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Charakterisierung der Hagenfigur im Nibelungenlied mit Fokussierung seiner Handlungsmotive

AutorSimon Baar
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl87 Seiten
ISBN9783640950973
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Germanistik - Ältere Deutsche Literatur, Mediävistik, Note: 1, Universität Augsburg, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Arbeit untersucht unterschiedliche Handlungsmotive der Figur 'Hagen von Tronje' im Nibelungenlied und deren graduierte Bedeutung hinsichtlich des jeweils weiteren Handlungsverlaufs.

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Leseprobe

3) Hagens Handlungsmotive

 

a. Grundmotivationen

 

Einführend sollen zum einen solche Beweggründe zusammenfassend geklärt werden, die sich aus Hagens formellen, aber auch emotionalen Bindungen ergeben, zum anderen jene Motive, die aus dem systemischen Kontext, dem Hagen entspringt, zu erwarten wären.

 

Wie bereits analysiert, wären von Hagen vasallentypische Handlungen anzunehmen, die aus seinem (pseudo-)offiziellen Status heraus motiviert sein sollten: Doch Hagen scheint diesen Aufgaben nur nachzukommen, wenn er seinen persönlichen Nutzen daraus zieht. So gibt er während des Nibelungenliedes lange Zeit seine Position als Ratgeber nicht auf, allerdings gibt er  sein Wissen nur gezielt Preis und instrumentalisiert es, um sich seine truchsessengleiche Stellung zu sichern. So handelt er als Truppenkommandant, Heerführer (…), als Reisekämmerer der Burgunder[146], aber auch als Ferge und Sprecher für seinen König. Auffällig ist, dass er nur solche Positionen erfüllt, die ihn nahe dem Zentrum des Geschehens sein lassen, den bereits erwähnten Botengang, welcher ihn aufgrund der geographischen Entfernung der Einflussnahme auf das Geschehen berauben würde, lehnt er schlichtweg ab.

 

Interessanter als seine formellen Einbindungen, sind die überaus ambivalenten Beziehungsgeflechte, die er mit den Personen in seiner Umgebung eingeht:

 

Als Burgunderkönig könnte Gunter die uneingeschränkte Loyalität von Hagen erwarten und einfordern. Inkludiert wäre dabei nur die Königsfamilie, was Hagen mit der Zurechtweisung Kriemhilds verdeutlicht: Sie ist durch ihre Verbindung mit Siegfried aus diesem Kreis ausgeschlossen worden. Sie selbst scheint allerdings nicht zu bemerken, dass sie von nun an zu einem anderen Hof gehört und Siegfried glaubt sich sogar bis zu dem Moment, da ihn der Speer durchdringt in Freundschaft mit Hagen. Dieser dagegen entscheidet in höchstem Maße individuell, wem gegenüber seine Treue Gültigkeit besitzt: So wird während der Reise zu Etzels Hof urplötzlich Volker zu seinem Busenfreund und längst vergangene Bindungen aus Hagens Jugend werden heraufbeschworen. Der Auslöser für das Gemetzel am Tisch von Etzel wird von Dankwart, seinem Bruder, hereingebracht und die Entscheidung von Hagen getroffen: Über die Köpfe der fast apathisch zusehenden Könige. Und dass Hagen auf dem Schlachtfeld mit Rüdeger paktiert, ist die Klimax der Freiheiten, die er sich selbst zugesteht.

 

Problematisch bei Hagens scheinbar willkürlichen Einzelhandlungen ist das Finden eines roten Fadens der Grundhandlungsmotivation. Letztlich scheint dieser darin angelegt zu sein,  dass Hagen einem anderen Personentypus angehört, als alle anderen Burgunder. Er ist verhaftet in einer alten, im Vergleich zu seinem Umfeld antiquierten Lebensweise, die für den mittelalterlichen Hörer noch befremdlicher angemutet haben dürfte als für den modernen Leser, für den beide Lebensarten ungewohnt sind. Denn während Gunter, seine Brüder und alle anderen Handlungsträger des Nibelungenliedes von höfischem Brauchtum geprägt sind, bleibt Hagen der heroischen beziehungsweise archaischen Lebensführung treu. Die daraus entspringenden Regeln und Verhaltensmuster bilden die Grundlage für seine Motive. Doch begnügt sich Hagen nicht damit, dieses Heroentum selbst zu leben, sondern er oktroyiert es mit all seinen Konsequenzen seiner Umgebung, sowohl durch die Dominanz seiner Person im Allgemeinen, als auch im Einzelnen durch die Durchgeplantheit seiner Handlungen. Auf diese Art gelingt ihm nicht nur die Manipulation seines Herrschers, sondern auch die Beeinflussung der Handlungsstrukturen seiner Gegenspieler.

 

Es prallen im Nibelungenlied folglich zwei Welten aufeinander, wobei die Vertreter des alten Heroismus nur aus der Stärke ihrer Erfahrung heraus über das moderne Höfische triumphieren kann, da sich letztgenanntes noch im Selbstfindungsprozess zu befinden scheint und durch die eigene Inkonsequenz geschwächt wird. Trotz alledem soll an dieser Stelle kein völliger Sieg Hagens herbeigeredet werden, denn bei aller Voraussicht und Klugheit ist sein Tod alles andere als heroisch verlaufen: Nicht nur, dass Kriemhild ihre Rache bekommt und ihn mit dem Schwert des nunmehr Gerächten enthauptet (was mehr ist, als sie hoffen durfte und erst Recht mehr, als Hagen gewollt haben konnte), so dürfte es für Hagen wie auch für die damaligen Hörer ungeheuerlich[147] gewesen sein, dass eine Frau den tödlichen Schwertstreich ausführt.

 

Und das Nibelungenlied selbst kommt zu dem gleichen Urteil: Es gibt keine gerechte Strafe für den Verräter wie im Rolandslied des Pfaffen Konrad[148] und auch kein glückliches Ende, wie es den Artusrittern der mittelhochdeutschen Dichtungen widerfährt, das Nibelungenlied endet im Leid aller Beteiligten:

 

Ine chan iv niht bescheiden waz [415a] sider da geschach,

 

wan ritter vnd vrowen weinen man da sach,

 

dar zv di edeln knehte, ir lieben frivnde tot.

 

da hat daz mære ein ende: diz ist der Nibelunge not.[149]

 

Und in dieser Nibelunge not ist Hagen, der den Nibelvngen ein helflicher trost[150] war, eingeschlossen. Er ist der Verursacher des Leides[151] und alle Personen um ihn herum wissen es, dennoch wird sein Tod von Hildebrand gerächt[152]. Sogar die „Klage“, die Hagen die Alleinschuld für den Burgunder Untergang zuweist, lässt ihn neben seinen Herren beerdigt werden:

 

Hagen der starke

 

und sîn geselle Volkêr

 

und Dancwart der recke hêr,

 

die wurden dô alle drî

 

ir herren gelegt nâhen bî.[153]

 

 Letzten Endes prallen zwei Lebensarten aufeinander, eine moderne auf eine anachronistische und sie sind nicht kompatibel, zumindest nicht konfliktfrei oder problemlos. Die Handlungen, die der jeweils eigenen Kausalität entspringen, interferieren zu einer Finalität, die mit der Nibelunge not endet.

 

b. Hauptmotive

 

Die Hauptmotive der Figur Hagens lassen sich bei einer Untersuchung seiner Handlungen herausfiltern und unterscheiden sich von den Grundmotivationen durch ihre Individualität. Zwar entstehen sie natürlich aus dem systemischen Hintergrund, in dem die Rolle angelegt ist und der mit den Grundmotivationen beschrieben werden kann, doch kann nur mittels einer Analyse dieser Beweggründe versucht werden, die Tiefe der Charakterkonzeption zu erfassen. Die Fokussierung auf die in den folgenden vier Unterpunkten genannten Motive erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll weder in ihrer Reihenfolge noch ihrer Ausarbeitung hierarchisch oder mit einer Wertigkeit verbunden verstanden werden. Die einzelnen Punkte könnten anders genannt und gewichtet werden, doch dient die folgende Kategorisierung einer in sich selbst logischen Zusammenfassung der Motive, die im Zusammenhang mit Hagens Handlungen in variabler Form wiederkehren.

 

i. Macht und Demonstration von Macht

 

Ein wichtiges Motiv, sowohl für Handlungen als auch als Reaktion auf Handlungen, ist das der Macht. Die beinahe grotesk, zumindest aber verzerrt wirkende Verteilung selbiger am Wormser Hof, im Gegensatz zu den hochmittelalterlichen Normen, eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit des Richtungsweisenden Handelns durch Hagen. Dass die Struktur der gesamten Handlung die textimmanente Handschrift Hagens trägt, muss dieser sich allerdings erst erarbeiten. Diesbezüglich wird er zwar als der geistige Mittelpunkt[154] am Hofe Gunters eingeführt und erscheint bei einer Gesamtbetrachtung des Nibelungenliedes sogar wie eine Personifikation des Sprichwortes „Wissen ist Macht“, doch ist diese Stellung kein Selbstläufer: Siegfrieds spezifisches Wissen[155] gefährdet seine Position bis hin zu Hagens Beinahe-Überflüssigwerdung: Denn der Held aus Xanten ist mit den praktischen Fähigkeiten ausgestattet, von denen der Tronjer nur das theoretische Wissen besitzt und rückt sich damit in den augenscheinlichen Mittelpunkt. Der selbstzentrierte Siegfried schießt zwar gerne einmal über das Ziel hinaus, doch seine „Übermenschlichkeit“ in derart vielen Beziehungen gleicht diese Schwäche wieder aus – bis Hagen seine Finger ins Spiel bringt und taktisch versiert die Fehler des Xanteners gegen ihn verwendet. Er nutzt die allgemeine Verblendetheit[156] seit Siegfrieds Ankunft am Wormser Hof als Deckmantel, nicht nur für die Rückgewinnung der eigenen Macht, sondern auch für deren Festigung und Ausweitung. Allerdings bleibt ihm auch keine andere Möglichkeit, denn als Anhänger des Heroentums hat er sich als Person bei Hofe längst selbst überlebt und nur die pragmatische Nutzbarmachung seiner Erfahrung und seines Wissens aus dieser alten Zeit verhindert, dass er in der Bedeutungslosigkeit des modernen Zeitalters verschwindet. Ob sich Hagen nur durch eine Konkurrenz der Wissensträger[157] in seine weiteren Handlungsschemata drängen ließ oder ob diese in seiner grundsätzlichen Konzeption bereits angelegt war, lässt sich nicht deutlich differenzieren, fest steht dass mit Siegfrieds Ankunft am Wormser Hof dieser...

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