1. Nach der Diagnose: Wie geht es weiter?
Wenn Sie dieses Buch zur Hand genommen haben, könnte es gut sein, dass Sie vor kurzem die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) erhalten haben. Falls ja, fragen Sie sich jetzt vielleicht: Wie geht es jetzt weiter? Das ist eine sehr wichtige Frage. In Büchern und auf Websites zum Thema BPS, ja sogar in den meisten Texten zur Behandlung der Störung geht es allenfalls am Rande darum, in welcher Situation sich Betroffene unmittelbar nach der Diagnosestellung befinden oder wie sie mit all den Fragen und Emotionen, die sie bedrängen, fertigwerden sollen. Häufig wird sogleich eine Fülle von Informationen zur BPS angeboten, etwa zu ihren möglichen Ursachen oder zu der Art von Problemen, mit denen Betroffene zu kämpfen haben. Oder man geht sogar gleich dazu über, Ihnen Strategien zu erläutern, die Sie im Umgang mit den Symptomen der BPS einsetzen sollen. Alle diese Informationen mögen hilfreich sein, doch besser wäre es, das Thema langsamer anzugehen.
Die Diagnose BPS kann bei Ihnen zunächst einmal starke Gefühle auslösen, sowohl positive als auch negative, und vielleicht brauchen Sie erst Zeit, ehe Sie die nächsten Schritte angehen. Das Gute daran ist: Wenn Sie sich jetzt mit der neuen Diagnose auseinandersetzen und sich Gedanken machen, wie es weitergehen soll, sind dies bereits wesentliche Elemente des Genesungsprozesses.
In diesem Kapitel möchten wir Sie auf einige Dinge vorbereiten, die nun, nachdem man Ihnen gesagt hat, dass bei Ihnen die Kriterien einer BPS erfüllt sind, auf Sie zukommen können. Außerdem möchten wir auf mögliche erste Maßnahmen eingehen, die Sie ergreifen können.
Herausfinden, ob die Diagnose auch stimmt
Die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung kann für Sie einen wichtigen Einschnitt in Ihrem Leben bedeuten und wesentlichen Einfluss darauf haben, wie Sie sich in Zukunft um Ihr seelisches Wohlbefinden kümmern werden. Deshalb ist der erste Schritt nach der Diagnose, sich zu vergewissern, ob sie tatsächlich zutrifft. Wer hat die Diagnose gestellt? Wie ist er oder sie dabei vorgegangen? Welche weiteren Fragen haben Sie im Zusammenhang mit der Diagnose? Wichtig ist auch, ob Sie das Gefühl haben, dass die Diagnose auf Sie passen könnte. In den folgenden Abschnitten schauen wir uns jeden dieser Punkte genauer an.
Wer hat die Diagnose gestellt?
Eine der ersten Fragen, die Sie sich stellen sollten, ist die, ob die Diagnose von einer Person kommt, die für eine derartige Einschätzung hinreichend qualifiziert ist. Heutzutage nutzen immer mehr Menschen das Internet, um herauszubekommen, was ihnen selbst oder einem Angehörigen denn fehlen könnte. Wenn Sie selbst oder jemand, der Ihnen nahesteht, unter einem körperlichen oder psychischen Problem leiden, liegt es nahe, dass Sie sich so rasch und so umfassend wie möglich informieren wollen. Das Internet ist in dieser Hinsicht einfach unschlagbar, weil es zu fast jedem erdenklichen Thema Auskunft geben kann.
Leider sind die Informationsangebote zur BPS im Internet von höchst unterschiedlicher Qualität. Manche Websites sind hervorragend dafür geeignet, sich ein genaueres Bild von der BPS zu machen, und stellen die Symptome dieser Störung detailliert und kompetent dar. Einige dieser Internetangebote werden wir am Ende dieses Kapitels vorstellen. Es gibt aber auch Websites, die unzutreffende Informationen zur BPS verbreiten und den Forschungsstand falsch wiedergeben. Wer sich auf diese fehlerhaften Angaben stützt, wird wahrscheinlich nicht zu einer zutreffenden Diagnose gelangen.
Außerdem ist es grundsätzlich nicht empfehlenswert, die Diagnose einer (körperlichen oder psychischen) Erkrankung bei sich selbst zu stellen. Denn wenn wir von Symptomen lesen, haben wir die Tendenz, sie an uns selbst zu erahnen, auch wenn sie gar nicht existieren. Dieses Phänomen ist in der ärztlichen Ausbildung (die Studierenden müssen Texte über alle möglichen Erkrankungen lesen) derart weitverbreitet, dass es als Medizinstudenten-Syndrom bezeichnet wird. Wer also von Symptomen liest, neigt zu der Vorstellung, sie kämen bei ihm viel häufiger vor oder seien viel ausgeprägter, als es der Wirklichkeit entspricht. Deshalb hat es wenig Sinn, die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung bei sich selbst stellen zu wollen. Unterm Strich heißt das: Um eine zutreffende Diagnose zu erhalten, wenden Sie sich am besten an einen dafür ausgebildeten Psychotherapeuten oder Arzt.
Wie ist die Diagnose zustande gekommen?
Ob bei einem Menschen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt, ist nicht leicht zu entscheiden. Deshalb sollten Sie wissen, auf welchem Weg der Experte in Ihrem Fall zu der Diagnose gelangt ist. Nur dann ist für Sie klar, ob die Diagnose hinreichend fundiert ist.
Das verlässlichste Verfahren zur Untersuchung psychischer Probleme ist das strukturierte klinische Interview. Bei einem strukturierten klinischen Interview stellt der Psychotherapeut oder Arzt Ihnen eine Reihe von vorgegebenen Fragen zu Ihrem Befinden und Ihrem Verhalten. Um zu überprüfen, ob bei Ihnen BPS-Symptome vorhanden sind, fragt er Sie beispielsweise: „Gibt es bei Ihnen häufige Stimmungsschwankungen?“, oder: „Haben Sie in Ihren Beziehungen häufig Streit oder Trennungen erlebt?“ Er bittet Sie vielleicht auch, bestimmte Punkte weiter auszuführen oder Beispiele dafür zu nennen. Zögern Sie nicht, ihm so viele Informationen zu geben, wie Sie können. Wichtig ist auch, während des Gesprächs möglichst aufrichtig zu sein. Der Psychotherapeut oder Arzt kann Ihre Diagnose nur aus dem ableiten, was Sie ihm sagen.
Der Therapeut oder Arzt wird Ihnen nicht nur Fragen zu möglichen BPS-Symptomen stellen, sondern auch zu Erfahrungen, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben, zur Familienvorgeschichte und zu Symptomen anderer Störungen. Er will sich auf diese Weise vergewissern, dass die von Ihnen berichteten Symptome am besten mit einer BPS zu erklären sind und nicht zum Beispiel mit einer affektiven Störung, einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer körperlichen Erkrankung. Am Ende des strukturierten Interviews wird er ein Resümee Ihrer Antworten ziehen und prüfen, ob bei Ihnen genügend Symptome vorliegen, um die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu rechtfertigen. Nach den derzeit gültigen Leitlinien müssen von neun BPS-Symptomen (die wir in Kapitel 2 beschreiben werden) nur fünf gegeben sein, damit die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gestellt werden kann (American Psychiatric Association, 2000).
Manche Ärzte und Therapeuten stützen sich bei der BPS-Diagnostik nicht auf das strukturierte klinische Interview. Dies ist zwar die Methode, die als die verlässlichste gilt, doch es gibt auch noch andere diagnostische Verfahren. Der Therapeut oder Arzt lässt Sie vielleicht auch einen Fragebogen ausfüllen, der auf eine Reihe von Symptomen zielt. Diese Vorgehensweise hat den Vorzug, dass sie gewöhnlich viel weniger Zeit erfordert als ein strukturiertes Interview und Sie die Diagnose somit schneller erhalten. Die ausschließliche Verwendung von Fragebögen bei der BPS-Diagnostik hat allerdings auch einige Nachteile. Vor allem kann sich der Therapeut oder Arzt kein wirklich umfassendes Bild davon machen, wann, wie oft und in welchen Situationen die jeweiligen Symptome bei Ihnen auftreten, weil ein solcher Fragebogen Sie dazu anhält, unter einer begrenzten Anzahl von Antwortmöglichkeiten die jeweils zutreffendste zu wählen. Fragebögen allein können deshalb wohl kaum die nötigen detaillierten Informationen liefern, die für eine korrekte BPS-Diagnose erforderlich sind.
Wenn ein Therapeut oder Arzt eine Borderline-Persönlichkeitsstörung allein anhand von einem oder mehreren Fragebögen diagnostiziert hat, kann es gut sein, dass er nicht sämtliche Informationen zur Verfügung hatte, die für eine treffsichere Diagnose eigentlich notwendig gewesen wären. Andererseits hat man für einige Fragebögen nachweisen können, dass sich mit ihrer Hilfe zuverlässig ermitteln lässt, ob jemand an BPS leidet oder nicht. Ihre Verwendung kann also als erster diagnostischer Schritt durchaus sinnvoll sein. Wir glauben jedenfalls, dass ein Fragebogen nur als Einstieg in ein umfassenderes Gespräch über Ihre Symptome dienen sollte.
Scheuen Sie sich nicht, selbst Fragen zu stellen
Nachdem ein Therapeut oder Arzt die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Ihnen gestellt hat, sind Sie mit Fragen an der Reihe. Vielleicht hat er Ihnen, als er Ihnen die Diagnose mitteilte, bereits erläutert, wie er dazu gekommen ist und welche verschiedenen Aspekte er dabei berücksichtigt hat. Falls nicht, sollten Sie keine Scheu haben, nachzufragen. Überhaupt sollten Sie so viel fragen, wie Sie möchten, ganz gleich, wie viele Informationen der Therapeut Ihnen gibt. Nur auf diese Weise werden Sie herausfinden, ob die Diagnose für Sie stimmig ist.
Für den Fall, dass Sie nicht sicher sind, welche Arten von Fragen Sie stellen sollen, nennen wir Ihnen einige, die hilfreich sein könnten. Erstens können Sie den Therapeuten, falls Sie finden, dass er sich dazu noch nicht klar genug geäußert hat, direkt fragen, ob er glaubt, dass bei Ihnen eine BPS vorliegt und aufgrund welcher konkreter Anhaltspunkte er zu diesem Schluss gekommen ist. Diese Frage dürfte für jeden Therapeuten leicht zu beantworten sein. So bekommen Sie eine viel klarere Vorstellung davon, wie die Diagnose auf Ihre persönliche Situation passt. Aus ähnlichen Gründen ist es auch wichtig nachzufragen, welche BPS-Symptome bei Ihnen im Einzelnen zu erkennen sind. Zum Beispiel können Sie den Therapeuten bitten, die BPS-Symptome nacheinander mit Ihnen...