Kapitel 1
Vom Sündenbock zum Millionär
Kindheit im Wirtshaus
Bruno Stefanini wuchs in einem Wirtshaus auf. Seine Eltern führten seit 1930 die Genossenschaftsbeiz Zum Salmen an der Marktgasse in der Winterthurer Altstadt. Der Vater stand von früh bis spät in der Küche, die Mutter servierte. «Bruno hatte einen grossen Dachstock und wollte immer, dass ich zum Spielen zu ihm komme, weil seine Eltern keine Zeit für ihn hatten», erinnert sich ein Primarschulfreund. Vielleicht formten die schwierigen sozialen Umstände seinen eigenwilligen Charakter, in dem sowohl seine geschäftlichen Erfolge als auch seine gesellschaftlichen Schwierigkeiten wurzelten.
Stefaninis Vater, Giuseppe Antonio, stammte aus einer Bauernfamilie im piemontesischen Städtchen Trecate. Er folgte dem Vorbild vieler seiner Landsleute, als er mit 14 Jahren von zu Hause wegzog und sich im Ausland auf die Suche nach Arbeit begab. Zuerst verschlug es ihn nach Basel, wo er als Erdarbeiter seinen Lebensunterhalt verdiente, später ins Wallis nach Naters, wo er als Handlanger beim Bau der Lötschbergbahn half. 1911 kam er zum ersten Mal nach Winterthur.
Giuseppe Stefanini gehörte zur ersten Welle von italienischen Gastarbeitern, die zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz einwanderten. Rund 260 000 Immigranten nutzten die Einreise- und Niederlassungsfreiheit, die um die Jahrhundertwende herrschte. Die Gastarbeiter kamen vorwiegend aus den Ländern südlich der Alpen, sodass die Italiener die Deutschen allmählich als grösste Ausländergruppe ablösten. Die meisten von ihnen arbeiteten an den grossen Infrastrukturprojekten oder im Häuserbau. Mit ihrer Hilfe konnte in dieser Zeit das Schweizer Eisenbahnnetz massiv ausgebaut werden.
Als Stefaninis Vater nach Winterthur kam, lebten etwa 500 seiner Landsleute in der Stadt, die damals noch nicht mit den Aussengemeinden zusammengewachsen war. Sie machten rund 5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Stefanini arbeitete in Winterthur zuerst als Rohrleger am Bau der Unterführung der Zürcherstrasse und an der Eindolung der Eulach mit, danach fand er, nach Jahren der Wanderarbeit, eine Festanstellung bei der Firma Albert Rohrer & Co., wo er seine zukünftige Frau kennenlernte: Elisabetha Katharina Hüppi, die aus dem Kanton Glarus kam, war bei Rohrers als Dienstmädchen angestellt.
1 Giuseppe Stefanini kam Anfang des 20. Jahrhunderts als Handlanger nach Winterthur und führte später die Genossenschaftsbeiz Zum Salmen. Er galt als fleissiger Arbeiter und war im genossenschaftlichen Umfeld gut vernetzt.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Giuseppe Stefanini jedoch zum Militärdienst und kämpfte als Bersagliere – eine Spezialtruppe des italienischen Heers – an der Isonzofront gegen Österreich-Ungarn. 300 000 Italiener gerieten in den insgesamt zwölf Isonzoschlachten in Kriegsgefangenschaft, unter ihnen auch Stefanini. Er überstand die Gefangenschaft und kehrte 1920 nach Winterthur zurück, erhielt eine Stelle bei der städtischen Gas- und Wasserversorgung und heiratete Elisabetha Hüppi. Am Weihnachtsabend des folgenden Jahres kam ihr erstes Kind, Aldo, zur Welt.
1922 bezog die Familie eine Wohnung im Eichliacker in Winterthur-Töss. Das Quartier lag an der Bahnlinie zwischen den beiden grossen Fabrikbetrieben Sulzer und Rieter und wurde im Zuge der Industrialisierung zu einem dicht besiedelten Arbeiterviertel. Das Haus, in dem die Familie wohnte, wurde wie viele andere in dem Quartier von der Gesellschaft für Erstellung billiger Wohnbauten (GEbW) erstellt, die von den Industriellen ins Leben gerufen worden war, um für ihre Mitarbeiter günstigen Wohnraum zu schaffen. 1922 fand auch die Eingemeindung der heutigen Stadtviertel Töss, Wülflingen, Veltheim, Oberwinterthur und Seen statt. Winterthur hatte sich jahrelang dagegen gewehrt, weil es durch die Integration der ärmeren Dorfgemeinden und der sozialistisch gesinnten Arbeiterschaft mögliche Nachteile fürchtete.
2 Elisabetha Hüppi stammte aus dem Kanton Glarus. Sie führte zusammen mit ihrem Mann das Restaurant und hatte nur wenig Zeit, sich um ihre beiden Kinder, Aldo und Bruno, zu kümmern.
Am 5. August 1924 wurde Bruno, das zweite Kind von Giuseppe und Elisabetha Stefanini, geboren. Nun war die Wohnung in Töss zu klein, und die Familie zog in das Haus an der Steinberggasse 9 in der Winterthurer Altstadt. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Eltern wohl kaum gedacht, dass ihr jüngerer Sohn die Liegenschaft später einmal kaufen würde. 1928 beantragte Giuseppe Stefanini die Einbürgerung. Sein Leumund sei ungetrübt, schrieb sein Arbeitgeber: «Stefanini hat sich bis jetzt stets als solider, ausserordentlich fleissiger und tüchtiger Arbeiter von besten Charaktereigenschaften ausgewiesen.» Auch sein ehemaliger Vermieter in Töss stellte ihm ein gutes Zeugnis aus, und so wurde er in den Kreis der Winterthurer Bürger aufgenommen.
1930 übernahm Giuseppe Stefanini als Wirt das Restaurant Zum Salmen. Es gehörte der Società Cooperativa, einer Konsumgenossenschaft, die 1906 von italienischen Arbeitern als eine Art Selbsthilfeorganisation gegründet worden war. Die «Copi», wie sie im Volksmund genannt wurde, verkaufte direkt aus Italien importierte Produkte zu günstigen Preisen und war jahrzehntelang der einzige Ort in Winterthur, an dem man Salami oder Mortadella erhielt. Italienische Weine wurden waggonweise importiert und offen verkauft für 1 bis 2 Franken pro Liter. Das Kilogramm Teigwaren kostete weniger als 1 Franken. Auch die einheimische Bevölkerung begann, an den mediterranen Spezialitäten Gefallen zu finden, und das Geschäft florierte. So betrieb die Genossenschaft bis zum Ersten Weltkrieg mehrere Verkaufsstellen, zwei Restaurants und eine Arbeiterbibliothek mit Lesesaal. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs wurden viele Italiener in die Armee eingezogen, und die Genossenschaft musste ihre Aktivitäten weitgehend einstellen. Nach dem Krieg nahm die Cooperativa die Geschäfte wieder auf und kaufte ein Haus an der Stadthausstrasse am Rande der Winterthurer Altstadt, wo das Ladenlokal bis zum endgültigen Ende der «Copi» blieb. Gleichzeitig siedelte die Genossenschaft ihre Beiz in den «Salmen» um, welcher der Brauerei Haldengut gehörte. Ende der 1920er-Jahre stellten die Genossenschafter ausserdem noch eine Fürsorgekasse und einen Unterstützungsfonds auf die Beine.
3 Gemeinsame Freizeit war selten. Die beiden Söhne halfen schon früh im elterlichen Betrieb mit. Bei dem Spaziergang im Jahr 1933 war Bruno Stefanini (ganz rechts) neun Jahre alt.
1935 wurde Giuseppe Stefanini zum Vorsteher der Società Cooperativa gewählt und lenkte dreissig Jahre lang deren Geschicke. Er bot vielen Familienangehörigen und Freunden Arbeit, und der «Salmen» war ein wichtiger sozialer Bezugspunkt. In der Nachkriegszeit erreichte die Cooperativa unter dem ehrgeizigen Präsidenten einen Jahresumsatz von bis zu 1,7 Millionen Franken. Nach dem Rücktritt Stefaninis führten Misswirtschaft und das Aufkommen der Grossverteiler zum Niedergang der Konsumgenossenschaft. 1973 musste der Laden schliessen, drei Jahre später – am 70. Geburtstag der Cooperativa – auch das Restaurant im «Salmen». Die sozialdemokratische Zeitung DAZ bemerkte dazu wehmütig: «Der Geist von Solidarität und genossenschaftlicher Bruderhilfe ist im Rausch der Hochkonjunktur unbemerkt eingeschlafen.»
Starthilfe des Vaters
Giuseppe Stefanini spannte seine beiden Söhne schon als Jugendliche in den Betrieb der Società Cooperativa ein. Aldo arbeitete im Restaurant und übernahm in den 1950er-Jahren die Leitung der Kantine im neuen Wohlfahrtshaus der Firma Sulzer in Oberwinterthur, wo er über Jahrzehnte Industriearbeiter verköstigte. Bruno half bei der Verwaltung der Restaurants und Läden, die der Vater, der nur über zwei Jahre Schulbildung verfügte, als Vorsteher zu beaufsichtigen hatte. Daneben betreuten die Stefaninis auch Liegenschaften italienischer Bekannter in Winterthur. Erfolg und sozialer Aufstieg war ihr Ziel, das sie stets vor Augen hatten. Während des Zweiten Weltkriegs kam Giuseppe Stefanini zu etwas Geld und begann, selber Liegenschaften zu kaufen.
4 Bereits als 22-Jähriger besass Bruno Stefanini seine ersten beiden Liegenschaften an der Wartstrasse in Winterthur. Er erhielt sie von seinem Vater, der über gute Kontakte zu Baugenossenschaften verfügte.
Sein Einstieg ins Immobiliengeschäft erfolgte über Baugenossenschaften. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Industriebetriebe in Winterthur immer mehr Menschen angezogen. Die Provinzstadt an der Eulach wurde zum Brotkorb der Region. Die Gesellschaft für Erstellung billiger Wohnbauten konnte mit dem enormen Bevölkerungswachstum aber nicht Schritt halten, und die Wohnungsnot wurde zum politischen Dauerbrenner. Während des Zweiten Weltkriegs spitzte sich die Lage weiter zu. 1941 fiel der Leerwohnungsstand für Vierzimmerwohnungen auf 0,2 Prozent – heute gehen Experten für das reibungslose Funktionieren des Markts von Werten zwischen 1 und 3 Prozent aus. Deshalb begann die öffentliche Hand, genossenschaftliche Wohnbauten zu subventionieren.
5 Giuseppe Stefanini begann während des Zweiten Weltkriegs, eigene Liegenschaften zu kaufen. Sein Sohn Bruno half ihm bei der Verwaltung und fand so den Einstieg ins Immobiliengeschäft.
Zu dieser Zeit existierten in Winterthur 15 Baugenossenschaften. Drei...