Kindheit und Jugend
Ich, Carl von Ossietzky, bin am 3. Oktober 1889 in Hamburg geboren; ich bin katholisch getauft und protestantisch konfirmiert – so beginnt Ossietzky 1907 einen handgeschriebenen Lebenslauf.[1]
Sein katholischer Vater Carl Ignatius von Ossietzky[2] war Sohn eines Kreisbeamten in Groß-Strehlitz, einer preußischen Kleinstadt in der Provinz Oberschlesien. Er diente über zehn Jahre als Landsturmmann in der kaiserlichen Armee[3] und zog dann – 1879 – mit seiner Mutter und seinen zwei Geschwistern in die Hansestadt an der Elbe. Dort fand er noch im selben Jahr eine Arbeit als Büroangestellter in der Rechtsanwaltskanzlei des späteren Senators und Bürgermeisters Max Predöhl.
Die Ossietzkys etablierten sich schnell in Hamburg. Das Adressbuch von 1886/87 weist Carl Ignatius bereits als Inhaber eines Milchgeschäfts und seine unverheiratete Schwester Maria Veronika als Schneiderin und Putzmacherin aus. Der Bruder Justin Leopold war Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht geworden. Die ganze Familie hatte sich in der Pastorenstraße 18 am Fuß der evangelischen (Großen) Michaeliskirche niedergelassen.
Das war im Gängeviertel, nahe am Hafen, einem der ärmsten Stadtteile Hamburgs: winzige, heruntergekommene Wohnungen in schmalen, dicht aneinandergedrängten Fachwerkhäusern mit dunklen Innenhöfen, meistens ohne Kanalisation. Hier, im Schatten des «Michel», lag die spätbarocke «Kleine St. Michaeliskirche», die 1811 auf Veranlassung Napoleons der römisch-katholischen Minderheit im protestantischen Hamburg zugesprochen worden war. Um sie herum siedelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Einwanderergemeinde an, zu der auch viele Oberschlesier wie die Ossietzkys zählten, die sich in der aufblühenden Hafenstadt eine Existenz aufbauen wollten. Man lebte in enger Nachbarschaft: Hafenarbeiter, Matrosen, kleine Geschäftsleute, Prostituierte. In diesem Viertel wütete die große Hamburger Cholera von 1892, der auch Justin Leopold von Ossietzky zum Opfer fiel.
Vier Jahre vorher hatte Carl Ignatius von Ossietzky erfolgreich seine Aufnahme in den «Hamburgischen Staatsverband» beantragt und dabei als Beruf angegeben: «Milchhändler und Speisewirth, Stenograph bei Dres Predöhl und Behn», mit einem Jahreseinkommen von 3000,– Mark.[4] Als er 1889 eine Familie gründete, war er über vierzig Jahre alt. Er heiratete die achtzehn Jahre jüngere Rosalie Marie Pratzka[5], die Tochter eines Maschinenmeisters, die ein Jahr zuvor mit ihrer Familie aus Oberschlesien nach Hamburg gezogen war und hier als Dienstmädchen arbeitete. Eine kirchliche Trauung fand nicht statt, wohl weil sie verschiedenen Konfessionen angehörten: Rosalie war evangelisch. Ein halbes Jahr später kam Carl von Ossietzky zur Welt und wurde katholisch getauft wie sein Vater.[6] Die Familie lebte weiterhin im Gängeviertel, in der Großen Michaelisstraße 10.
Als Carl Ignatius von Ossietzky 1891 an Lungenentzündung starb[7], führte seine Witwe das Geschäft weiter. Ihren zweijährigen Sohn gab sie in die Obhut seiner Tante Maria Veronika, die ihn für den Priesterberuf vorgesehen und streng katholisch erzogen haben soll.[8] 1898 heiratete die «Speisewirthin Rosalie Marie» laut Heiratsurkunde den fast gleichaltrigen Bildhauer Gustav Walther, der lutherischen Glaubens war wie sie selbst.[9] Bald darauf gab sie ihren Beruf auf und nahm ihren Sohn wieder zu sich. Er trat dann zur protestantischen Konfession über, wie er in dem Lebenslauf von 1907 erklärt: da sowohl meine Mutter als auch mein Stiefvater sich zu dieser bekennen.[10] Vielleicht war es die Beliebigkeit, mit der ihm Erwachsene ihr Glaubensbekenntnis aufdrängten, die ihn später zum Freidenker und Gegner jeder konfessionsgebundenen Erziehung werden ließ.
Ossietzky war ein «Schulversager», der es nie zu einem richtigen Abschluss[11] brachte; ein Träumer, der gern Schriftsteller oder Schauspieler werden wollte. Mit neun Jahren habe er zeitweilig die Schule geschwänzt, ist überliefert, bis ein Polizist ihn auflas und nach Hause brachte: «Seit Tagen hatte er beobachtet, wie der Junge in den Vormittagsstunden mit einem riesigen Buch, tief versunken, in den Anlagen herumspazierte.»[12] Er war ein eher stilles, nachdenkliches Kind, zart von Gestalt und zurückhaltend gegenüber seinen Altersgenossen und ihren handfesten Spielen.
Er habe seine Sommerferien manchmal in Posen verbracht, berichtet der polnische Journalist Hudes über Ossietzky, der ihm 1931 erzählt haben soll: Ich bewegte mich in dem annektierten Land wie ein Übeltäter, mit dem Gefühl von Mitschuld, und ich fühlte, wie sehr mich die Leute hassen mußten. […] Mir ist es gelungen, doch zwei Leute kennenzulernen, ein Verhältnis zu ihnen zu bekommen, und ich erinnere mich ganz genau noch heute an ihre Vornamen: Wanda und Stefan. Wir freundeten uns an. Während der Sommerferien habe ich mich mit der polnischen Geschichte befaßt, und von da an wurde ich ein entschlossener Freund Polens.[13]
Der Junge aus dem Gängeviertel war wohl ziemlich fehl am Platz in jener renommierten privaten Rumbaum’schen «Mittelschule» in der Kampstraße, in der ihn Senator Predöhl 1896 untergebracht hatte. Dort wurden Bürgersöhne auf kaufmännische Berufe vorbereitet. Sie lernten vor allem neue Fremdsprachen und die naturwissenschaftlichen Fächer, die Ossietzky gar nicht lagen. Der Schuljunge der wilhelminischen Zeit sei nicht mehr gewesen als ein geduldiges Requisit, von oben bis unten vollgestopft mit Logarithmen, hat er später einmal geschrieben.[14] Auch eine Polemik von 1924 gegen den Standesdünkel deutscher Akademiker spielt deutlich auf eigene Schulerfahrungen an: Die Geschichte der Begabungen ist die Geschichte der schlechten Schüler […]. Gleicht nicht der Weg eines begabten jungen Menschen zu Zeiten dem Ritt übern Bodensee? Er träumt vor sich hin, Melodien im Kopf, nicht Thesen und Formeln und Paragraphen […].[15]
Nach acht Jahren ging Ossietzky von der Schule ab. Mit Unterstützung Senator Predöhls besuchte er dann noch drei Jahre das Privatinstitut Dr. Goldmann und ließ ein intensives Einpauktraining über sich ergehen, bevor er sich in die staatliche Prüfung für das «Einjährige» wagte, die er jedoch nicht bestand.[16]
Bei den Vorermittlungen zum «Weltbühne»-Prozess von 1931 erklärte Ossietzky, er habe das «Einjährige» erworben und 1905 eine Kaufmannslehre begonnen. «Dort hielt er es jedoch nur etwa zwei Jahre aus», weiß die Anklageschrift von 1931 zu berichten, «und wandte sich dann der Journalistik zu, da er sich als Kaufmann nicht wohl fühlte und sich mehr für Literatur interessierte.»[17]
Über seinen tatsächlichen Werdegang schwieg er sich vor Gericht lieber aus. In Wirklichkeit hatte er sich 1907 – nach einem erneuten misslungenen Anlauf zur «Einjährigen»-Prüfung – um eine Stelle beim Amtsgericht Hamburg beworben, weil es für mich von größter Wichtigkeit ist, bald ins praktische Leben eintreten zu können[18]. Er wurde zunächst abgelehnt, durfte dann aber dank der Fürsprache von Senator Predöhl an einer schriftlichen Eignungsprüfung teilnehmen, die er mit «genügendem, fast gutem Ergebnis» absolvierte.[19] Am 1. Oktober wurde er denn auch «nicht fest angestellter Hilfsschreiber» mit einem Jahresgehalt von 360 Mark. Nebenbei bereitete er sich ein weiteres Mal auf das «Einjährigen»-Examen vor, zu dem er jedoch gar nicht mehr zugelassen wurde.
Die eintönige Arbeit in der Schreibstube des Amtsgerichts ging ihm nicht leicht von der Hand. «Derselbe ist wenig befähigt», bescheinigte ihm ein Qualifikationsbericht von 1908. «Er ist aber genügend anstellig u. verwendbar. Die Handschrift bedarf noch der Besserung.»[20] Man ermahnte ihn, ein «Mindestpensum an Schreibarbeit» zu liefern, und drohte mit Entlassung.[21] Zwei Jahre später fiel die Beurteilung viel besser aus: «Ist für den Bureaudienst recht gut befähigt und kann mit jeder Arbeit betraut werden. […] Die dienstliche Führung ist tadellos.»[22]
Ein ehemaliger Kollege Ossietzkys, Hans Eggers, der ihm drei Monate Pult an Pult gegenübersaß, beschreibt ihn «als einen mittelgroßen, beweglichen, nervösen und etwas zerfahrenen Menschen, der […] bisweilen heftig gestikulierend, seine Ideen in der Arbeitspause entwickelte. Er war ein freundlicher, hilfsbereiter, gern gesehener Kollege.»[23] 1910 wurde Ossietzky aus der allgemeinen Schreibstube des Amtsgerichts in die des Grundbuchamtes versetzt.
Zu Hause fühlte er sich ziemlich unwohl, wenn man den Zeilen glauben darf, die er 1918 aus dem Felde an seine Frau richtete, weil sie einen Streit mit seinen Eltern hatte: Ich bin ja aufgewachsen in einer Atmosphäre von Zwiespalt u. Zänkerei u. Klatsch. […] Sie haben mir meine Jugend vergiftet; […][24] Die Mutter habe versucht, das Leben Ossietzkys zu beherrschen, als er längst erwachsen war, behauptet Maud von Ossietzky in ihren Erinnerungen.[25] Über den Stiefvater (der sich übrigens nach 1933 in rührender Weise um sie gekümmert hat) weiß sie nur Gutes zu berichten: Er soll Ossietzky politisch erzogen, ihm die Sache der sozialistischen Arbeiterbewegung ans Herz gelegt...