Andreas Gross
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Zur sanften Renovation einer 125 Jahre alten, ebenso revolutionären wie modernen Errungenschaft
Bevor wir uns über die Medizin zu verständigen suchen, sollten wir uns wenigstens bezüglich der Diagnose einig sein. Ist es also wirklich das Volumen der Volksinitiativen, welches das grösste Problem der schweizerischen direkten Demokratie darstellt? Sind es tatsächlich zu viele?
Zwar gehört das Reden von der Initiativenflut in Bundesbern gleichsam zum guten Ton. Es hat sich eingebürgert in den vergangenen Jahren. Das Parlament werde überschwemmt von Volksinitiativen, heisst es, die Parteien würden sie missbrauchen, Bundesrat und Parlament blieben keine Zeit mehr für Wesentlicheres. Und wer so redet, der weiss auch gleich, was zu tun ist: Das Unterschriftensammeln erschweren, die notwendigen Unterschriftenzahlen erhöhen, das verbindliche Initiativrecht zu einem unverbindlichen Antragsrecht kastrieren – kurzum: die Einflussmöglichkeiten engagierter Bürgerinnen und Bürger zurückbinden und dadurch die repräsentative Autonomie des Bundeshauses stärken.
Solche Momente irriger Perzeptionen sind nicht neu. Bereits Mitte der 1930er-Jahre meinte der Bundesrat, es gäbe zu viele Volksinitiativen; 1933 waren inmitten der grössten Wirtschaftskrise erstmals sechs statt wie seit 1891 jährlich maximal bloss drei Volksinitiativen lanciert worden. Anfang der 1970er-Jahre – die 68er hatten die Volksrechte entdeckt und begannen sie für die Modernisierung der Gesellschaft, für den ökologischen Umbau und die Gleichberechtigung der Frauen zu nutzen – waren es durchschnittlich sechs pro Jahr, und wieder prägte man einen Abbau-Begriff. Diesmal war es Bundesrat Kurt Furgler, der von der Notwendigkeit, die Demokratie zu «verwesentlichen», sprach. Als ob es nicht zur Freiheit und zur Demokratie gehörte, Unterschiedliches als wesentlich zu empfinden und auf die öffentliche, politische Tagesordnung stellen zu wollen.
Furglers Antrag, die für Volksinitiativen und Referenden notwendigen Unterschriftenzahlen zu verdoppeln, hatte freilich damals auch eine objektive Basis: Mit der Einführung des Frauenstimmrechts hatte sich die Zahl der Stimmberechtigten etwas mehr als verdoppelt. Die Mehrheit der Kantone sowie der Bürgerinnen und Bürger stimmte 1977 Bundesrat Furglers Vorschlag zu. Doch nach einem kurzen Einbruch wurden aus den Initiativen-Spitzenwerten der 1970er-Jahre die Durchschnittszahlen der 1980er- und 1990er-Jahre: Fast zehn Volksinitiativen wurden nun jährlich lanciert. Und es war Bundesrat Arnold Koller, der sich von diesen Zahlen blenden liess und sie zum Anlass nahm, zu versuchen, die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger an sich zu schmälern. Glücklicherweise scheiterte er damit aber schon im Parlament.
Koller machte uns glauben, mit der Axt durch das Unterholz der direkten Demokratie hauen zu müssen: Die Zahl der Volksinitiativen ist aber nicht biologischer Natur, sondern Ausdruck der von einigen Bürgerinnen und Bürgern als ungelöst erachteten gesellschaftlichen Nöte und Probleme, der politischen Schwierigkeiten, Kompromisse zu finden, welche ausreichend befriedigen, sowie des gesellschaftlichen Bedarfs an Reformen und neuen Perspektiven, welche im Umfeld des Bundeshauses zu wenig zur Sprache kommen und deshalb von aussen eingespeist werden müssen in den politischen Betrieb.
Zweitens wird übersehen, dass im Unterschied zu den ersten 90 Jahren der Geschichte der direkten Demokratie heute viel mehr lancierte Volksinitiativen bereits an der Unterschriftensammel-Hürde scheitern und den Bundesrat sowie das Parlament gar nie beschäftigen. Seit den 1960er-Jahren wagen sich wesentlich mehr Einzelpersonen und Bürgergruppen, die sich ausschliesslich wegen ihrer und für ihre Sache zusammenfinden, an eine Volksinitiative – in den vergangenen 15 Jahren auch beflügelt durch Vollerfolge, die einige unter ihnen erleben durften. Beide unterschätzen aber immer noch oft die organisatorischen und kommunikativen Probleme, die es dabei zu meistern gilt, bereiten sich zu wenig umsichtig vor, wollen zu schnell lancieren und scheitern dann an der eben trotz aller neuen elektronischen und digitalen Mittel nicht zu unterschätzenden Hürde, innert 18 Monaten 100 000 gültige Unterschriften zu sammeln.
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Diagnose: Kein quantitatives Problem
Zwar sind Ende der 2000er-Jahre in einem Jahr tatsächlich wieder wie 1999 mit 20 fast doppelt so viele Volksinitiativen eingereicht worden, wie dies normalerweise in einem Jahr der Fall ist, doch waren es in den vergangenen zwölf Jahren (2003 – 2015) insgesamt nicht mehr als in den drei Legislaturperioden zuvor (1991 – 2003). Vor allem sind 2013 und 2014 mit je zehn lancierten Volksinitiativen noch nie so viele jährlich gescheitert und haben die notwendigen Unterschriften in der gebotenen Frist nicht zusammengebracht. Schliesslich hat auch das gegenwärtige Wahljahr weniger Initiativen provoziert als früher – es dürften 2015 etwa halb so viel werden wie 2014; von den Parteien wählten 2015 nur die SVP, die Grünen und die Jusos wiederum dieses Agitationsinstrument. An der Unterschriftenhürde bereits gescheitert ist 2015 auch wieder eine Initiative, und es dürfte nicht die letzte gewesen sein dieses Jahr.
Erst zum zweiten Mal in der 125-jährigen Geschichte der eidgenössischen Volksinitiative sind in den vergangenen vier Jahren mehr lancierte Volksinitiativen an der Unterschriftenhürde gescheitert und nicht zustande gekommen als mit genügend Unterschriften eingereicht worden (erstmals war dies zwischen 1988 und 1991 der Fall). Schon zweimal sind während vier Jahren mehr Volksinitiativen eingereicht worden als in den vergangenen vier Jahren. Nur in einer Beziehung brachte die vergangene Legislatur bezüglich der direkten Demokratie einen Rekordwert hervor: Noch nie wurden so viele Volksinitiativen von den Initianten wieder zurückgezogen, bevor sie zur Volksabstimmung gelangten. Dies geschah aber meist nur dann, wenn das Parlament das Anliegen der Initianten aufnahm und ihnen direkt oder indirekt ein Stück entgegenkam. Damit konnten die Initianten ohne neue Verfassungsgrundlage und ohne Volksabstimmung die Gesetze in ihrem Sinne verändern. Dies bedeutet wiederum, dass das in der Schweiz auf Kooperation zwischen den Institutionen der direkten Demokratie funktioniert: Das Parlament fühlt sich nicht einfach überlastet, wie ihm Aussenstehende unterstellen, und verschliesst auch nicht die Augen gegenüber den Anliegen der Initiativen der Bürgerinnen und Bürger. Ganz im Gegenteil: Das Parlament kommt diesen sogar entgegen, wenn parlamentarische Mehrheiten für Mittelwege sichtbar werden. Kompromissbereite Reformer parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Natur vermögen so Volksabstimmungen über Volksinitiativen und die entsprechenden Belastungen der Gesellschaft unnötig zu machen.
Fazit: Von Initiativenflut oder direktdemokratischen Überschwemmungen kann keine Rede sein – bezüglich der Referenden bewegen wir uns seit einiger Zeit unter dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahrzehnte. Die Probleme der Schweiz mit den Volksrechten sind nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Um diese abzubauen, bedarf es weder einer Axt noch sonstiger Grobheiten, sondern feiner und präziser verfassungs-, steuer-, medien- und bildungspolitischer Reformen. Und man vergesse nicht: Der Fiebermesser ist nicht verantwortlich für die Temperatur, die er anzeigt; ebenso wenig wie der Spiegel für das Gesicht, das er Ihnen jeden Tag zeigt. Sie können den Fiebermesser vergröbern, den Spiegel zerstören: Die Krankheiten müssen Sie dennoch anders und klüger behandeln, um wieder zu gesunden.
[2.2]
Die kommunikative Macht der engagierten Bürgerinnen und Bürger
Zur Diagnose eines Problems gehört die Einsicht in das Wesen einer Institution, ihrer Funktion und ihrer Leistung. Bezüglich der direkten Demokratie erlaubt uns diese Einsicht, den Kern dessen zu erfahren, weshalb so viele Menschen die Volksrechte so schätzen; so gewinnen wir die Kriterien, die uns erlauben, Reformbestrebungen zu beurteilen, indem wir sagen können, ob sie wirklich leistungsfördernd sind und den Kern tatsächlich stärken.
Wer in der Schweiz unzufrieden ist mit den politischen Zuständen, sich über die Verschlossenheit des Parlaments gegenüber Reformideen ärgert oder sonst wie überzeugt ist, anders könnte es viel besser werden, kann sich eines Mitwirkungsinstruments bedienen, das andere demokratische Volksbewegungen vor 150 Jahren zuerst in den Kantonen erkämpft, dort in einigen Kantonsverfassungen verankert und in längeren anstrengenden Auseinandersetzungen vor 125 Jahren auch in die Bundesverfassung übertragen hatten: das Initiativrecht. Damit wollten die Pioniere der direkten Demokratie Ideen und Reformanliegen zum Ausdruck verhelfen, die im Parlament entweder übersehen oder verdrängt wurden oder scheinbar schlicht keine Chancen hatten.
Da ausser der Mehrheit des Initiativkomitees niemand, auch kein Bundesrat oder keine Parlamentsmehrheit, die Volksabstimmung über eine ordentlich zustande gekommene Volksinitiative verhindern kann, verschafften diese Pioniere der direkten Demokratie den nachfolgenden Generationen engagierter Bürgerinnen und Bürger eine kommunikative Macht, die ihnen in der bloss indirekten Demokratie fehlt: Sie können der Gesellschaft jederzeit die Diskussion einer Frage aufdrängen, selbst wenn diese aus irgendwelchen Gründen eine solche meiden...