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'Brudi, gönn' Dir!' Kölner Jugendliche im Spannungsfeld zwischen formellem und informellem Sprachgebrauch

AutorBernadette Greiten
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl101 Seiten
ISBN9783656940951
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Germanistik - Linguistik, Universität Paderborn (Germanistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Schon früh im Studium stellte ich fest, dass mich besonders die Linguistik reizte. Sprachgeschichtliche Seminare ließen mich einen Blick in die Entwicklung von Sprache werfen und sensibilisierten mich u. a. für heutigen Sprachwandel. Vorlesungen wie 'Kommunikation und Geschlecht' schärften meinen Blick für spezifische Sprachgebräuche und das weite Feld der Pragmatik. Themenbereiche wie Grammatik und Orthographie lehrten mich die Systematik und Struktur von Sprache, gesprochener wie geschriebener. Als ich im Februar 2014 mein außerschulisches Praktikum in der Jugendwerkstatt in Köln absolvierte, die Jugendlichen - oft in prekären Milieus aufgewachsen und mit gescheiterten Bildungskarrieren - beobachtete und sprechen hörte, sah ich meine Chance, selbst im kleinen Rahmen so etwas wie Feldforschung zu betreiben. Kein Schulabschluss, z. G. aus zerrütteten Familienverhältnissen, dafür oftmals bereits Bekanntschaft mit dem Jugendamt, der Arbeitsagentur und der deutschen Justiz gemacht und meist emotional und/ oder lernbehindert, vereinten die Jugendlichen auf den ersten Blick all das, von dem ich bisher maximal gehört hatte und erfüllten sämtliche Klischees und Vorurteile. Aber wie steht es wirklich um den Sprachgebrauch dieser Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen? Ich nahm die Jugendlichen in für sie gewohnten Situationen auf und führte einige Interviews mit dem Ziel, das Spannungsfeld zwischen formellem und informellem Sprachgebrauch dieser Jugendlichen zu betrachten. Als Aufhänger meiner Arbeit dient ein Zitat, über das ich während meines Praktikums stolperte, das mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist und einen ersten Ausblick auf das bietet, was sich im zweiten Teil meiner Arbeit - der Analyse von aufgenommenen Gesprächen - findet: 'Brudi, gönn' Dir!' Meine Arbeit gliedert sich wie folgt, als dass ich zunächst wissenschaftliche Grundlagen für die Gesprächsanalyse schaffe. Schwierigkeiten bei der Definition der Standardvarietät, die Besonderheiten von gesprochener Sprache führen in für meine Arbeit erwähnenswerte Variationen von Sprache und in eine kurze Einführung in die Soziolinguistik. Mit Punkt 5 beginnt der zweite Teil meiner Arbeit: Ich stelle den Kölner Stadtbezirk Mülheim, die Jugendwerkstatt und die Jugendlichen selbst vor, schreibe einige Worte zu meinem Korpus und untersuche an ausgewählten Beispielen den Sprachgebrauch der Jugendlichen. Die Namen der Jugendlichen habe ich verändert. Die Transkription dazu befindet sich im Anhang.

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Leseprobe

5. Korpus: Gespräche und Interviews von und mit Kölner Jugendlichen


 

5.1 Das Stadtviertel Köln-Mülheim


 

Die Aufnahmen fanden im Kölner Stadtteil Mülheim in der Jugendwerkstatt der Jugendhilfe Köln e. V. statt. Mülheim war bis 1914 eigenständig, wurde dann eingemeindet und zählt heute als Stadtbezirk Mülheim 144.000 Einwohner. In der Vergangenheit siedelten sich große Unternehmen der verarbeitenden Stahlindustrie wie Felten & Guilleaume, Carlswerk usw. an.[100] Gastarbeiter wurden gebraucht, um den enormen Arbeitsaufwand stemmen zu können. Anschließende Werkschließungen und Umstrukturierungen hinterließen vor allem eins: „[...] soziale Probleme.“[101] 2012 meldeten sich 15,5 % Einwohner des Viertels arbeitslos; darunter eine Jugendarbeitslosenquote von 12,4 %.[102] Mülheim hat mit 22 Grundschulen die meisten Grundschulen der Kölner Stadtbezirke, aber nur fünf Gymnasien und genauso viele Förderschulen. 10-19,9 % der Schülerinnen und Schüler besuchen nach der vierten Klasse der Grundschule die Hauptschule. Zum Vergleich: In den Kölner Stadtbezirken Lindenthal und Rodenkirchen liegt dieser Anteil bei unter 3 %.[103] Mit Stand von 2006 weisen 33,7 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund auf.[104] Die Keupstraße, Kölner Zentrum des türkischen Geschäftslebens und von Restaurants, türkischen Bäckereien, Friseuren und Geschäften geprägt, erlangte 2004 als Ziel des NSU-Attentats traurige Berühmtheit.[105]

 

5.2 Vorstellung der Gruppe


 

Die Jugendwerkstatt in Mülheim richtet sich an Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren. Sie bietet mit einer Zweirad- und einer Holzwerkstatt sowohl für Jugendliche, die ihre Schulzeit bereits absolviert haben, als auch Schulverweigerern, die noch schulpflichtig sind, eine Möglichkeit, sich zu orientieren und individuell weiterzuentwickeln. Gefördert werden soll dies durch „[...] die Verbindung aus werkpädagogischer Anleitung, Stützunterricht und sozialpädagogischer Förderung.“[106]

 

Ich kenne die Jugendwerkstatt seit meines außerschulischen Praktikums im Februar 2014. Jedes Jahr im Sommer beginnt die einjährige Maßnahme mit jeweils maximal neun Teilnehmern pro Werkstatt. Die Schülerinnen und Schüler (nachfolgend S&S genannt) kommen ab ca. 7:30 Uhr, ziehen ihre Arbeitskleidung an und treffen sich entweder in der Küche oder im Pausenraum mit dem Werkstattleiter, Sozialarbeiter und/oder Lehrer. Die Anwesenheit wird kontrolliert, die gemeinsamen Mahlzeiten geplant und das weitere Vorgehen abgesprochen. Die Gruppe wird i. A. R. aufgeteilt und arbeitet im flexiblen Wechsel in der Werkstatt und im Klassenraum bis ca. 16 Uhr.

 

5.3 Datenerhebung


 

Nachdem die Jugendwerkstatt e. V. ihre Einwilligung gegeben hatte, dass ich in ihren Räumlichkeiten die Jugendlichen zum Zwecke meiner Hausarbeit im Rahmen des Ersten Staatsexamens aufnehmen dürfe, holte ich in das Einverständnis eines jeden Jugendlichen schriftlich ein. In Absprache mit den Jugendlichen erscheinen sie in den Transkripten und in meiner Analyse lediglich mit ihren Vornamen, es sei denn, der vollständige Name fällt in den Gesprächen selbst. Außer den unter Punkt 1 geschilderten und allgemein bekannten Charakteristika der Zielgruppe der Jugendwerkstatt Köln e. V., gebe ich unter den Punkten 6.1, 6.2 und 6.3 nur die für die Analyse und deren Verständnis nötigen Hintergrundinformationen zu den Jugendlichen.

 

Für meine Aufnahmen nutzte ich zunächst das Gerät Zoom H2 Handy-Recorder in MP3-Qualität, später das iPad 2 mit der App „Voice Record“ in MP4-Qualität. Für eine relativ hohe Realitätsnähe und detailgetreue Abbildung der sprachlichen Wirklichkeit kam für mich als Option nur die Aufnahme von Gesprächen in Frage. Eine Kameraausrüstung wäre noch schwieriger für das Aufnehmen in gefühlt unbeobachteten Momenten geeignet. Nachträglich erstellte Protokolle, die sich rein aus der Erinnerung speisen, sind meiner Meinung nach für eine Sprachanalyse ungeeignet, da sie subjektiv vorgefiltert und somit stärker verfälscht sind, als es durch das Transkribieren im Sinne der modifizierten orthographischen Transkription[107] geschieht.

 

Weitere Schwierigkeiten ergaben sich dadurch, dass viele Jugendliche nur sporadisch in die Jugendwerkstatt kamen; das Transkript "Wochenende" handelt zum Teil thematisch darüber. Die Auswahl von Beiträgen rein männlicher Jugendlicher basiert auf dem einfachen Grund, dass das einzige Mädchen der beiden Gruppen nie anwesend war, wenn ich in der Jugendwerkstatt war.

 

Die Daten erhob ich mit dem Interesse, in Anlehnung an Labov (1980) anhand des Sprachgebrauchs ausgewählter Jugendlicher das Prinzip des Stilwechsels zu verdeutlichen. Oft beobachtete ich während meines Praktikums unterschiedliche Stile, die die Jugendlichen nutzten – der Theorie von doppelter Halbsprachigkeit und Bernsteins elaborierten bzw. restringierten Sprachcodes zum Trotz. Ganz offensichtlich verfügen die Jugendlichen ganz nach Labovs Prinzip der Aufmerksamkeit über unterschiedliche Stile (vgl. Punkt 3.4.2), die sie nutzen. Der Sprachgebrauch, der die wenigste Aufmerksamkeit des Sprechers fordert, nennt Labov Vernacular-Stil, nach gleichnamigem Prinzip. Diesen Stil für eine Analyse zu fassen zu bekommen, ist jedoch verhältnismäßig schwierig, da nach dem Prinzip der Formalität jede Beobachtungssituation durch einen formalen Kontext bestimmt ist. Diesem Beobachterparadoxon habe ich durch versteckte Aufnahmen – nach Bahlo & Steckenbauer (2008): „pseudo-offene, dynamische Aufnahmen“[108] – zu begegnen versucht.[109] Die so aufgenommen Gespräche waren allerdings trotz professionellen Aufnahmegeräts technisch von so schlechter Qualität, dass ich zwei Dinge veränderte: Zum einen wechselte ich das Aufnahmegerät gegen mein iPad mit entsprechender App aus. Das iPad mit seiner schlichten Erscheinung lässt sich nicht nur unauffälliger platzieren, den Jugendlichen ist ein Tablet auch eher aus ihrer persönlichen Lebenswelt bekannt – anders als ein Aufnahmegerät, das durch sein technisch professionell anmutendes Design Aufmerksamkeit erregt und so den Fokus der Jugendlichen immer wieder auf die Aufnahme lenkt, den formalen Kontext ständig in Erinnerung ruft und wiederherstellt. Zum anderen ergänzte ich das bisher entstandene Datenmaterial der Gespräche durch Interviews. Um die doch eher von Formalität geprägte Atmosphäre[110] zu durchbrechen, nutzte ich Fragen, die die Emotionen des zu Interviewenden ansprechen sollten.[111] Die Jugendlichen, die es bisher im Leben sowieso schon schwer hatten (vgl. Punkt 1) und evtl. emotional nicht so gefestigt sind, in emotionale Extremsituationen –  wie es beispielsweise Labov mit der Lebensgefahr-Frage tut[112] – zu versetzen, damit ich an ergiebige Daten kam, schien mir nicht angemessen, sodass ich die Fragen entschärfte und versuchte, positivere Lebensbereiche der Jugendlichen anzusprechen. Die Fragen nutzte ich in der Interviewsituation als Aufhänger, um den zu Interviewenden zum Reden zu animieren. Gelang dies, ließ ich den Jugendlichen auch reden, ließ ihn das Gespräch führen und stellte Verständnisfragen zu dem von ihm gewählten Thema: „[...] je weiter er vom Thema abkam, desto bessere Möglichkeiten hatten wir, seine natürliche Sprechweise zu studieren.“[113] War das Thema erschöpft oder konnte bzw. wollte der Jugendliche nichts mit meiner Frage anfangen, griff ich auf meinen ‚Fragenfundus‘ zurück.

 

Im Anhang finden sich insgesamt vier Transkripte, denen ich zur Unterscheidung thematische Namen gegeben habe: Raucherpause (Punkt 8.2.1), Wochenende (Punkt 8.2.2), Praktikum (Punkt 8.2.3) und Interview (Punkt 8.2.4).

 

Die Aufnahme ‚Raucherpause‘ ist zweigeteilt: Zunächst handelt es sich dabei tatsächlich um eine Raucherpause der Jugendlichen. Anschließend nimmt der Aufnehmende das Aufnahmegerät mit in seinen Unterricht. Informalität wechselt dabei zu dem klassisch formellen Kontext der Institution Schule. Zu finden ist die Analyse des Transkripts unter dem Punkt 6.1 und hauptsächlich unter Punkt 6.2.

 

Die Aufnahme ‚Wochenende‘ findet an einem Freitag statt. Hier handelt es sich um die Begrüßungs- und Organisationsphase zu Beginn des Tages. Auch wenn es sich dabei um ein Gespräch zwischen Schülern und Lehrern handelt, so lassen sich hier sowohl formelle als auch informell gestaltete Sequenzen beobachten. Das Transkript ‚Wochenende‘ findet in Punkt 6.3 Berücksichtigung.

 

Die Aufnahme ‚Praktikum‘ ist geprägt von einem starken Ungleichgewicht zwischen einem Schüler und zwei Erwachsenen, der Lehrerin und mir. Eigentlich sollte an diesem Tag ‚ganz normaler‘ Unterricht stattfinden. Allerdings kam nur ein einziger...

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