Ist Stress Symptom oder Ursache eines Burnouts?
Die meisten Menschen sind der Ansicht, dass Burnout durch zuviel Stress entsteht. Wenn man sich als Betroffener zu erkennen gibt, so kommt automatisch die Frage: »Hast du zu viel Stress gehabt?«
Die Empfehlung vieler Ratgeber lautet: »Sie wollen Burnout verhindern? Vermeiden Sie Stress.« Stress und Burnout als Prinzip von Ursache und Wirkung werden wie selbstverständlich in einem Atemzug genannt.
Doch ist das tatsächlich so? Ist Stress wirklich der einzige Auslöser, der zu einem Burnout führt, oder steckt hinter diesem Auslöser noch ein weiterer? Wie kommt es überhaupt zu Stress? Was steckt hinter diesem Begriff, der in aller Munde ist und als zentraler Punkt bei der Entstehung von Burnout gehandelt wird? Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie überhaupt unter Stress geraten? Was bedeutet für Sie Stress?
Befragt man Menschen, was sie persönlich unter Stress verstehen, sind die Antworten vielfältig:
- ━ »Unter Stress verstehe ich Arbeitsüberlastung, Zeitdruck, Termindruck, zu viele Aufgaben auf einmal, keine Pausen, Lärm, Streit etc.«
- ━ »Stress ist, wenn mir alles zu viel wird und ich nicht mehr hinterherkomme.«
- ━ »Ich bin im Stress, wenn ich meine Kinder in den Kindergarten bringen muss und eigentlich schon im Büro sein müsste.«
- ━ »Mich stresst der Blick meines Chefs.«
- ━ »Mich stresst, wenn ich abends nach Hause komme und nicht meine Ruhe haben kann, sondern meiner Frau Rede und Antwort stehen muss.«
- ━ »Mich versetzt es in Stress, wenn ich im Stau stehe.«
- ━ »Ich bin im Stress, wenn ich die Projektleitung habe und einige im Team meinen, das Leben sei ein Wunschkonzert.«
- ━ »Ich gerate vor großen Kundenpräsentationen in Stress.«
- ━ »Ich bin regelmäßig zweimal im Jahr während der heißen Phasen im Stress«, antwortete ein 42-jähriger Wirtschaftsprüfer, der sich nach der achten heißen Phase wegen eines Burnouts in Behandlung begeben musste.
Unter dem Begriff Stress wird allgemein ein subjektiver Zustand verstanden, in dem der Betroffene sich einer für ihn unangenehmen Situation oder Umständen ausgesetzt fühlt, die er weder vermeiden noch in seinem Sinne beeinflussen kann. Entweder fehlen ihm für die Bewältigung die Kompetenzen, oder ihm stehen nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung.
Stress muss vom Individuum jedoch nicht zwangsläufig als negativ erlebt werden. Hans Selye, der die Anfänge der Stressforschung maßgeblich mitbestimmt hat, unterschied zwischen positivem und negativem Stress und prägte dafür die Begriffe Eu-und Dysstress (Hans Selye 1956, 1974 und 1987). Die Vorsilben »eu« und »dys« kommen aus dem Griechischen und bedeuten »gut« beziehungsweise »schlecht«. Positiver, »guter« Stress wird beschrieben als ein angeregter Zustand, wie er etwa in Verliebtheitsphasen vorkommt, doch was im Allgemeinen unter »Stress« verstanden wird, ist negativer, »schlechter« Stress. Dieser ist Ausdruck einer als unangenehm empfundenen Belastung, die sowohl durch Überforderung als auch durch Unterforderung einer Person entstehen kann. Wenn in den folgenden Ausführungen der Begriff Stress verwendet wird, so ist hier grundsätzlich der »negative« Stress gemeint.
Wie entsteht Stress?
Ein zentrales Kriterium für Stress ist, dass es sich hierbei immer um einen subjektiven Zustand handelt, der maßgeblich vom Gefühl der Hilflosigkeit geprägt ist. Je unkontrollierbarer eine Situation für eine Person erscheint, je hilfloser sie sich fühlt, desto stärker ist das Gefühl von Stress. Die subjektive Bewertung spielt hierbei die entscheidende Rolle. Angelehnt an den Satz »Die Welt ist das, was wir in Gedanken aus ihr machen« oder »Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt« (Buddha) kategorisieren wir die jeweiligen Situationen als Stress – oder nicht. Dabei löst erst das Gefühl von unzureichenden Ressourcen und das damit verbundene Gefühl der Hilflosigkeit eine entsprechende Stressreaktion aus (Richard Lazarus). Stress entsteht also nicht allein durch die Situation an sich, sondern durch das, was wir aus der Situation machen. Erst, wenn wir das Gefühl haben, einer Situation nicht gewachsen zu sein, geraten wir unter Stress.
Doch wie gelangen wir überhaupt zur Bewertung einer Situation? Warum wähnen wir uns bestimmten Situationen gewachsen und anderen nicht? Warum geben wir in einigen Situationen innerlich auf und ziehen uns zurück, während wir in anderen entschieden das vertreten, was wir denken und wollen? Diese Fragen werden an späterer Stelle des Buches aufgegriffen und in ihrer Bedeutung für die Entstehung und Behandlung von Burnout ausführlich diskutiert.
Kommen wir jedoch zunächst auf den Begriff Stress und auf seine entscheidenden Faktoren zurück. Wie könnte man daraus nun eine auf den Alltag anwendbare, leicht verständliche und allgemeingültige Definition bilden? Eine Beschreibung, die dazu verhilft, Stress in alltäglichen Situationen leichter zu erkennen und zu verstehen?
Mit diesem Ziel bin ich im Laufe meiner ärztlichen und psychotherapeutischen Tätigkeit zu folgender Definition gekommen: Stress tritt dann auf, wenn es nicht so läuft, wie ich es will. Das heißt nicht, dass immer dann, wenn es nicht so läuft wie ich es will, Stress auftritt, aber immer, wenn ich unter Stress gerate, dann läuft es nicht so, wie ich es will. Wenn Sie mögen, überlegen Sie doch einmal, wann und in welchen Situationen Sie unter Stress standen – würden Sie mit dieser Definition übereinstimmen?
Wo tritt Ihrer Meinung nach der meiste Stress auf?
Stellt man Menschen diese Frage, so erhält man zunächst höchst unterschiedliche Antworten. Stress scheint überall und nirgends auftreten zu können. Je nach Antwort und Person findet Stress zwischen Kollegen statt oder mit dem Ehepartner oder mit dem Chef, mit den Kindern oder dann, wenn neue Anforderungen gestellt werden. Stress kann aber auch im Stau oder auf dem Bahnhof auftreten – die Möglichkeiten scheinen endlos und vielfältig. Betrachtet man die einzelnen Aussagen jedoch genauer, so erkennt man, dass die vielfältigen Situationen auf eine Gemeinsamkeit zurückzuführen sind: Der meiste Stress tritt in Beziehungen auf: in der Beziehung zu sich selbst oder in der Beziehung zur Umwelt. Ob im Straßenverkehr, im Supermarkt, am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Partnerschaft oder mit sich selbst – der Mensch befindet sich fortwährend in (sozialen) Beziehungen. Als soziales Wesen bewegt er sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Anforderungen, zwischen Individualität und Prägung, dem Wunsch nach Zugehörigkeit und der Angst vor Ablehnung, und er befindet sich entsprechend in einem Zustand von Zufriedenheit, Entspannung, Anspannung oder Frustration. Leben ist Beziehung. Dieser fundamentalen Tatsache zollen die zahllosen Empfehlungen, Ratgeber und Behandlungsmethoden für Burnout-Patienten jedoch wenig Aufmerksamkeit. So wird die Ursache einer Burnout-Erkrankung nach wie vor hauptsächlich in dem Fakt der Überlastung und einer ausgeprägten Erschöpfung gesehen. Doch warum es überhaupt zu einer Überlastung kommt, warum ein Mensch jahrelang über seine Grenzen gelebt hat und worüber sich immer mehr Menschen eigentlich erschöpfen – diese Fragen werden vermieden. Stattdessen wird ein Symptom für die Ursache gehalten, die Lösung häufig allein in rationalen Erkenntnissen und in technischen Verhaltensänderungen gesehen und dadurch eine schnelle Heilung erhofft – meist vergeblich.
Wer glaubt, eine Burnout-Erkrankung mit Technik, Tools und allein durch seinen reinen Willen heilen zu können, der täuscht sich. Burnout ist kein Ausdruck von schwacher Willenskraft. Burnout entsteht nicht im Verstand und kann nicht allein über den Verstand gelöst werden. Im Gegenteil: Viele Betroffenen wissen sogar theoretisch, wie sie sich im Sinne der eigenen Gesundheit verhalten müssten – die Intelligenz ist bei Burnout-Patienten meist das geringste Problem –, sie verkennen jedoch, dass notwendige Veränderungen nicht über eine rein rationale, vom Gefühl isolierte Erkenntnis zu erreichen sind. Auf der emotionalen Ebene blockiert, bleibt das Wissen Theorie, und die praktische Umsetzung gelingt nicht. Dass viele Burnout-Behandlungen genau daran scheitern, dass sie nicht über die rationale Ebene hinausgehen, und welche grundsätzlichen Konsequenzen dies nach sich zieht, darauf wird im zweiten Teil des Buches eingegangen.
Welche Ursachen hat Überlastung?
Dass Menschen, die ausgebrannt sind, überlastet sind, ist unbestritten. Doch was liegt hinter diesem Symptom? Was ist der Auslöser für Burnout? Wo liegt die Ursache für dieses Phänomen, das trotz zahlloser Behandlungsangebote immer häufiger auftritt und längst zu einem gesellschaftlichen Problem geworden ist?
Während meiner Tätigkeit, ob in der Klinik oder in der Praxis, waren es weder Alltags- noch Arbeitsüberlastungen, die bei den Patienten ursächlich zu einem Burnout geführt hatten. Es waren vielmehr negative oder fehlende positive Beziehungen zum Umfeld sowie die fehlende Beziehung zu sich selbst, welche die Betroffenen haben ausbrennen lassen. All diejenigen, die an einem Burnout erkrankt und bei mir stationär,...