruch zu drücken und wahlweise Rituale oder ein Werte-Ping-Pong an dessen Stelle zu setzen. Was hätte das Nachdenken über Gott und das Jenseits und die Erforschung der Welt auch an unserem Wissen ändern können, dass es besser zugeht, wenn Menschen einander menschlich begegnen? Viel erstaunlicher als unser unverrücktes Interesse an gut und böse ist deshalb auch etwas ganz anderes, nämlich der hartnäckige Versuch darzulegen, dass es Moral gar nicht gibt und schon jeder Gedanke daran eine Illusion ist, von der man in der Praxis lieber die Finger lässt.

Der Mensch kann wie kein anderes uns bekanntes Lebewesen sein Wissen zur Gestaltung der Welt verwenden, und üblicherweise tun wir das mit atemberaubender Geschwindigkeit und großem Erfolg. Kein Rückschlag kann uns aufhalten, wenn wir uns erst einmal entschieden haben, den Fuß auf den Mond zu setzen. Von der Entdeckung des Feuers bis zum LED-Bildschirm, von der Steinschleuder zur Kampfdrohne – die Erfolgsgeschichten unseres Verstehens sind ebenso zahlreich wie jede für sich beeindruckend. Warum also haben wir die moralische Erkenntnis nicht genauso begeistert genutzt? Mehr noch: Warum sind wir so bemüht, sogar kleine Erfolge sofort wieder zunichte zu machen, sobald sich die Gelegenheit bietet? Jeder, der sich eines Morgens entschließen würde, statt mit dem Intercity Express von Hamburg nach Berlin zur Arbeit zu fahren, lieber einmal auf allen vieren gen Osten zu krabbeln oder dem Chef den dringend erbetenen Vertragsentwurf per Brieftäubchen statt als E-Mail zuzustellen, darf sich des Kopfschüttelns seiner Mitmenschen sicher sein. Aber wenn wieder einmal jemand daherkommt und wortreich begründet, warum die Vorstellung der einen Menschheit nichts als eine Chimäre, eine Illusion, ein Hirngespinst, ist und dass jedes Sprechen von Vernunft, von Freiheit und Menschenrecht allenfalls weltfremde Naivität sein kann – wenn nicht sogar ein gefährlicher Betrug –, dann hören wir immer noch zu. Wenn jemand doch noch einmal sagen dürfen möchte, dass jede andere Kultur unser Leben bedroht, sofern wir nicht als Touristen Eintritt bezahlt haben, um sie am anderen Ende der Welt zu besichtigen, dann nehmen wir seine Sorgen so ernst, als hätten wir all das nie zuvor gehört, geschweige denn längst selber gedacht. Und wenn jemand behauptet, es gebe ernstzunehmende Gründe für das Ermorden von Menschen, die hauptberuflich Bilder zeichnen oder nichts anderes gemeinsam haben, als einen Freitagabend ausgerechnet in dem Café zu verbringen, das der Mörder in unguter Erinnerung hat, dann widersprechen wir immer noch nicht entschieden, sondern stellen lieber gleich mit der Würde der Opfer auch noch unsere Überzeugungen in Frage, weil es ja sein könnte, dass etwas dran ist an dieser Kritik durch Maschinengewehrläufe und Bombengürtel. Geht’s noch? – möchte man fragen. Wenn man denn genug Zeit dazu hätte, bevor gleich der Nächste daherdoziert, dass die Dinge nun einmal so lange differenzierter zu betrachten sind, bis jeder auf seine Weise recht hat, und genau das auch noch als Erkenntnisfortschritt verkauft, samt der Empfehlung, auf alte unnütze Etiketten wie «gut» und «böse», «richtig» und «falsch» lieber ganz zu verzichten, weil sie zum Verständnis von allem und jedem ohnehin nichts beitragen könnten.

Dort, wo jeder, der nicht versteht, als dumm oder doch unverständig gilt, sind Begriffe der Ratlosigkeit nicht vorgesehen. Vielleicht erklärt schon das allein, warum wir es ungern genau nehmen, wenn Philosophen über das Böse nachdenken und damit die Fähigkeit des Menschen meinen, etwas zu tun, was sie selber für falsch halten. Sollten diejenigen, die doch vorgeben, die Weisheit zu lieben, nicht ohnehin lieber unter sich bleiben, um das heilige Hochplateau des Denkens rein zu halten und über nichts als das Wahre, das Gute und das Schöne zu sprechen, auf dass da etwas glänze, und damit die Unaufgeklärten beständig hinan zu ziehen und die Dummen ebenso zu trösten wie die Teilzeitverzweifelten? Im Urlaub erwartet man ja auch weiße gepflegte Strände, etwas Aufbauendes eben, eine Art Parallelwelt, wo immer die Sonne scheint und noch die Bettler pittoresk zu sein haben, wo niemand hungert oder front und wo es allenfalls den wohligen Sinn des Lebens oder doch seelentröstende Beratung regnet. Einmal im Jahr wenigstens muss doch alles gut sein, damit wir alle so weiterwurschteln können wie zuvor.

Philosophie darf als Meditation daherkommen. Ruhig und ausgewogen, in wohlgewählten Worten und leisen Tönen, abgeklärt und jederzeit vor allem bis zur Selbstzerknirschung vorsichtig – ein bescheiden vorgetragener Sing-Sang, willkommen nur, solange es nicht weh tut oder gar etwas kostet. Nur nichts Unbequemes, bitte. Erlaubt ist allenfalls ein wenig Aufklärungs-Pathos mit etwas anrührender Utopie light oder der erhobene Zeigefinger, weil der Lausbub schon immer lebensklüger und vor allem lustiger ausgeschaut hat, wenn sich ein selbsternannter Oberlehrer damit blamiert, ihn zur Vernunft zu rufen. So hat man wahlweise erleichtert zu lächeln oder nachsichtig den Kopf zu schütteln über die gepflegte Weltfremdheit, die man nur von Zeit zu Zeit gern sieht, bevor es zurück in den Alltag geht. Zurück zum Ernst des Lebens also, von dem diese Verkopften doch noch nie etwas verstanden haben, weil die wahre Welt so viel anders ist als alles, was man von ihnen darüber hören will.

Dabei galt es einmal als vornehmste Aufgabe des Philosophen, nicht etwa Antworten zu liefern, sondern Fragen zu stellen, also hartnäckig auf das hinzuweisen, was wir keineswegs so gut verstehen, wie wir es gern vorgeben und manchmal selber glauben. Wer sich und anderen ständig den Spiegel vorhält, hat aber selten ein attraktives Image. Darum erzählte schon der griechische Philosoph Aristoteles den zahlenden Besuchern seiner Akademie lieber, dass die Philosophie mit dem Staunen beginnt. Die Vorstellung von großen wissbegierigen Kinderaugen ist natürlich viel sympathischer als der durchdringende Blick des Skeptikers. Außerdem wusste Aristoteles auch sehr genau, dass man einen seiner Vorgänger für eben seine Zweifelei zum Tode verurteilt hatte, jenen Sokrates nämlich, der mit der selbsterteilten Lizenz zum Nörgeln seinen Mitmenschen ständig ungebeten in Cafés auflauerte, um ihnen die Marktunfähigkeit ihrer Theorien vorzuführen. Philosophie, die zur Wirklichkeit hinführt, ist etwas anderes als schöngeistiges Dekor oder folgenloses Phantasieren, und das zu allererst für den, der sie betreibt. Tatsächlich bedroht das kritische Fragen unvermeidlich auch diejenigen, die ihre Macht und ihre Position in einer Gesellschaft vor allem der Hoffnung der Menschen verdanken, dass wenigstens ein paar immer genau wissen, was zu tun ist, und dass es wenigstens einen gibt, der alles im Griff hat.

Insbesondere wer über das Böse spricht, bekennt offen das Gegenteil. Es geht um das, was nicht geschehen sollte, und es geht um diejenigen, die es dennoch tun. Es geht um uns, die wir es nicht fassen können, und um diejenigen, die es erfassen und doch nicht verhindern. Es geht vor allem um etwas, das wir verstanden zu haben glauben und das wir gerade dadurch ständig unterschätzen. Es geht nicht zuletzt um unseren eitlen Stolz darauf, jederzeit zuhören und nachvollziehen zu können, und die damit verbundene Blindheit für die Gefahr, dass andere sich längst auf unseren Wunsch verlassen, alles zu verstehen, also auch sie. Kurz: Wer über das Böse spricht, der warnt – nicht nur vor den unterschätzten Tätern, sondern auch vor der verführerischen Kraft schöner Theorien und einfacher Lösungen.

Was auch sonst! Denn wer wollte heute noch mit einer Erklärung des Bösen Trost verbinden? Dass am Ende alles für irgendetwas gut sei, so wie noch der allerletzte Teufel für die Heilsgeschichte notwendig war und daher die Engel nur mit der Zustimmung ihres Gottes fielen; dass der Fleißige und Begabte sich schließlich doch durchsetzt, weil das Gute die einzig wahre Kraft ist; dass der Schatten nun einmal immer zum Licht gehört – wem soll man das weismachen? Vor allem, wer würde dieses kühle Plätzchen überhaupt noch wollen, seit die «Schatten» Namen wie Adolf Hitler und Josef Stalin tragen? Der charmante Mephistopheles, mit dem es sich so verboten-amüsant parliert, umgarnt schon lang nicht mehr die Weltenlenker, sondern schlägt sich allenfalls noch als Heiratsschwindler in die Büsche. Und auch wenn es sie tatsächlich gibt, die heimlich aufgekritzelten Bekenntnisse eines Martin Heidegger, dass noch Hitler und Massenmord unabdingbar gewesen wären für das Seynsgeschick (Fragen Sie nicht!) oder beseelte Kleriker, die bei Tee sich selber rührend erklären, dass es ohne die Verfolgung von Juden ja keine Gelegenheit gegeben...

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