1. Vom Kollegen zum Vorgesetzten
„Wer gute Mitarbeiter halten will, muss zur emotional intelligenten Führungskraft heranreifen,
denn die Leute trennen sich nicht von schlechten Unternehmen, sondern von schlechten Chefs.“
Daniel Goleman
Matthias Matthau arbeitet in einem europaweit tätigen Logistik-Unternehmen, das jedes Jahr viele Millionen Euro Umsatz macht. Direkt nach dem Studium hat er dort angefangen, vor sechs oder sieben Jahren. In technischen oder betriebswirtschaftlichen Fragen kann ihm niemand das Wasser reichen, viele Kollegen fragen ihn um Rat. Auch seinen Vorgesetzten ist der kompetente Mitarbeiter längst aufgefallen.
„Und jetzt wollen sie mich zur Führungskraft machen, stellen Sie sich vor, Frau Mahler!“, sagt er, als er zum ersten Mal zu mir ins Coaching kommt. Er sagt es keineswegs erfreut, im Gegenteil: Er wirkt eher leicht verzweifelt.
„Das ist doch eine erfreuliche Nachricht, Herr Matthau“, antworte ich. „Wo liegt das Problem?“
„Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wie man führt. Deswegen bin ich bei Ihnen, Frau Mahler. Ich brauche Rüstzeug. Natürlich habe ich bei verschiedenen Projekten schon mit Leuten zusammengearbeitet, aber noch nie in allein verantwortlicher Position. Bei Motoren oder Transportplänen oder Kalkulationen fühle ich mich sicher. Da bin ich top. Doch in Punkto Führung gar nicht. Ich weiß nicht, ob ich mir das überhaupt zutrauen kann.“
„Keine Sorge“, beruhige ich ihn. „Einen hoffnungslosen Fall habe ich noch nicht erlebt – und ich arbeite seit Jahrzehnten mit Führungskräften. Fast jeder Mensch kann lernen zu führen. Aber eben: lernen – von der Pike auf! Das geht nicht von heute auf morgen. Es hat wenig mit Ihrem bisherigen Aufgabenfeld zu tun. Führen ist ein ganz eigenständiger Bereich.“
„O.k., dann bringen Sie mir es bei, Frau Mahler!“, sagt er vertrauensvoll.
Dieses Gespräch liegt einige Zeit zurück. Seither kommt Matthias Matthau an jedem zweiten Donnerstag für einige Stunden zu mir. Dann erarbeiten wir ganz dezidiert Führung. Inzwischen weiß ich, was seine Kollegen und Vorgesetzten an ihm schätzen: Er besitzt ein grandioses Fachwissen, ist unglaublich schnell im Kopf, aufgeschlossen und freundlich – eine Freude, mit ihm zu arbeiten! Immer noch rührt es mich, wenn er nach fast jeder Coaching-Sitzung voller Staunen und mit großen Augen sagt: „Frau Mahler, ich habe heute wieder so viel gelernt. Jetzt erst merke ich, was Führung wirklich ist! Was man alles dazu braucht!“
1.1 Nachwuchskräfte – der Sprung in die Führungsebene
Ich kann mich gut in Herrn Matthau hineinversetzen. Denn als mir meine erste Führungsaufgabe übertragen wurde, waren meine eigenen Gedanken und Gefühle ganz ähnlich. Ich weiß noch genau, wie ich damals dachte: „Kann ich das?! Das schaffe ich nie! Dazu bin ich zu wenig ausgebildet und nicht gut genug!“
Führung hat viele Facetten: Mitarbeiter und Kollegen müssen mich erleben als manchmal „harten Hund“. In bestimmten Situationen müssen sie wissen und spüren: „Vorsicht, das kannst du mit der Mahler nicht machen, da wird sie zur Furie und versteht gar keinen Spaß.“ Aber sie müssen mich genauso erleben als jemanden, der einfühlsam ist, sich auch mal zurücknehmen kann und sagt: „Okay, da haben Sie recht.“ Oder: „Ja, das ist Ihr Gebiet, entscheiden Sie selbst, Sie machen das bestens.“ Die ganze Klaviatur zwischen Autorität und Zugewandtheit. Führung nach dem Motto: „Ich will immer partnerschaftlich sein und bin stets und ständig auf deiner Seite, lieber Mitarbeiter“ – das geht nicht. Das wäre weltfremd und auch nicht wirklich unterstützend.
In vielem hat Führung Parallelen zur Kindererziehung. Mit Kindern muss ich sehr liebevoll umgehen, um sie überhaupt zu motivieren und zu bewegen. Ich muss ihnen auch immer wieder Grenzen aufzeigen und klare Vorgaben machen: „Bis hierher und keinen Schritt weiter!“, „Das wird so gemacht – keineswegs so!“ Diese beiden Pole gibt es auch bei der Führung.
Wenn jemand sagt: „Ich habe mich entschlossen, Führungskraft zu werden“, ist das erst der Anfang. Der erste Schritt an die Startlinie. Und dann kommt ein langer, langer Lauf- und Lernweg. Wie ein Marathon, bei dem ein Läufer denkt: „Ich gehe in die Knie, meine Muskeln schaffen es nicht mehr ... Ich werfe mich jetzt am Wegrand hin!“ Um sich dann doch wieder aufzuraffen und weiterzulaufen.
Das ist ein Prozess, der – über den Daumen gepeilt – zwei bis drei Jahre dauert. Dann stellt sich gelegentlich das Gefühl ein, in vertrautem Gewässer zu segeln: „Aha, diese Situation kenne ich, das habe ich schon erlebt – ich weiß, wie ich damit umgehe.“
Man führt andere
so gut oder so schlecht,
so gut oder so schlecht
man sich selbst führt.
1.2 Zwischen Kollegialität und Autorität
Zwei bis drei Lehr- und Wanderjahre, um einigermaßen fit for Führung zu werden. Es wäre gut, wenn Sie als neue Führungskraft in dieser Zeit im Unternehmen einen Mentor zur Seite hätten, an den Sie sich vertrauensvoll wenden können. Oder wenn Sie sich mit einem erfahrenen Kollegen ab und zu einmal in der Kantine austauschen könnten. Und fragen: „Wie hast du / wie haben Sie’s gemacht in dieser Situation? Hilft es, wenn ich mit dieser speziellen Frage zur Personalleitung gehe? Soll ich hier Härte zeigen oder soll ich nachgiebig sein? Wie soll ich mich denn Herrn X gegenüber verhalten oder gegenüber Frau Y?“ Etc., etc.
Lernen, eine gute Führungskraft zu sein, hört nie auf. Es wird bis zum Ende des Berufslebens Überraschungen geben, neue Konstellationen und Bewährungsproben. Führung erlernt sich nur in der Praxis durch Erprobung vielfältiger Verhaltens- und Interventionsstrategien.
Mir sind immer wieder Führungskräfte begegnet, die ihren Job einfach nicht beherrschten. Die herumdilettiert, sich durch den Tag und die Woche gewurschtelt haben. Nachrückende Führungskräfte sind oft begeistert von dem Gedanken, führen zu dürfen – gleichzeitig aber glauben sie, sie könnten genau so bleiben, wie sie sind. Aber das geht nicht.
Führung zu erlernen gelingt nur, wenn sich das Lernen mit der Bereitschaft verbindet, sich immer wieder auch selbst infrage zu stellen: „Wo tue ich mich schwer, was sind meine Knackpunkte, was habe ich im Umgang mit den Mitarbeitern jetzt eben verbockt – und welche Wirkung hatte das?“ Man führt andere immer so gut oder so schlecht wie sich selbst. Gute Führung funktioniert nur, wenn Sie Ihre Führungsarbeit permanent reflektieren und permanent an sich arbeiten.
Viele Unternehmen bieten inzwischen Trainee-Programme für Führungskräfte an. Ich habe selbst weit über tausend solcher Trainings durchgeführt. Da kommen Teamleiter, Gruppenleiter, Abteilungsleiter, Bereichsleiter, Geschäftsführer – manchmal auch Projektleiter, die nur vorübergehend weisungsbefugt sind. Aber niemand kann ins Training gehen oder ins Coaching und nachher sagen: „So, jetzt weiß ich, wie man führt.“ Vom Kollegen zur Führungsfigur zu reifen ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem man sich die Hörner abstößt, Tiefen und Höhen durchlebt, Hürden überwinden und Niederlagen wegstecken muss. Aber es lohnt sich – davon bin ich felsenfest überzeugt.
1.3 Warum sind Führungspositionen überhaupt so begehrt?
Nirgendwo sonst (vielleicht mit Ausnahme der Kindererziehung, wie gesagt) gibt es einen solchen Reichtum an Gestaltungsmöglichkeiten. Natürlich bringen Führungspositionen darüber hinaus auch Ansehen und Status mit sich: Ich bekomme einen Firmenwagen, habe ein größeres Büro, mein Gehalt steigt, im besten Fall trage ich einen Titel, und meine Nachbarn wissen: „Alle Achtung, der ist jetzt Abteilungsleiter bei der Firma XY.“ All das sind Statusgeschichten und Streicheleinheiten, die eine Führungsposition verlockend machen.
Führen ...
ist nicht:
Verwalten!
Eitelkeit ist für manche Menschen ein starker Antrieb. Wie viele Führungskräfte gibt es, bei denen jeder, der sie beobachtet, insgeheim denkt: „Das darf doch nicht wahr sein! Wie ist der bloß in diese Position gekommen?!“ Vielleicht war pure Eitelkeit der Anlass, sich nach oben zu boxen oder zu treten? Hauptsache, an der Spitze sitzen und glänzen können!
Eine Führungsposition innezuhaben oder sie gut auszufüllen – das sind zwei völlig verschiedene Dinge.
1.4 Aktiver Einstieg – das Kickoff-Meeting
(zurück zu Abschnitt 5.9: Offene und versteckte Drohungen – was tun?)
Stellen Sie sich vor, Sie seien eine neu etablierte Führungskraft und kommen jetzt mit Ihrem Team zum ersten Meeting zusammen. Reden Sie in diesem Meeting die Tatsache, dass Sie jetzt der Chef sind, keinesfalls klein. Also nicht: „Hätte ja jeder von euch auch werden können. Eher Zufall, dass die Wahl auf mich gefallen ist ...“ Solche Aussagen sind verheerend. Nein, Sie sind gut – deswegen sind Sie es geworden! Sie sagen also ohne Überheblichkeit, aber klar und selbstbewusst: „Jetzt bin ich Führungskraft, ich bin auch stolz darauf und freue mich natürlich darüber. Ich möchte mit euch / mit Ihnen gut zusammenarbeiten, um unser Team nach...