Vorwort
Warum lesen wir Biografien? Möchten wir uns an dem Kolorit einer vergangenen Zeit erfreuen? Suchen wir nach allgemeingültigen Zeugnissen des Menschlichen, die noch heute unser Herz berühren? Oder betrachten wir das Leben historischer Persönlichkeiten im Spiegel der Geschichte, weil es uns hilft, nachfolgende Ereignisse in einem klareren Licht erscheinen zu lassen? Vielleicht stellen wir uns diese Fragen, wenn wir vor die Entscheidung gestellt sind, ob wir zu den Lebensbeschreibungen dreier Brüder greifen sollen – Werner, Wilhelm und nun auch Carl Siemens. Durch den Bau von Telegrafenlinien und die «Verkabelung der Welt» haben sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Grundstein für eine Firma gelegt, die bis heute ihren Namen trägt.
Alle drei waren in der Enge eines Mecklenburger Pachtguts groß geworden und machten verschiedene europäische Hauptstädte zu ihrem Wohnsitz: Werner, der Älteste, der nach dem frühen Tod der Eltern viel Verantwortung für seine verwaisten Geschwister übernahm, ging nach Berlin, wo er 1847 mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske die «Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske» gründete. Wilhelm setzte nach London über. Carl verschlug es nach St. Petersburg. Unter drei verschiedenen Kronen würden sie durch den Aufbau eigener Landesgesellschaften der «Firma Siemens» zu dem aufsteigen, was man als wohlhabende und angesehene Bürger bezeichnet.
Wilhelm starb als Wissenschaftler und Ingenieur, als «Sir William», britischer Staatsbürger, Ehrendoktor der Universität von Oxford und Mitglied der Royal Society; nach seinem Tod wurde er sogar durch ein Fenster in der Abtei von Westminster geehrt. Werner, der geniale Erfinder, hatte wohl immer ein wenig gefürchtet, dass ihm sein jüngerer Bruder die Show stehlen könnte; als 1888 Wilhelms Leben «von einem wohlbekannten englischen Schriftsteller, Mr. William Pole, in großer Ausführlichkeit und mit gewissenhafter Benutzung aller ihm zugänglichen Quellen» beschrieben wurde, setzte er sich deswegen umgehend daran, selber seine «Lebenserinnerungen» zu verfassen. Er spornte Carl an, seinem Beispiel zu folgen. Carl, der von den dreien der Pragmatischste war und sich zudem zeitlebens in den Schatten seines um 13 Jahre älteren Ersatzvaters gestellt hatte, konnte der Idee allerdings wenig abgewinnen.
Um Memoiren «der Welt mundrecht zu machen», schrieb er ihm an einem regnerischen Sommertag 1890 von seinem Landgut Gostilitzy bei St. Petersburg, «muss entweder die Person derselben schon an und für sich sehr interessant sein oder sie muss bedeutende belletristische Talente besitzen, von welchen bei mir leider keine Spur vorhanden ist. Ich werde mich nur blamieren und mir außerdem noch den Schein der Aufdringlichkeit aufladen.»
Dabei hätte er einiges zu erzählen gehabt. Seine Biografie, die nun, mehr als ein Jahrhundert nach der in Gostilitzy verfassten Absage, von dem Historiker Dr. Martin Lutz verfasst worden ist, beginnt in der revolutionär aufgeladenen Atmosphäre des deutschen Vormärz; von dort entführt sie uns in ein längst untergegangenes Land, das Reich der russischen Zaren. Kutschfahrten werden unternommen, Hofschranzen machen ihre Honneurs, eine Telegrafenlinie führt an die Schauplätze des Krimkriegs, Flüsse werden überbrückt und Steppen durchquert. Man leidet unter «Hundeklima», im Kaukasus wird eine Kupfermine errichtet, Banditen schießen, ein Kabelschiff dampft über das Meer, und 1884, pünktlich zum orthodoxen Weihnachtsfest, wird der Newski-Prospekt in St. Petersburg zum ersten Mal elektrisch «illuminiert». Die Gesichter eines Vielvölkerstaats haben sich unter den neuen Lampen gedrängelt, hungrige und satte, und es mag gut sein, dass das eine oder andere Gesicht in der Revolution von 1905 wieder auftauchen wird, als die Unruhen mit einem Generalstreik in den Fabriken und Manufakturen ihren Anfang nehmen.
Heute telefonieren wir oder schicken uns E-Mails, und von unseren Gesprächen bleibt wenig erhalten. Manchmal frage ich mich, auf welche Informationen Historiker in der Zukunft zurückgreifen können, wenn sie sich mit Personen unserer Zeit beschäftigen wollen. Das neunzehnte Jahrhundert kannte als Kommunikationsmittel lange Zeit nur den Brief, und auch die neuen Telegramme würden in ausgedruckter Form ihren Weg auf Sekretär und Schreibtisch finden. Carl und seine Brüder haben eine umfangreiche Korrespondenz hinterlassen, und so erfahren wir auch einiges von den Beziehungen, Situationen und Schicksalsschlägen einer Familie zu dieser Zeit – einer Zeit, in der der Tod gegenwärtiger gewesen ist als heute. Dabei erhält das Bild der scheinbar bedingungslosen Bruderliebe, das der patriarchalische Werner in seinen «Lebenserinnerungen» gezeichnet hat, einige lebensechtere Farbtupfer. Da wird verhandelt und ermahnt, gestritten und gezankt, man wünscht sich Pech und Schwefel an den Hals, um sich am Ende doch noch irgendwie zusammenzuraufen.
Carl sollte es sein, der von den drei Brüdern die meisten Jahre im Dienst des Familienunternehmens verbrachte. Seine Mobilität erinnert an den Lebenslauf moderner Manager, die durch eine globalisierte Welt gehetzt werden. Das von ihm aufgebaute Russlandgeschäft sicherte der «Telegraphen-Bauanstalt» nach ihrem Zerwürfnis mit dem preußischen Staat für mehr als zehn Jahre das Überleben. Und es war Carl, der, nach dem Tod seines Bruders Werner, mit dessen Söhnen die Firma 1897 in eine Aktiengesellschaft umwandelte und dadurch die Voraussetzungen schuf, um im Wettbewerb mit der rapide über den Kapitalmarkt expandierenden AEG von Emil Rathenau bestehen zu können.
So ist seine Geschichte auch die Geschichte des Ursprungs eines Konzerns, der Technologiesprünge initiierte und durch sie zu den führenden Unternehmen in Bismarcks Reich aufstieg. Die Technologiesprünge waren der Bau von Telegrafenlinien über Land und unter Wasser sowie, später, die Erzeugung von Licht und elektrischem Strom; wie die Technologiesprünge der Internet-Unternehmen von heute würden sie das Gesicht unserer Welt verändern. Es ist die Geschichte von Entwicklern im Hinterhof und ihres Betriebs, der mit Großprojekten zu einer international aktiven Firma wuchs. Eine international aktive Firma, als Infrastrukturdienstleister abhängig von den Aufträgen verschiedener Nationalstaaten, die sich in der Industrialisierung bald gegeneinander aufrüsteten. Eine Firma, die in Russland gedieh, beinahe englisch geworden wäre und deren Schicksal seit der Verankerung des Hauptsitzes in Berlin endgültig an das des deutschen Staates gekettet sein würde.
Wo anfangen, wo aufhören? Nobilitiert vom letzten Zaren Nikolaus II., stirbt Carl von Siemens 1906 in Menton. Ist damit seine Geschichte zu Ende? Oder lebt sie in der Bedeutung weiter, die seine Unternehmungen für Deutschland und, vor allem, für Russland gehabt haben? Bleiben wir noch für einen Augenblick bei Russland und den Siemens-Werken dort, die, zusammen mit der AEG, einst die Elektroindustrie des Zarenreichs dominiert haben – schließlich sind sie doch Carls Werk.
Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs wird die russische Niederlassung zwei einheimischen Geschäftsführern unterstellt, Leonid Borissowitsch Krasin und Alfred Schwartz. Krasin ist ein früher Weggefährte Lenins, der im Berliner Exil bei den Siemens-Werken hat Karriere machen dürfen, freilich unter der Auflage, sich sämtlicher politischer Aktivitäten zu enthalten. Alfred Schwartz, ein Deutschstämmiger mit russischem Pass, arbeitet schon lange für die Firma; wahrscheinlich wird ihn Carl noch persönlich gekannt haben. Während des Krieges werden die russischen Siemens-Werke mitsamt ihrer Geschäftsführung unter die Kontrolle der zaristischen Regierung gestellt, verdienen gut am Krieg und können sogar expandieren; nach der Oktoberrevolution jedoch werden sie enteignet. Die englischen Siemens-Werke hat schon vorher dasselbe Schicksal ereilt; in London wird Sir Williams Fenster in Westminster wieder abmontiert und verschwindet im Depot.
Während der ersten Jahre der Weimarer Republik ist Leonid Borissowitsch Krasin das Bindeglied zwischen Siemens und der sich herausbildenden Sowjetunion. Da die Weltrevolution ausbleibt, sehen sich die neuen Machthaber in Moskau gezwungen, in der Isolation einen eigenen sozialistischen Staat aufzubauen. «Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes», jubelt Lenin und überträgt die Verantwortung dafür ausgerechnet an Krasin und Schwartz. Da die Sowjetregierung für die Umsetzung ihres Wirtschaftsprogramms auf den Import von Maschinen aus kapitalistischen Ländern angewiesen bleibt, kann Siemens, auch aufgrund dieser Kontakte, wieder in Russland aktiv werden.
Während des ersten Fünfjahresplans wird die Sowjetunion zu einem gewaltigen Importeur von Industriegütern. Sie finanziert ihren Bedarf teilweise über Kredite, teilweise aber auch dadurch, dass sie den verhungernden Bauern das Getreide wegnimmt, damit ihre Arbeiter in den Rohstofffabriken versorgt und den Überschuss gegen Devisen im Ausland verkauft. «Es ist ein Grundsatz der im Siemens-Konzern vereinigten Firmen», schreibt Adolf Franke, Vorstandsvorsitzender von Siemens & Halske, schon 1924 an den...