1. Das Bild einer stürmischen Welt
In der Einleitung zu diesem Buch wurde erläutert, dass und warum dieses Kapitel ein Bild unserer stürmischen Welt zeichnen soll, so wie sie sich Tag für Tag in unseren Zeitungen und Fernsehnachrichten darstellt, genauer gesagt: wie sie dargestellt wird. Die Nachrichten zu den wichtigsten Krisenfeldern unserer Weltgesellschaft sind oft so erschreckend oder deprimierend, dass unserem Bewusstsein fast nichts anderes übrig bleibt, als diese sich aufhäufenden Berichte immer wieder zu verdrängen. Solcher Selbstschutz der Seele ist völlig legitim und soll nicht diskreditiert werden. Aber von Zeit zu Zeit müssen wir den Kanaldeckel über dem entsprechenden Wissen anheben und darunterschauen, damit wir nicht abstumpfen, sondern erwachen und so unserer Verantwortung gegenüber den Opfern und unseren Kindern und Enkeln gerecht werden. Das Folgende bietet für die meisten Leser und Leserinnen vermutlich nichts Neues, es soll nur die Erinnerung auffrischen. Immerhin: In diesem Buch soll ja das Bild unserer Welt als einer stürmischen und gefährdeten nicht das einzige bleiben, das zählt. Doch an ihm vorbei nur ein »positives« Bild zu zeichnen, um unsere Gefühle zu schonen, wäre nicht wahrhaftig.
Gewaltkrisen
Am deutlichsten sichtbar sind die militärischen Konflikte, denn sie gehen einher mit massiven Menschenrechtsverletzungen, Bombardierungen ganzer Städte, unzähligen Opfern an Menschen auf allen Seiten. Seit 1945 hat es über 260 bewaffnete Konflikte gegeben. Oft sind es ethnisch oder religiös begründete Machtkämpfe innerhalb eines Landes oder Grenzkonflikte zwischen zwei Nachbarländern. Doch immer wieder verfolgen die internationalen Großmächte im Hintergrund agierend oder direkt intervenierend ihre eigenen geopolitischen Absichten (Militärstützpunkte, Einflusszonen), die in der Regel durch ökonomische Interessen motiviert sind (Rohstoffquellen, Handelswege, Absatzmärkte). Auch bei innerstaatlichen Konflikten geht es oft um die Kontrolle ökonomischer Ressourcen, seien es Erdöl, Erdgas, Erze, seltene Erden oder gar Wasser. (Genaue Daten und Analysen bei Andreas Zumach: »Globales Chaos«, 2015.)
Einige Konflikte sind politisch so komplex und emotional derart aufgeladen, dass sie trotz internationaler Vermittlungsversuche unlösbar erscheinen. So etwa die schon über Jahrzehnte andauernde Spannung zwischen Israel und den Palästinensern, die schon mehrmals zu offener Kriegführung eskalierte. Auch die Ukraine-Krise ist durch internationale Einmischung extrem schwierig beizulegen. Jeder Versuch einer Vermittlung ist dort nahezu aussichtslos, wo die Konfliktparteien jeweils religiösen Fanatismus schüren und für sich ausnützen (so in den jahrelangen Kämpfen in Nordirland oder zurzeit in Syrien, im Irak und weiteren Staaten. Latent bleibt auch der Konflikt zwischen Indien und Pakistan gefährlich).
In den 1980er-Jahren stand die ganze Welt unter der unvorstellbaren Bedrohung eines atomar geführten Krieges. Weil dabei die Selbstzerstörung der kriegführenden Länder zu erwarten gewesen wäre, rückten die Militärs der Atommächte allmählich von der Planung mit schweren, sogar präventiven »Atomschlägen« ab. Allerdings findet weiterhin ein äußerst aufwendiges konventionelles Wettrüsten statt und eines mit »kleineren«, »intelligenteren«, gar »sauberen« Atomwaffen, was deren Einsatz wieder wahrscheinlicher macht. Es ist unfassbar, mit welchen schier unbegrenzten finanziellen Mitteln, die in anderen Bereichen dringend gebraucht würden, die Produktion und der Export von Rüstung vorangetrieben werden. Der entstandene Überschuss an Tötungskapazität (»Overkill« pro Kopf) ist mit keinerlei militärischer Analyse zu rechtfertigen und unkontrollierbar geworden.
Eine nicht einschätzbare Gefahr geht seit 2001 vom internationalen Terrorismus aus. Denn religiös aufgehetzte kleine Gruppen oder Einzeltäter können jederzeit und überall Angst und Schrecken verbreiten. Erst recht gefährlich werden terroristische Milizen, wenn sie – wie im Fall des sogenannten »Islamischen Staates« – ganze Staatsgebiete unter ihre Kontrolle bekommen wollen und dabei besonders fanatisch und brutal vorgehen.
Neben diesen kriegerischen Gewaltakten gibt es auch in vielen eigentlich zivilisierten Gesellschaften (wie etwa der deutschen) immer wieder Amoktäter, gewaltsame Anschläge mit rassistischen Motiven und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Nach Beobachtung der Fachleute scheinen diese Gewaltakte zuzunehmen. In welchem Maß dies auf die exzessive Darstellung von Gewalt in Filmen, Fernsehprogrammen, Internet und Computerspielen zurückzuführen sei, ist umstritten. Weil Bilder und Berichte von Gewaltakten aus aller Welt, versehen mit genauesten Details, oft tagelang in unseren Medien präsent sind, prägen sie jedenfalls unser Bild von »der Welt« übermäßig und verändern in Wechselwirkung auch selbst die Realität.
Die Hungerkrise
Darüber treten andere Katastrophen in den Hintergrund, werden gar »unsichtbar« und geraten in Vergessenheit, obwohl sie insgesamt wesentlich höhere Opferzahlen fordern als die medienwirksamen Gewaltexzesse. Die größte Katastrophe in unserer Welt ist die am wenigsten sichtbare. Nur in seltenen Aufgipfelungen kommt sie an die Oberfläche der öffentlichen Wahrnehmung: die globale Hungerkatastrophe. Sie vollzieht sich lautlos, täglich und seit Jahrzehnten und wird noch für weitere Jahrzehnte anhalten. Jean Ziegler, der jahrelang Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung war, beziffert die Anzahl der Menschen, die täglich an Hunger sterben, auf 37 000. Das sind im Jahr etwa 15 Millionen, fast doppelt so viele wie in jedem Jahr des Zweiten Weltkriegs! Vom Hungertod betroffen sind 6,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren – das heißt, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind irgendwo auf unserer Welt. Hinzu kommen die jährlich schätzungsweise 800 Millionen Menschen (FAO 2015), die ständig Hunger leiden und durch diese chronische Unterernährung schwere Gesundheitsschäden davontragen – wiederum besonders Kinder. Der Hunger ist am größten im südlichen Asien und in Afrika südlich der Sahara.
Das Schlimmste an diesen Zahlen ist der Umstand, dass alle diese Opfer nicht sein müssten. Experten, die am jährlichen Welternährungsbericht der Vereinten Nationen mitgewirkt haben, stellten fest, dass die Erde problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also weit mehr als die heutigen 7 Milliarden. Der Skandal ist die ungerechte Verteilung der Nahrungsmittelproduktion und des Nahrungsmittelverbrauchs. Die Gründe sind vielfältig. Das oft beschworene Bevölkerungswachstum ist nur in einigen afrikanischen Ländern noch ein Faktor oder in ländlichen Regionen Südasiens. Die Hauptfaktoren sind politische und wären änderbar: so die Produktions- und Exportsubventionen an die industrielle Landwirtschaft in den überentwickelten Ländern (deutsche Hähnchen auf afrikanischen Märkten!); die Spekulation mit Nahrungsmitteln an Spezialbörsen; die staatliche Unterstützung der europäischen und US-amerikanischen Agrarwirtschaft beim Raubbau in Armutsländern, wo riesige Flächen Urwald oder fruchtbares Ackerland aufgekauft (»Landgrabbing«) und umfunktioniert werden für den Anbau von Mais und Soja als Futter für die Massentiermast in Europa und USA (ein Drittel der Weltgetreideproduktion!) sowie für die Produktion von Speiseöl und Bio-Kraftstoffen. Unser unersättlicher Bedarf an Treibstoffen, unser unmäßiger Konsum von Fleisch- und Wurstwaren sowie das tonnenweise Wegwerfen genießbarer Lebensmittel sind also weitere Faktoren bei der Verursachung von Hunger in unserer Welt. Auf die Rolle dessen, was im Buddhismus »Gier« genannt wird – sowohl individuell wie kollektiv –, werden wir später zurückkommen.
Aber hier muss auch der Begriff der strukturellen Gewalt genannt werden. Er meint Gewalt (und ihre Opfer), die durch privaten Großgrundbesitz, ausländisches Investitionskapital oder politisch abgesicherte Handelsvorteile ausgeübt wird. All das sind alte und neue Erscheinungsformen des Kapitalismus. Dieser keineswegs überholte Begriff steht für eine Wirtschaftsweise, bei der es um die Vermehrung von Kapital geht statt um die Erzeugung von Wohlstand für alle Beteiligten. »Diese Wirtschaft tötet!«, formulierte Papst Franziskus in einem hochoffiziellen Lehrschreiben im Jahr 2015.
Die Reichtum-Armut-Krise
Ein relativ abstraktes Bild von Ungerechtigkeit ergeben die Zahlen über die globale Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Superreichen, das sind 0,6 Prozent der Weltbevölkerung, besitzen fast 40 Prozent der weltweiten privaten Vermögen. 30 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über Vermögen von 20 000 bis 200 000 US-Dollar, während 50 Prozent der Menschen nur etwa 2000 Dollar Vermögen und 20 Prozent keinerlei Vermögen besitzen. Diese extreme Ungleichheit der Verteilung hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen und wird weiter anwachsen, weil auch die Prokopfeinkommen der Menschen in allen Gesellschaften sich extrem auseinanderentwickeln. Wenigen Superreichen steht eine immer größere Zahl von Armen gegenüber, das heißt Menschen, die am Existenzminimum leben. Betrachtet man nur die deutsche Gesellschaft, sind die Proportionen nicht besser: Während die Hälfte unserer Bevölkerung fast keinen Anteil an der Summe der Nettovermögen hat, verfügt das reichste Zehntel über 60 Prozent davon (Zahlen von 2012 nach Simon 2014: 96-102, der nur offizielle Quellen benutzt).
Ein ähnliches Bild ergeben die internationalen Finanzströme, wobei einige Gründe für die globale Verarmung erkennbar werden. Im Jahr 2012 sind von den reichen Ländern »im Norden« rund 1000 Milliarden Dollar »in den Süden«, das...