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CHINA. Wie ich es sehe

AutorEgon Krenz
Verlagedition ost
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783360510440
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
China - die neue Bedrohung für die europäischen Wirtschaftsmächte? Ein Land, in dem Korruption und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind? China - die zweitgrößte Wirtschaftsnation unter Führung einer kommunistischen Partei auf dem besten Weg, die Weltmacht USA zu überholen? Land im Aufbruch oder Land des enthemmten Kapitalismus? Diese Fragen beschäftigen auch Egon Krenz. Er kennt China nicht nur aus Zeiten, als er es in politischer Funktion bereiste, sondern ist bis heute regelmäßig zu Gast, zuletzt im Oktober 2017 bei einer wissenschaftlich-historischen Konferenz. Er fuhr, wie jedes Mal, durchs Land, sprach mit Betriebsleitern und Parteifunktionären, mit den neuen Managern der boomenden Industrie, mit Studenten und Bankern, schaute genau hin. Und nimmt für sich in Anspruch, gelernt zu haben, 'nicht überheblich gegenüber anderen und neuen Wegen' zu sein. Wie sieht Chinas eigener Weg aus? Wie und zu welchem Preis erreichen die Chinesen ihr selbsterklärtes Ziel, eine 'Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand' zu sein? Welche Lasten aus Maos Reich liegen auf dem modernen China, welche Lehren zieht es?

Egon Krenz, geboren 1937, Schlosserlehre und Lehrerausbildung. Nach Besuch der Parteihochschule in Moskau von 1964 bis 1967 wurde er Vorsitzender der Pionierorganisation in der DDR und war von 1974 bis 1983 FDJ-Chef. Im Herbst 1989 wurde er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender. Heute lebt er in Dierhagen.

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Leseprobe

Parteitag, Smog und Wetter

18. Oktober 2017. In Beijing beginnt der XIX. Parteitag der chinesischen Kommunisten. Seit einer Woche erlebe ich hier als Gast der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, wie gespannt die Chinesinnen und Chinesen dieses für sie wichtige Ereignis erwarten. Leute, die ich treffe, sind zuversichtlich. Sie sind neugierig auf Kommendes. Sie wirken gelöst und ruhig. Ich spüre eine Aufbruchstimmung. Das Land ist in Erwartung. Es hat sein Festkleid angelegt: rote Fahnen mit Hammer und Sichel.

Als ich an diesem Morgen aus dem Hotelfenster schaue, bin ich enttäuscht. Schade, denke ich, es regnet. Nun haben bürgerliche Medien ihren Einstieg zum Parteitag: das Wetter. Die Korrespondenten enttäuschen mich nicht. Der Mann von der ARD meldet nach Deutschland: »Das hatte sich Chinas politische Führung anders vorgestellt. Regen und Smog an diesem Morgen in Beijing. Dabei tut man vor wichtigen Großveranstaltungen immer alles für saubere Luft und blauen Himmel. Fabriken haben extra ihre Produktion gedrosselt, Baustellen wurden vorübergehend stillgelegt – dieses Mal«, so der Fernsehjournalist abschließend irgendwie zufrieden, »ohne Erfolg.«

Nebel und Smog sind für Beijing durchaus ein Problem. Glücklicherweise ein immer geringeres. Als ich vor vier Jahren hier war, ging man noch von 58 Tagen im Jahr mit starker Luftverschmutzung aus. Jetzt sind es nur noch 23 Tage. Erst gestern erfuhr ich, dass die Regierung an einem Zeitplan für den Ausstieg aus Produktion und Absatz von benzingetriebenen Autos arbeite. Schon jetzt fahren in China mehr als eine Million Elektroautos. Die chinesische Führung unternimmt viel, damit die Umweltbedingungen gesünder werden, nicht nur in Beijing, sondern im ganzen Land. Seit 2003 gibt es Staatsplanziele für die »ökologische Zivilisation«. So heißen hier die Umweltauflagen. Die permanente Arie bestimmter Medien über Wetter und Smog in Beijing wirkt antiquiert und ziemlich nebensächlich für einen Bericht über einen Parteitag, dem internationale Agenturen Weltbedeutung beimessen.

Anders als das Wetter sind die politischen Verhältnisse in China klar und stabil. Den von den USA und ihren Verbündeten erhofften »Arabischen Frühling« im Reich der Mitte wird es nicht geben, ein Regime-Wechsel hat keine Chance.

Obwohl die Volksrepublik seit 2016 Deutschlands Handelspartner Nummer 1 ist, bleibt das in der Bundesrepublik gezeichnete Chinabild weit ab von der Realität. Antikommunismus ist eben ein beharrlich klebendes Pech. Deshalb auch die entlarvende Angst vor dem chinesischen Angebot einer langfristigen internationalen Kooperation in Gestalt der Neuen Seidenstraße1. Sie könnte eine Alternative zum gegenwärtig dominierenden Modell der neoliberalen Globalisierung sein. Aber gleichberechtigte, auf den Wohlstand aller beteiligten Länder ausgerichtete Beziehungen erscheinen im Kalkül der Neoliberalen als sozialistisch vergiftet und gehören nicht auf ihre Agenda. Was sie an China vor allem stört, ist die Kommunistische Partei. Ein China ohne diese wäre ihnen am liebsten.

Wenn sich westliche Staaten mit China arrangieren, tun sie es vor allem wegen seiner ökonomischen Stärke. Die Propaganda gegen China mag in Momenten eines kaufmännischen Interesses gedämpft sein, doch erinnert bald wieder in gewohnter Weise an die Hochzeiten des Kalten Krieges. Viele der Konflikte, die heute die Welt erschüttern, haben ihre Ursache in der Zerschlagung der Sowjetunion und ihrer europäischen Verbündeten. Was sich in den Jahren von 1989 bis 1991 vollzog, ist mit Putins Feststellung von einer »globalpolitischen Katastrophe« präzise benannt. Die chinesische Führung wertet alles, was mit der Niederlage der Sowjetunion zu tun hat, gründlich aus. Sie versucht daraus zu lernen. Für mich ist die Volksrepublik inzwischen ein Bollwerk der Besonnenheit in dieser unruhigen Welt.

China ist seit Juli 2017 größter Gläubiger der USA und Eigentümer von Staatsanleihen in Höhe von 1,15 Billionen US-Dollar. Das lässt sich auch einfacher formulieren: Die kapitalistischen USA schulden der sozialistischen Volksrepublik eine Menge Geld. Wenn ich bedenke, wie viele Erpressungsversuche seitens der Bundesrepublik es innerhalb von vierzig Jahren gegen die DDR gegeben hat, empfinde ich Genugtuung, dass China ökonomisch immun ist gegen Erpressung aus dem kapitalistischen Ausland. Normalerweise dürften doch auch die USA wissen, dass man in solcher Lage seinem Gläubiger nicht allzu vorlaut kommen, schon gar nicht mit einem Wirtschaftskrieg oder gar mit Atombomben drohen sollte.

Aus meinem Zimmer im 20. Stock des modernen Hotels im Zentrum habe ich trotz Nieselregens einen guten Blick auf die chinesische Hauptstadt. Es macht Spaß, das pulsierende Leben unten auf der Straße zu beobachten. Schon bei meiner Ankunft war mir aufgefallen, wie schick die Menschen, besonders die jungen Chinesinnen, gekleidet sind. Als ich das erste Mal in China war – im Oktober 1989 –, trugen viele noch die Einheitskleidung, welche an Uniformen erinnerte, und statt der Automassen auf den Straßen bewegten sich vorwiegend Fahrradfahrer auf dem Asphalt. Heute überlegen die Verwaltungen schon, ob künftig überhaupt noch Zulassungsgenehmigungen für Autos erteilt werden können.

Was sich so technisch anhört, ist in Wirklichkeit der Ausstieg von Hunderten von Millionen Chinesen aus der Armut.

Die zentrale Frage, die in China schon seit einigen Jahren erörtert worden war, als ich das Land 1989 besuchte, hieß: Welcher Typ von Sozialismus entspricht am besten den spezifischen Bedingungen Chinas, einem großen Land mit einer riesigen Bevölkerung, einer fünftausendjährigen Zivilgeschichte, aber einer schwachen ökonomischen Basis, und mit einem Erbe aus kolonialer und feudaler Vergangenheit?

Ende der 1970er Jahre zogen die chinesischen Kommunisten Bilanz über ihren Weg seit Gründung der Volksrepublik 1949. Nach selbstkritischer Analyse der großen Sprünge und der Kulturrevolution entschieden sie sich für eine »Politik der Öffnung und der Reformen«. Schon auf dem XII. Parteitages der KP 1982 kam erstmals die Idee von einem Sozialismus mit chinesischem Charakter zur Sprache. Sie wurde intensiv im Volk beraten, Vor- und Nachteile wurden abgewogen, bis schließlich eine in sich geschlossene Konzeption entstand, die für neue Fragestellungen nach vorn offen war und Ziele anstrebte, die das System der sogenannten westlichen Demokratien nach politischen, ökonomischen und sozialen Kriterien überragten.

In China gab es Millionen Diskussionsrunden zu der Frage: In welcher Gesellschaftsordnung wollen wir leben? »Gemeinsam diskutieren, gemeinsam planen, gemeinsam bauen und gemeinsam profitieren« – dieser Aufruf folgte der chinesischen Philosophie: Gehe voran, und andere werden dir folgen!

Die Antwort auf die Frage von 1989 ist inzwischen weltweit bekannt. Es ist der Trend hin zum Sozialismus. Und zwar einer, der zu China passt. Sein Name: »Sozialismus chinesischer Prägung«. Kein Spontaneinfall einer kleinen Elite, sondern wissenschaftlich erarbeitet mit dem Volk und für das Volk unter Führung der KP Chinas. Es gab damals vier unumstößliche Prämissen, die bis heute gelten:

Erstens: Festhalten am sozialistischen Weg.

Zweitens: Festhalten an der demokratischen Diktatur des Volkes.

Drittens: Festhalten an der Führung durch die Kommunistische Partei.

Viertens: Festhalten am Marxismus-Leninismus und den Ideen von Mao Zedong.

Der Fortschritt des Landes seitdem ist augenscheinlich. Atemberaubend das Tempo der Entwicklung. Politische und ökonomische Prozesse, zu denen Länder des Westens Jahrhunderte benötigten, absolviert China in Jahrzehnten. Ich gehöre zu den Bewunderern dieses großen Projekts, wohl wissend, dass noch sehr viel zu tun ist, bis alle Chinesen davon profitieren. Das Land ist aber in einem enormen Aufbruch. Dass es dabei auch politische, ökonomische und soziale Risiken und auch Rückschläge geben kann, gehört zu den Wahrheiten großer geschichtlicher Vorhaben. Nur wer sie nicht scheut, wird die neuen Ufer erreichen.

Ich bin mir sicher, dass die Rolle als Pionier des Menschheitsfortschritts, die im 18. Jahrhundert Frankreich mit der Revolution von 1789 und im 20. Jahrhundert Russland mit der Oktoberrevolution gespielt haben, im 21. Jahrhundert auf die Volksrepublik China übergegangen ist. Wie 1917 Lenin und seine Genossen Neuland vor sich hatten, ist in unserem Jahrhundert das chinesische Vorhaben harte Pionierarbeit. Diese Überzeugung leite ich aus Fakten ab, die ich in China kennenlernte. Ich vertraue chinesischen Verlautbarungen mehr als tendenziös zusammengestellten Materialien übelwollender Außenquellen. Hegel (1770–1831) wird wohl mit seiner Voraussage Recht behalten: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien ist der Anfang.«

Als ich an diesem 18. Oktober zum Frühstück ins Hotelrestaurant komme, macht sich auch mein unbekannter Tischnachbar, ein deutschsprechender Engländer, über das hiesige Wetter seine Gedanken. Er empfängt mich mit den Worten: »Das Wetter haben die Kommunisten doch noch nicht im Griff.«

»Auch das kommt noch«, antworte ich heiter, »heute wird erst einmal ein Zukunftskongress eröffnet.«

»So?«, fragt er verwundert.

»Ja«, sage ich, »er hat den Namen XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas.«

Mein Gesprächspartner zeigt sich über meine Antwort ein wenig verwundert. Was habe denn ein Parteitag mit der Zukunft zu tun, will er wissen.

»Schauen Sie auf dieses Land, auf den Fleiß seiner Bürger, auf seine Geschichte, auf das...

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