19.
Ein seltener Fall, dass Paul Camille nicht begleitet. Er hat einen geröteten Hals und darf das Haus nicht verlassen. Es ist Herbst. Camille durchquert auf ihrem Weg den Luxembourg-Park. Es schickt sich nicht, dass ein junges Mädchen allein geht. Der Himmel ist sehr blau und so fern gerückt, dass Camille etwas wie Hoffnungslosigkeit befällt. Wird ihr dieser Tag Glück bringen? Ahornblätter segeln zu Boden. Camille ist blass vor Aufregung. Sie geht mit seltsam unfreien Schritten. Ihr Vater und Monsieur Boucher halten es für möglich, dass Dubois sie an seiner Hochschule als Studentin aufnimmt. Warum sonst hätte er sie in die Schule bestellt? Sie, Camille Claudel, wird als erste Frau ihre Bildhauerausbildung in der Akademie der Schönen Künste aufnehmen!
Dieser Tag wird es entscheiden.
Wenn nur die Angst nicht wäre und das seltsame Gefühl, aus Glas zu sein. Noch nie war dieses Gefühl so stark wie an diesem Morgen. Noch nie hat sie die eigene Ohnmacht und ihre Abhängigkeit von der Meinung der anderen so stark gefühlt. Ihre Stirn ist von Schweiß benetzt, als Camille vor der Schule steht. Der Wind lässt sie plötzlich frösteln. Viel zu früh ist sie hier. Viel zu früh ist sie von zu Hause weggegangen.
Zaghaft schiebt sie sich durch die Flügeltür. Zweimal spricht man sie an. Sie wird für ein Modell gehalten. Der eine lässt sie kaum los, so erfreut ist er von dem unerwartet »aparten« Mädchen. Er will Camille in ein helles, hohes Atelier schieben.
»Ich bin Bildhauerin und kein Modell!« Die Siebzehnjährige reißt sich empört los. »Ich werde vom Direktor erwartet!«
Der verblüffte junge Mann geleitet sie in das Büro. Für Sekunden geht Camille mit gleicher Selbstverständlichkeit wie der junge Mann durch dieses Gebäude.
»Claudel – ach ja, die Kleine möchte hereinkommen!«
Da zerspringt die gläserne Haut. Alle Hoffnungen. Diese väterliche Überlegenheit, in die Dubois sich jetzt flüchtet und die »Kleine« zu sich hereinbittet, braucht er, um ihr kindliche Torheit auszureden. Sie hat keine Lust, sich anzuhören, was sie kennt, auswendig kennt, weil man es ihr jeden Tag vorhält. Er braucht sich nicht mit Wohlwollen zu umgeben, das Lüge ist.
Den Sessel, den er ihr anbietet, nimmt sie nur zu einem Viertel ein. Sprungbereit. Nur ihre Erziehung zur Höflichkeit hält sie auf dem Platz fest. Sie ist unfähig zu hören, was er redet.
Froh will sie sein, dass es zersprungen ist, was sie wie ein Panzer umschlossen hatte, unfrei gemacht und abhängig. Froh will sie sein, dass sie sich wieder allein gehört. Nur im Vertrauen zu sich selbst wird sie ihr Ziel erreichen. Dazu braucht sie nicht die anderen. Nein – sie braucht sie nicht. Zeitvergeudung, hier zu sitzen … Froh will sie sein …
In ihr ist Kraft und Selbstvertrauen, Türen aufzustoßen, die sich nicht von allein öffnen.
»Mademoiselle Claudel, Sie werden Ihren Weg gehen. Davon bin ich überzeugt. Ich rate Ihnen – stellen Sie im Salon aus – nächsten Mai. Stellen Sie die Büste der alten Bäuerin aus. Man wird aufmerksam werden. Besuchen Sie weiter das Atelier von Colarossi. Es gibt Künstler, die ihren Weg ebenfalls nicht über diese Schule genommen haben. Ich denke an Monsieur Rodin. Ich glaube an sein Talent. Eines Tages wird er uns noch mit Ungewöhnlichem überraschen. Unsere Schule lehnte ihn ab. Jetzt hat er einen Staatsauftrag erhalten. Stellen Sie aus, stellen Sie immer wieder aus, Mademoiselle Claudel. Bleiben Sie auf der Suche nach der ›inneren Wahrheit‹, wie Sie es formulierten. Ich persönlich hätte Sie an dieser Schule aufgenommen. Ich entscheide nicht allein. Eine Frau an dieser Akademie – ich will keine Revolution. Man hat mir klargemacht, dass Ihre Zulassung einer Revolution gleichkäme … Gehen Sie den anderen Weg – er ist nicht weniger ehrenvoll. Ich teile die Meinung meines jungen Freundes Boucher – Sie haben Talent. Wenn Monsieur Rodin anstelle von Boucher die Stunden in Ihrem Atelier übernimmt, werden Sie die Verwandtschaft fühlen, die Sie mit ihm haben … Aber vergessen Sie nicht, was Boucher Ihnen vermitteln wollte – die Größe der Florentiner!«
Als sie die Hochschule verlassen hat, spürt Camille schalen Geschmack im Mund. Die Schwärmerei Dubois’ für glatte Kompositionen, sein mehr als deutlicher Hinweis auf traditionelle Themen – man passt sich an! Man habe dem Zeitgeschmack zu dienen. Man habe sich einzufügen in das Große und Ganze. Nur so gehe etwas von der Größe des Ganzen in einen selber ein. Auf eigenen Pfaden verliere man sich. Seine Fragen, warum sie beharre, die eine Büste »Mein Bruder« zu nennen, warum nicht »Junger Römer«? Das sei Enge eines Familienthemas. »Die alte Hélène« – ließe sich nicht ein Bezug zur Antike finden, Baucis vielleicht?
Zwiespältig empfindet Camille Dubois’ Bezugnahme auf Rodin. In der ausführlichen Erwähnung der Tatsache, dass Rodin sich dreimal an dieser Schule beworben habe und dreimal abgelehnt worden sei, liegt ein Hinweis auf seinen Nonkonformismus. Der »Mann mit der gebrochenen Nase« sei ein Schock gewesen. Bei aller Achtung des Talents habe Nonkonformismus seine Konsequenzen. Er hatte die Schule nicht von seinen vorgelegten Arbeiten überzeugen können. Weniger dogmatische und dem Neuen aufgeschlossene Kräfte jedoch haben bewirkt, dass Rodin einen Staatsauftrag erhält. Der Staat stellt ihm ein Atelier zur Verfügung, versorgt ihn mit Marmor und Tonerde, bezahlt seine Handwerker und Modelle. Er hat den Auftrag erhalten, Dantes »Göttliche Komödie« zu gestalten.
Hat Dubois bei allem Lob für sie nicht auch Kritik geübt an ihrer Art, mit Ton umzugehen, indem er auf die Ähnlichkeit mit Rodin verwies?
Als Camille den Park wieder erreicht, wird ihr Schritt langsamer. Sie hat keine Lust, nach Hause zu gehen. Sie will nicht Schadenfreude aus Louises Gesicht sehen, sie will nicht die Genugtuung der Mutter hören, auch nicht das Mitleid Hélènes. Sie will in Ruhe gelassen werden.
Doch einer macht in diesen Jahren noch immer absoluten Besitzanspruch auf sie geltend – Paul. Wo die Hagebutten am Ende des Weges rot aufleuchten, steht er. Seltsam steif und bewegungslos verharrt er am Strauch. Camille winkt. Der Junge scheint verwunschen. Die plötzliche Stummheit, Taubheit, Regungslosigkeit – sie kennt es zur Genüge.
Keine Kraft ist jetzt in ihr, seinen Kummer abzufangen, aufzulösen. Keine Geduld und Muße, ihn zum Reden zu bringen. Keine Lust, Visionen zu erdenken, die schön und heiter in der Zukunft liegen – im Märchenland des Fernen Ostens, in China, wohin sie beide eines Tages auswandern werden.
Kleiner Egoist. Da steht er und verlangt nach Trost. Blind und eingeschlossen in eigenes Verletztsein, nimmt er Camilles Traurigkeit nicht wahr. Da bleibt auch sie stehen. Die eigene Niederlage brennt. Paul soll sie in Ruhe lassen. Zeit vergeht. Minuten fallen zu Minuten. Paul macht einen winzigen Schritt auf sie zu. Es braucht viel Zeit, bis auch Camille sich ihm einen Schritt nähert. Seltsames Spiel des Aufeinanderzugehens. Paul einen Schritt, dann wieder Camille. Als sie nur noch drei Meter trennen, stürzt Paul auf sie zu: »Meine Camille!«
Sie setzen sich beide auf eine Bank, von dunkelgrünen Eiben umschlossen. Niemand spricht. Paul hat seinen Kopf auf Camilles Schoß gelegt. Louise hat sein Heft mit den Gedichten gefunden. Mit schrecklich verzerrender Betonung hat sie die Verse vorgelesen – und gelacht. Sie hat sie auch der Mutter vorgetragen, deren einziger Kommentar war: »Noch ein Verrückter in der Familie!« Paul zittert.
»Camille, wir wollen nicht zurückgehen. Ich bin nicht verrückt. Sie sind es, weil sie nichts verstehen!«
»Ach, Paul!«, sagt Camille nur.
Sie retten sich. Sie fliehen. Sie tauchen ein in ihre Welt voll Erinnerungen und Fantasie. Sie laufen über die Ebene in Villeneuve. Der würzige Duft verbrennenden Kartoffelkrautes weht herüber. Sie lassen den Wald von Tournelle hinter sich und laufen in der Dämmerung zu den Verzauberten. Hierhin emigrieren sie oft. Fluchtversuche, bei denen Camille Pauls Beobachtungen fordert. Heraufbeschwören der Einzelheiten. Der Himmel, der sich in den Wassertonnen der Gärten spiegelt. Das Klagen, wenn der Wind der Ebene die Felsen berührt. Seltsame Lieder, fremde Melodien. Ihr Spiel – sie versteinern in eigenem Leid. Werden zu bizarren Felsen. Wie ihr Leid jeden Tag eine andere Ursache hat, hat es auch eine andere Melodie. Camille muss den trostreichen Vers finden für Pauls Kummer und umgekehrt, er den ihren. Erkennt sich der andere im Vers wieder, fällt die Versteinerung ab. Sie erhöhen den Reiz des Spiels. Schicken Verfolger aus – Mutter, Louise, den Vater, Tanten und Cousins. Die wollen sie einfangen, zurückbringen, folgen ihnen bis in die steinerne Wüste. Zu Stein geworden, bleiben Camille und Paul unerkannt. Und die anderen sagen Verse auf von Gehorsam und Pflicht, von Dankbarkeit und Anpassung, unter denen die beiden noch mehr verhärten. Suchend und rufend verschwinden die anderen.
»Ich bin die Wahrheit – mit dem Antlitz des Irrtums!« Camilles erster Vers hat getroffen. Seine Dichtungen sind seine Wahrheit – so empfindet es Paul. Die anderen erkennen ihn nicht in seinem Werk. Er wiederholt den Satz und streichelt die Hände Camilles.
Für Camilles Ablehnung an der Hochschule flüstert er den Satz: »Ich bin das Versprechen, das man nicht zu halten vermag!« Da fühlt Camille einen Schauer, bis tief in den Rücken. Sie schüttelt heftig verneinend den Kopf. Nein. Nein. Sie wird ihr Versprechen einlösen. Was meint Paul?
Paul versucht einen anderen Vers.
»Wer mich hört, ist...