2 Weshalb ist China kein typisches Schwellenland?
China ist ein Schwellenland, keine Frage. Obschon die Kriterien, die ein Land erfüllen muss, um zu den Schwellenländern zu gehören, nicht einheitlich definiert sind,31 finden sich doch einige allgemeingültige Charakteristiken. Dazu gehören unter anderem ein überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum, makroökonomische Stabilität, ein Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2000 und 12 000 US-Dollar pro Jahr, eine mit den OECD-Ländern vergleichbare Arbeitsproduktivität bei tiefem Lohnniveau, eine fortgeschrittene Industrialisierung, ein noch nicht voll entwickelter Dienstleistungssektor, internationale Wettbewerbsfähigkeit, stabile Institutionen und eine gewisse soziale Infrastruktur. Aber auch hohe Einkommens- und Vermögensunterschiede sowie Rechtsunsicherheit und Korruption werden mit Schwellenländern assoziiert. China erfüllt diese Kriterien (vergleiche Kapitel 1.1 «Wirtschaftssektoren und Rebalancing»), hebt sich gleichzeitig aber auch deutlich von anderen Schwellenländern ab.
2.1 Die Macht der Masse
In China leben 1, 38 Milliarden Menschen. Diese schier unglaubliche Bevölkerungszahl wirft natürlich Fragen zur Lebensqualität und zum Ressourcenverbrauch in diesem Land auf. Oft werden dabei Statistiken über die Bevölkerungsdichte herangezogen, an deren Spitze Stadtstaaten wie Monaco und Singapur stehen und an deren Ende Länder wie die Mongolei, Grönland oder Australien zu finden sind. Solche Zahlen sind wenig aussagekräftig, da sie Durchschnittswerte darstellen und das effektiv bewohnbare Land, die Urbanisierung und die Konzentration der Bevölkerung auf bestimmte Regionen nicht berücksichtigen. Ebenso fehlen dabei Angaben zur Wohnfläche pro Kopf und zur öffentlichen Infrastruktur.
China ist flächenmässig das viertgrösste Land der Welt sowie das Land mit der höchsten Bevölkerungszahl. In Bezug auf die Bevölkerungsdichte rangiert China auf Platz 70 von 211 Ländern (die Schweiz befindet sich auf Platz 55).32 Riesige Gebiete im Westen Chinas sind sehr dünn besiedelt, während sich im Osten des Landes die gigantischen Metropolen ausbreiten. Werden Vororte mitgezählt, gibt es in China 179 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern. Peking, Schanghai und Shenzhen haben zwischen 20 und 30 Millionen Einwohner, der Grossraum Chongqing ist mit 33 Millionen Einwohnern die grösste Metropole der Welt. Im Jahr 2000 gab es in China drei Megalopolen (Peking, Schanghai und Shenzhen), 2020 werden es 13 sein,33 darunter Chengdu, Xian oder Wuhan im Landesinneren.
Die Masse und Dichte an Menschen in den Küstenmetropolen Chinas ist weltweit einzigartig. Das führt zu unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Phänomenen. Die urbane Bevölkerung konsumiert in einem konzentrierten Retailumfeld mehr, was das Rebalancing der Wirtschaft hin zu mehr Konsum fördert. Auch der E-Commerce boomt in China, weil die Verteilung der Güter dank der guten Infrastruktur bei dieser Bevölkerungsdichte höchst effizient ist. Das senkt die Transaktionskosten des Konsums und ist wohlstandsfördernd. Paradebeispiel dafür ist der Internet- und E-Commerce-Gigant Alibaba (, a li ba ba). Obwohl bislang vornehmlich in China aktiv, ist sein Handelsvolumen grösser als das von E-Bay und Amazon zusammen. Zudem wächst Alibaba rund fünf Mal schneller als seine US-amerikanischen Konkurrenten.
Die vom Westen oft als überdimensioniert bezeichnete Infrastruktur wird in den meisten Fällen intensiv genutzt. Enorm teure Projekte wie die Hochgeschwindigkeitseisenbahn zwischen Schanghai und Peking zahlen sich wirtschaftlich aus. Die Hochgeschwindigkeitszüge brauchen für die 1320 Kilometer von Schanghai nach Peking fünf Stunden, verkehren im 15-Minuten-Takt und sind meist voll besetzt. Die U-Bahn-Netze in Peking und Schanghai, die weltweit grössten ihrer Art, sind eigentlich keine U-Bahnen, sondern S-Bahnen, da die Stationen oft mehrere Kilometer auseinanderliegen und einzelne Linien 100 Kilometer lang sind. Doch die Züge verkehren häufig im Zwei- bis Dreiminutentakt. Urbanisierung und Bevölkerungsdichte treiben die wirtschaftliche Dynamik an.
Der Anteil der Ausländer an der Wohnbevölkerung Chinas beträgt 0, 05 Prozent.34 Die Bevölkerung setzt sich aus 56 Ethnien zusammen, wobei 92 Prozent der Einwohner Han-Chinesen sind. Alle sprechen neben ihren lokalen Sprachen und Dialekten Mandarin. Trotz regionaler ökonomischer und kultureller Unterschiede ist China nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch hinsichtlich des Rechtssystems und der Regulierung ein einheitlicher Markt mit (zumindest teilweise) ähnlichen Konsumpräferenzen.
Wegen der Bevölkerungsdichte in den Ballungszentren gibt es schon in einem relativ kleinen geografischen Radius riesige Märkte. Auch kleine Nischenmärkte erreichen in China schnell die Grösse von bedeutenden Wirtschaftssektoren in anderen Ländern.35 Wie Abbildung 12 zeigt, erzeugt der in China noch junge Sektor Wellness mehr Umsatz als die Automobilindustrie in Polen, das immerhin ein Land mit 38 Millionen Einwohnern ist. Dienstleistungen und Produkte rund um Onlinespielplattformen generieren ein grösseres Verkaufsvolumen als die Automobilindustrie in der Türkei mit einer Bevölkerungszahl von 79 Millionen.
Die Homogenität des chinesischen Marktes führt zu hohen Skaleneffekten, denn ein Produkt lässt sich mit vergleichsweise wenig Zusatzaufwand im ganzen Land anbieten, was grosse Ertragschancen birgt. Alipay (, zhifu bao), das Bezahlsystem von Alibaba, wurde über Nacht ausgerollt und verzeichnete auf Anhieb 400 Millionen Kunden. Unternehmen können allein wegen der Grösse des Binnenmarktes international relevant werden, obwohl sie ausschliesslich in China ihre Geschäfte tätigen. In China wachsen heute auch Konzerne heran, die global aktiv sein und eine wichtige Rolle spielen werden. Das wird sicherlich nicht ohne vorübergehende Probleme ablaufen, aber die Unternehmen verfügen über Know-how, Kundenbasis und Finanzkraft, die auch weltweit Erfolge ermöglichen.
Ein neuer Trend und neue Produkte finden schnell reissenden Absatz. Innovationen, die sich an spezifische Kundengruppen richten, können in den unzähligen Testmärkten ausprobiert und angepasst werden. Eine Änderung der Konsumgewohnheiten kann innerhalb kürzester Zeit in einer ganzen Branche zu einer Veränderung der Wettbewerbsbedingungen führen. Das hat auch zur Folge, dass Unternehmen, die nicht in der Lage sind, rasch auf eine neue Nachfrage zu reagieren, vom Markt verschwinden. Nicht ohne Grund fressen überall auf der Welt die grossen Fische die kleinen, in China jedoch die schnellen die langsamen, weil die Konsumgewohnheiten noch nicht etabliert sind.
Beim Ausblick auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung Chinas spielt das Phänomen der «Macht der Masse» eine entscheidende Rolle. 1, 38 Milliarden Konsumenten, die jedes Jahr mehr verdienen und trotz einer sehr hohen Sparquote jedes Jahr mehr Geld für den Konsum nicht lebensnotwendiger Dinge zur Verfügung haben, stellen eine unglaubliche Wirtschaftskraft dar.
Box 5: Elemente der Markthomogenität
– In China leben 1, 38 Milliarden Menschen.
– Mandarin ist die offizielle Sprache Chinas und Muttersprache von 700 Millionen Chinesen; die anderen lernen Mandarin in der Schule als Zweitsprache.
– 92 Prozent der chinesischen Bevölkerung werden der Ethnie der Han zugeordnet.
– Der offizielle Anteil von Ausländern an der Bevölkerung ist ein halbes Promille.
– Für all diese Personen gilt – zumindest auf dem Papier – ein Rechtssystem (vergleiche Kapitel 4.1 «Rechtssystem»).
– Regulatorische Vorschriften für einzelne Sektoren gelten in der Regel für das ganze Land.
– Datenschutz wird kleingeschrieben, der «gläserne Bürger» ist schon seit 60 Jahren Realität.
– 48 Prozent der Bevölkerung nutzen das mobile Internet, was Onlinetransaktionen und der Einführung neuer Geschäftsmodelle auf digitaler Basis den Weg ebnet.
2.2 Gelenkte Wirtschaft und Leistungsausweis der Regierung
Aussagen über die Regierung Chinas sind bis zu einem gewissen Grad immer spekulativ. Pekings Machtzirkel ist für Aussenstehende schwer zu durchschauen und zu begreifen. Alle Interpretationen der Absichten, Strategien und Denkweisen der Regierung basieren so lange auf lückenhaften Beobachtungen, bis die Regierung selbst Fakten schafft und handelt.
Dennoch sei daran erinnert, dass Präsident Xi Jinping (, xi jinping) das erste Staatsoberhaupt ist, das nach der Revolution von 1949 geboren wurde, und dass er und einige andere Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros Nachkommen ursprünglicher Würdenträger des kommunistischen Chinas sind. Eine in China oft gehörte Aussage ist, dass ähnlich wie die Mitkämpfer Mao Zedongs (, mao zedong), die ab 1949 wichtige Funktionen im neu gegründeten Staat innehatten, auch deren Nachkommen Anspruch auf die Führungsfunktionen im heutigen China erheben. Diesen Anspruch sehen sie darin begründet, dass ihre Väter das Land aus dem Chaos in eine geordnete Gesellschaftsform hievten. Dadurch unterscheiden sie sich von den früheren Führungsriegen unter den Staatspräsidenten Jiang Zemin (, jiang zemin, 1993–2003) und Hu Jintao (, hu jintao, 2003–2013). Diese wurden von vielen als Technokraten wahrgenommen, die den Staatsapparat verwalteten, sich aber nicht als...