Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)
Industrie- und Arbeitsbeziehungen
im digitalen Wandel
Worum geht es?
Deutschland gehört weltweit zu den führenden Wirtschaftsnationen mit hohem Innovationspotential. Wie in allen Industrieländern verändern sich auch in Deutschland die Produktionsstrukturen tiefgreifend und schnell. Mit fortschreitender Digitalisierung der Produktionsprozesse entsteht eine neue Ebene der Globalisierung, deren Konturen erst langsam sichtbar werden.
Wie wir einkaufen, wie wir Musik hören, wie gearbeitet wird: Die Digitalisierung verändert unser Leben — auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Sie bestimmt mehr und mehr den Alltag und die Arbeitswelt der Menschen. Unser gesamtes Leben wird immer stärker erfasst und gestaltet. Dabei wächst der Grad der Vernetzung von Menschen, Dingen und Informationen. Daten werden immer schneller, effizienter und ressourcensparender genutzt und kommuniziert. Der digitale Wandel bietet vielfältige Chancen. Wir brauchen Mut, um diese Chancen umzusetzen. Wir dürfen aber auch die Augen vor damit einhergehenden Risiken nicht verschließen.
Auch die Arbeitswelt ist hiervon betroffen. Erste Umrisse einer digitalen Arbeitswelt 4.0 werden sichtbar. Allerdings ist der Stand der Umsetzung in den einzelnen Industriesektoren sehr zeitversetzt. Trotzdem muss bereits heute darüber nachgedacht werden, in welche Richtung dieser Weg führt.
Aus gewerkschaftlicher Sicht müssen schon heute die Folgen für die Beschäftigung und die Qualität der Arbeitsplätze diskutiert werden. Elemente einer gewerkschaftlichen Strategie im Umgang mit der Digitalisierung müssen entwickelt werden. Dazu gehört zum einen, eine grenzenlose Rationalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsprozesse zu vermeiden, und zum anderen, qualifizierte Arbeitsplätze mit guter Bezahlung in einer humanisierten Arbeitswelt zu schaffen.
Auch für Europa birgt die Digitalisierung Chancen, aber auch Risiken. Rein nationale Maßnahmen zur Gestaltung sind vielfach nicht mehr ausreichend. Die voranschreitende Globalisierung sowie die immer stärker werdende Vernetzung des europäischen Binnenmarktes fordern deshalb eine digitale Agenda auf europäischer Ebene, die über das bisherige Engagement hinausgeht.
Ökonomische und industriepolitische Rahmenbedingungen
Die Industrie war in den vergangenen Jahren der zentrale Stabilitäts- und Wachstumsfaktor der deutschen Wirtschaft. Die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung und veränderte Nachfragestrukturen haben zu immer komplexeren Beschaffungs- und Absatzmärkten, zu neuen Produkten, komplexeren Geschäftsprozessen und immer schnelleren Innovationszyklen geführt. Die Differenzierung der Kundenbedürfnisse sowie die Entwicklung von Verkäufer- zu Käufermärkten haben neue Anstrengungen initiiert, um die Kunden an sich zu binden. Neue Konkurrenzen durch ausländische Unternehmen haben auf den Märkten zu mehr Wettbewerb geführt.
Die Internationalisierung der Wirtschaft schreitet auch in Zukunft weiter fort. Demographische Herausforderungen werden das Arbeitskräftepotential verknappen, und Unternehmen müssen ihre Wirtschaftsweise mit höherer Nachhaltigkeit ausrichten. Die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten wird dadurch weiter optimiert. Damit werden sich Produktion und Arbeit in den Unternehmen Zug um Zug verändern. Die Produktion, vor allem in vor- und nachgelagerten Bereichen, wird noch stärker vernetzt.
Neue Konzepte wie die „Smart Factory“ führen zu weitreichenden Veränderungen auch für die Beschäftigten und deren Arbeitsbedingungen.
Vor knapp fünf Jahren wurde in Deutschland der Begriff Industrie 4.0 kreiert. Zunächst sah es so aus, als handele es sich um einen Modebegriff aus dem politischen Marketing. Inzwischen zeigt sich allerdings, dass Industrie 4.0 keine Eintagsfliege ist. Sie verändert die Arbeitswelt nachhaltig. Neu und prägend sind hier zwei Elemente: Es geht um die Zusammenführung aller dezentralen Anlagen zu einer digital vernetzten Welt. Cloud-Anwendungen sind der Schlüssel für dieses Element. Und es geht um die Fähigkeit, riesige Datenmengen in kürzester Zeit zu erfassen und auszuwerten, um damit Steuerungsprozesse zu optimieren.
Industrie 4.0 steht für ein neues Entwicklungsstadium der industriellen Produktion. Nach der Automatisierung steht nun die digitale Vernetzung im Zentrum. Industrie 4.0 zielt auf eine autonome und intelligente Steuerung von digitalisierten Entwicklungs-, Produktions- und Logistikprozessen. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch die Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure. Diese Vernetzung bietet uns bereits heute Möglichkeiten, schneller und wesentlich effizienter Daten zu übermitteln und miteinander zu kommunizieren. Dies wird in den kommenden Jahren erheblich an Qualität gewinnen. Nicht nur für die Industrie bietet die zunehmende digitale Vernetzung große Innovations- und Produktivitätspotentiale, sondern auch für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche.
Voraussetzungen schaffen
Grundbedingungen für eine flächendeckende digitale Vernetzung sind leistungsfähige Kommunikationsnetze und eine komfortable digitale Infrastruktur. Deshalb muss der Ausbau des Hochleistungsinternets vorangetrieben werden. Für die Industrie mit ihren komplexen Anlagen ist dabei ein hohes Maß an IT-Sicherheit unabdingbar. Zudem müssen Haftungsfragen sowie Fragen von Eigentums- und Urheberrechten geklärt sein sowie ausgewogene Datenschutzregeln erlassen werden.
Die Digitale Agenda der Bundesregierung verfolgt das ehrgeizige Ziel, Deutschland in den kommenden Jahren zu einem Motor der Digitalisierung in Europa und der Welt zu machen. Die Grundlage für eine umfassende Teilhabe an den Chancen ist ein flächendeckender Zugang zur digitalen Welt. Vertrauen in die Sicherheit und Integrität müssen auf einem hohen Niveau gewährleistet werden, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potentiale der Digitalisierung umfassend zu erschließen.
All dies wirkt sich auf die Form der industriellen Arbeit aus. Hier ergeben sich Fragen nach zeitlichen Reichweiten, Beschäftigungsperspektiven, veränderten Tätigkeitsprofilen und der Entstehung neuer Berufsgruppen. Die Digitalisierung findet heute vorwiegend in der Fertigungsindustrie statt. Aber auch Prozessindustrien, wie die chemisch-pharmazeutische Industrie, werden zunehmend erfasst. Für die Unternehmen der Branche bieten Innovationen rund um Industrie 4.0 und Digitalisierung beträchtliche Innovationspotentiale. Allerdings ergeben sich auch soziale Risiken und erhebliche Anforderungen an zukünftige Formen der Arbeitsabläufe und der Mitarbeiterkommunikation. Politische Rahmenbedingungen zur Flankierung dieser Prozesse sind hierfür eine Voraussetzung.
Es geht hier nicht allein um technischen Fortschritt. Vielmehr ermöglicht digitalisiertes Wirtschaften neue Formen von Kommunikation, Kooperation und eines zwischenmenschlichen Umgangs in einem bisher unbekannten Ausmaß.
Nach unserem Verständnis muss jedes Unternehmen seine eigene Digitalisierungsstrategie entwickeln und umsetzen. Ein Lehrbuch „Wie implementieren wir Industrie 4.0?“ gibt es nicht. Es gibt weder eine allgemein anerkannte Definition von Inhalten und Umfang noch technische Referenzfälle oder Schätzungen zu Kosten und Nutzen.
Chemie- und Pharmaunternehmen haben im Laufe der Jahre Milliarden in die Automatisierung und Informationstechnik investiert. Diese Investitionen haben die Produktqualität gesteigert und die Produktionskosten gesenkt. Die nächste Stufe der Produktivitätssteigerung wird auch in der chemisch-pharmazeutischen Industrie durch die gerade erst begonnene digitale Revolution eingeleitet. Laut einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers erkennt die Mehrzahl der Unternehmen darin ein deutliches Plus. Für die Prozessindustrie wird danach bis 2020 ein Anstieg des Digitalisierungsgrades von 21 Prozent auf 77 Prozent erwartet. Durch damit veränderte Wertschöpfungsketten wird der Informations- und Warenfluss vom Kunden über das eigene Unternehmen bis hin zum Lieferanten und zurück transparent und deutlich optimiert.
Ein Stück weit ist sie also schon da, die Digitalisierung der chemischen und pharmazeutischen Industrie, aber der größte Teil liegt noch vor uns. Deshalb weiß auch niemand, wie genau das Szenario in den Unternehmen und damit für die Beschäftigten aussehen wird.
Abwarten und zusehen wollen die IG BCE und ihre Betriebsräte hier nicht. Wir werden von Anfang an die Arbeit der Zukunft mitgestalten. Auch wenn weder das wirtschaftliche Potential noch die Auswirkungen auf die Beschäftigung präzise erkennbar sind, müssen wir uns dieser Entwicklung stellen. Diese einfach zu ignorieren und sich die alten Zeiten zurückwünschen geht nicht und macht auch keinen Sinn in einer international aufgestellten Industrie wie der Chemie- und Pharmabranche. Gewerkschaften und ihre Betriebsräte müssen erreichen, dass sichere und gute Arbeitsplätze und die Wahrung der Mitbestimmung erhalten bleiben und weiterentwickelt werden. Mit anderen Worten: Wir müssen bereits heute klare Ziele für eine unklare Zukunft entwickeln.
Die größte Herausforderung ist das enorme Tempo, mit dem die Digitalisierung voranschreitet
Beispiele hierfür sind: