Auch wenn es absurd klingen mag: Im Folgenden möchte ich erklären, warum ich es für sinnvoll halte, Konflikte zu aktivieren, anstatt Konfliktvermeidung zu akzeptieren. Erst wenn sich der subtile Kampf in Form offener Auseinandersetzungen entfaltet, können sich neue Entwicklungen einstellen. Dazu ist es notwendig, dass ich den Mut habe zu benennen, wie ich in diesem Moment mit dir umgehe, innerhalb der Diskussion, die wir jetzt gerade führen. Vergangene Interaktionen zu diskutieren ist dabei ebenso wenig konstruktiv wie zukünftige. Ich habe nur dann eine Chance, mich in meinen Verletzungen zu zeigen und dich in deinen Verletzungen zu sehen, wenn ich den Blick auf das lenke, was wir in diesem Augenblick miteinander erleben.
Niemand kann einen Konflikt lösen außer die Beteiligten selbst
Das, was momentan passiert, entspricht all unseren vergangenen und möglicherweise auch zukünftigen Interaktionen, da es demselben Beziehungsmuster entspringt.
Konfliktpartner haben nur dann eine Chance, sich in ihren Verletzungen zu zeigen und zu sehen, wenn sie den Blick auf das lenken, was im Moment zwischen ihnen geschieht.
Reden wir über das, was war, oder über das, was sein wird, lenken wir von dem ab, was im Augenblick geschieht und damit von der Möglichkeit, unseren Beziehungsbeitrag in diesem Moment zu verändern. Ich möchte hingegen mit dir eine neue Erfahrung machen, eine neue Form der Auseinandersetzung kennen lernen. Eine grundlegende Bedingung hierfür liegt darin, dass ich erkenne, dass die Verantwortung für den Umgang mit meinen Konflikten ausschließlich bei mir selbst liegt. Das klingt einfach, wird jedoch in der Regel nicht praktiziert.
Einerseits gibt es immer Personen, die sich für die Konfliktmoderation verantwortlich fühlen. Die Tochter glaubt, dass ohne ihre Präsenz im Konflikt von Vater und Mutter der Vater die Familie verlassen wird. Der Kollege meint, dass ohne seine Vermittlung die Kollegin die Firma verlassen wird. Der Chef glaubt, dass ohne sein Moderieren die beiden Kollegen nicht zueinander finden werden. Die Großeltern sind überzeugt, dass ohne ihr Engagement die Reibungen zwischen den Eltern und ihren Enkelkindern nicht gelöst werden. Die Schwester meint, dass ohne ihre Hilfe ihr Bruder niemals mit ihrem Vater auf einen grünen Zweig kommen wird. Diese Reihe ließe sich unendlich fortsetzen.
Andererseits gibt es immer Personen, die ich bewusst oder unbewusst dazu einlade, sich in meine Konflikte einzumischen. So werden Kinder, Freunde, Kollegen und Eltern zu Beratern gemacht, was in der Regel nur eine Stabilisierung der Konflikte zur Folge hat. Das Problem ist, dass ich dies tue, weil ich glaube, meine Konflikte nicht alleine lösen zu können. Aber niemand kann einen Konflikt lösen außer den Beteiligten selbst. Niemand kann den ersten Schritt machen außer ich oder du. Niemand kann beginnen, von den Verletzungen zu erzählen, außer du oder ich. Und dabei können uns keine Kinder, keine Freunde, keine Kollegen helfen, ja nicht einmal Psychotherapeuten. Diese können lediglich dafür sorgen, dass ich beginne, mich meinen Verletzungen zu stellen, ohne einen Berater zu Rate zu ziehen, der dann doch nur auf meiner Seite sein soll.
Das Kreieren von Konflikträumen
Ich bemühe mich daher darum, für die Personen, die miteinander im Konflikt liegen – und im Konflikt zu sein ist kein Ausnahmezustand, sondern ein wünschenswerter Anzeiger dafür, dass wir uns entwickeln –, eigene Subsysteme zu bilden, d.h. jeweils eigene Räume zur Konfliktregulation zu schaffen. Als Subsystem bezeichne ich Teile eines gesamten Systems, die eine eigenständige Einheit bilden. Subsysteme sind beispielsweise das Paarsystem, das Elternsystem, das System der genetischen und der sozialen Eltern, Geschwistersysteme, die Frauen in einem System, die Männer in einem System, das aktuelle Familiensystem, das Herkunftssystem, aber auch das Individuum bildet ein eigenständiges Subsystem. Unabhängig von der Familie bilde ich also mit sämtlichen Beziehungspartnern, die einen eigenständigen Funktions- oder Identitätsbereich definieren, ein Subsystem. Innerhalb einer Firma sind dies dann Abteilungen, Projektbeteiligte oder Teams.
Wie kann ich nun einen Konfliktraum kreieren, innerhalb dessen ich mit meinen Konfliktpartnern eine Chance auf Konfliktlösung habe? Letzten Endes geschieht dies, indem ich die Personen, die mit meinem jeweiligen Subsystem nichts zu schaffen haben, aus dem Konfliktgespräch heraushalte. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich mich räumlich laufend abgrenzen muss. Solange es jedoch dem Sohn, der Tochter, der Schwiegermutter, dem Vater, der eigenen Mutter, der Freundin, dem Kollegen, der Chefin nicht möglich ist, sich jeglicher Einmischung zu enthalten, ist es notwendig, für die jeweiligen Zeiten, in denen wir im Konflikt liegen, den gemeinsamen Raum zu verlassen. So betreten wir dann auch symbolisch einen eigenen Konfliktraum. Ich werde mir auf diese Weise noch einmal bewusst, dass es nur noch auf mich ankommt, auf meine Art, dir zu begegnen. Ich werde mir so darüber klar, dass niemand anderer helfen kann außer wir uns selbst. Ich bin es, der damit beginnen muss, die eigene Verletzung zu verbalisieren, die Verletzung des anderen zu sehen. Das kann niemand anderer für mich und dich übernehmen.
Das ist keine leichte Aufgabe, da Beziehungssysteme eingespielten Mustern folgen, insbesondere in ihren Konfliktregulationen. Dennoch: Finden zwei Menschen nicht zueinander, dann in der Regel, weil ein Dritter dazu eingeladen wurde, das Geschehen zu moderieren.
Die eigentliche Aufgabe eines Therapeuten, Beraters oder Supervisors ist es demnach, diesen Dritten, wer auch immer das sei, aus dem Konflikt zweier anderer herauszunehmen.
Manchmal ist dieser Dritte nicht einmal anwesend und gestaltet dennoch, in Form von inneren Stimmen, das Streitgespräch. Dann redet mehr die Stimme meiner Mutter, meines Vaters, meiner Kollegin oder meines Sohnes als meine eigene.
Manchmal, und das passiert nicht so selten, werden auch Berater und Therapeuten in ihren Vermittlungsbemühungen zu diesem Dritten gemacht. Dann liegt es an ihnen, ihre Vermittlungsbemühungen so weit zu reduzieren, dass den Beteiligten das Gefühl gegeben wird, ihren Konflikt nicht nur alleine lösen zu müssen, sondern auch alleine lösen zu können. Einfach, weil da ein Dritter unerschütterlich an die Fähigkeit der Beteiligten glaubt, aufeinander zugehen zu können, und immer wieder zu verstehen gibt: »Ich kenne die Lösung für euren Konflikt nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ihr die Fähigkeit habt, eine stimmige Lösung zu entwickeln.« Vielleicht muss sogar hinzugefügt werden: »Auch wenn euch das nicht gefällt, aber nichts und niemand wird mich davon abhalten können, daran zu glauben, dass ihr über die unbewusst immer schon vorhandenen Fähigkeiten verfügt, auch dieses Problem eigenständig zu lösen.«
Die einfachste Intervention besteht also darin, für Raum zu sorgen. Wenn die Partnerin oder der Partner keinen Raum bekommt, um die eigenen Gedanken und Gefühle zu entwickeln, gebe ich ihr oder ihm einen Raum, innerhalb dessen sie oder er ungestört ihren oder seinen Gedanken, Empfindungen und Reaktionen folgen kann. Ebenso mache ich das mit dem Paarraum gegenüber dem Elternraum, dem Geschwisterraum gegenüber dem Familienraum, den weiblichen und den männlichen Räumen, dem Raum für das aktuelle Familiensystem gegenüber dem Herkunftssystem. Es gibt nahezu unendlich viele Möglichkeiten, durch wen und wie diese Räume oder Subsysteme unterwandert werden, wen und wie wir dazu einladen, stellvertretend die Konflikte für uns zu lösen.
Sie können auch fragen, wie das auf Beziehungen zu übertragen ist, in denen keine Kinder, keine Eltern, keine Freunde oder Verwandte vorhanden sind, die sich einmischen könnten. Hier geht es darum, meine inneren Elternstimmen von der eigenen Stimme, den eigenen Stimmen, zu trennen. Es sitzen sich zwar zwei erwachsene Menschen gegenüber, dennoch gehen immer auch unsere beiden Kinderseelen miteinander in Kontakt. Dadurch sitzen die Eltern oder die Erfahrungen mit meinen und deinen Bezugspersonen mit am Verhandlungstisch. Es heiraten also nicht nur zwei Personen, du und ich, sondern immer auch zwei Familiensysteme. Ebenso bilde ich nicht nur mit dir oder mehreren Kolleginnen und Kollegen ein Team, sondern immer auch mit deren Familiensystemen. Wenn ich also zwischen den Sätzen zu unterscheiden lerne, die mein Gegenüber meinen, und jenen, die an meine Eltern adressiert sind, dann geschieht im Grunde nichts anderes als das Beschriebene. Das Subsystem unserer Partnerschaft beginnt damit, die Einmischung meiner oder auch deiner Eltern – in diesem Fall ohne deren aktive Beteiligung – zu reflektieren und damit etwas zu verändern.