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E-Book

Christa Wolf

Eine Biographie

AutorJörg Magenau
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
ReiheRowohlt Monographie 
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783644310414
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Christa Wolf (1929-2011) wuchs in der Zeit des Faschismus auf, ihr Weg ins Erwachsenenleben verlief parallel zum Entstehen einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Früh wurde sie mit ihren Büchern, Reden und Aufsätzen zu einer moralischen Leitfigur - auch im Westen. Nach der Wende geriet sie jedoch als «Staatsdichterin» in die Kritik. So erzählt diese Biographie nicht nur von einer bedeutenden Autorin, sondern weit mehr: eine deutsch-deutsche Geschichte.

wurde 1961 in Ludwigsburg geboren. Er studierte an der FU Berlin Philosophie und Geschichte und arbeitete als Kulturredakteur und Literaturkritiker u.a. für die «FAZ», die «taz» und «Freitag». 1995 wurde er mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. 2002 erschien seine viel beachtete Christa-Wolf-Biographie. Jörg Magenau lebt und arbeitet in Berlin, als Autor und Redakteur von «Das Magazin».

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Leseprobe

Goldene Nüsse


Die Pflicht, glücklich zu sein: Kindheit in Landsberg


Im September 1997 besuchte Christa Wolf die polnische Stadt Gorzów Wielkopolski, die einst, als sie am 18. März 1929 hier geboren wurde, Landsberg an der Warthe hieß und zu Deutschland gehörte. Es war nicht der erste Besuch in ihrem Geburtsort nach 1945, doch nie zuvor empfand sie deutlicher, wie stark die emotionale Bindung an den Ort der Kindheit nachgelassen hatte. Die achtundsechzigjährige Schriftstellerin kehrte in eine Stadt zurück, die ihr fremd und seltsam vertraut erschien. Die Brunnenmarie, früher das Landsberger Wahrzeichen und Treffpunkt der Liebespaare, stand plötzlich wieder originalgetreu auf dem Marktplatz, obwohl sie doch in den letzten Kriegsmonaten zerstört worden war. Christa Wolf hatte sie bei früheren Besuchen schmerzlich vermisst, wenn sie auf dem leeren Platz neben der Marienkirche stand, in der sie konfirmiert worden war.

Nun, 1997, saß sie zu einer Lesung auf der Bühne des alten Stadttheaters. Der polnische Staatspräsident persönlich begrüßte sie und freute sich: «Sie gehören ja zu uns.»10 Es gab Rosen, einen Handkuss und eine Plakette. Die roten Plüschsessel im Zuschauerraum waren dieselben wie früher und wirkten ziemlich durchgesessen. Christa Wolf atmete den Staub ein, der in der Luft hing, und erkannte den Geruch wieder, den sie schon als Kind wahrgenommen hatte, als sie in der Vorweihnachtszeit ins Theater kam, um dem Märchen von der Schneekönigin zu lauschen.

Am Ende der Lesung aus «Kindheitsmuster» erhob sich ein Mann, um zu erzählen, wie er ihren Schulweg nachgegangen sei. Ein anderer kam auf die Bühne, um der berühmten Tochter der Stadt eine Tüte mit Nüssen zu überreichen, die er im Hof ihres Elternhauses geerntet habe. Christa Wolf verstand, dass dies ein symbolischer Akt sein müsse, und bedankte sich gerührt, obwohl im Garten ihres Elternhauses nie ein Nussbaum gewesen war. Später, so berichtet sie nicht ohne Humor, habe sie das Geschenk wie «goldene Nüsse aus dem Märchen» mit Andacht gegessen.11 Denn wer weiß, ob der Geschmack der Nüsse nicht doch irgendwie zur Kindheit dazugehört, selbst wenn er sich erst so spät einstellte. Nie wieder, sagte sie im Theater in Gorzów Wielkopolski, habe sie sich irgendwo so zu Hause gefühlt wie hier als Kind.

Was ist Wirklichkeit? Welche Bruchstücke der Erinnerungen – eigene und fremde – sind wahr? Und welche Bilder, auch wenn sie sich im Nachhinein verwandeln, bestimmen doch ein Leben? Zu den prägenden Eindrücken der frühen Jahre gehört zweifellos die karge, flache Landschaft der Region. Der Fluss gehört dazu, die Kiefern, die Seen, der trockene, kontinentale Sommer. Die Trauerweide hinter dem Café im Stadtpark bleibt für sie der schönste Baum auf der Welt. Und Landsberg selbst, diese «mittelgroße, eigentlich eher kleine Stadt jenseits der Oder», gibt mit der nachgemachten deutschen Backsteingotik zeitlebens das «Muster für Städte» vor, auch wenn oder gerade weil dort keine außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten zu entdecken sind. Ein anderer Hintergrund für das eigene Leben wäre für Christa Wolf jedenfalls nicht vorstellbar gewesen.12

Heimat ist ein Geschmack oder ein Gefühl und grundiert alles, was folgt. In ihrem autobiographischen Roman «Kindheitsmuster» ist Christa Wolf diesen Grundierungen nachgegangen. Über keinen anderen Lebensabschnitt hat sie sich ausführlicher geäußert als über diesen, fernstliegenden, wenn auch unter der schützenden Maske der Fiktion und versehen mit der mahnenden Vorbemerkung, alle Figuren und Ereignisse seien Erfindungen der Erzählerin. Das stimmt insofern, als alle Erinnerung mit Erfindung zu tun hat. Es ist falsch, weil der ganze Roman ein Ringen um Aufrichtigkeit demonstriert und stets auch die verschlungene Funktionsweise der Erinnerung selbst in den Blick zu bekommen versucht.

«Das Milieu, das ich in ‹Kindheitsmuster› beschrieben habe, ist authentisch», sagte Christa Wolf einmal, «die äußeren Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, kann man schon daraus abziehen.»13 Das Mädchen, das sie einmal war und das ihr nun in der Erinnerung wiederbegegnete, erschien ihr dabei jedoch so fremd, dass sie ihm einen anderen Namen gab: Nelly Jordan. Nur so, indem sie die eigene Herkunft von sich weghielt, konnte sie sich ihr nähern. Nur so ließen sich Aussagen treffen über die Kindheit im Nationalsozialismus und die Prägungen, die daraus resultierten: eine durchschnittlich angepasste, durchschnittlich glückliche Kindheit in einer durchschnittlichen Provinzstadt in einer außerordentlichen Epoche.

Berühmtheiten hat Landsberg keine vorzuweisen – außer eben Christa Wolf, der man dafür «goldene Nüsse» überreichte. Der Philosoph Friedrich Schleiermacher war einmal kurz zu Besuch, Victor Klemperer wurde hier geboren, die Familie zog aber so früh weg, dass ihm keine persönlichen Erinnerungen an die Stadt an der Warthe blieben. Klemperers Vater war Rabbiner, vielleicht ja in ebenjener Synagoge, an deren Zerstörung Christa Wolf sich in «Kindheitsmuster» erinnert. Keine zehn Jahre alt war Nelly am 9. November 1938, als die Synagoge brannte und es sie dorthin zog, weil sie unbedingt die rauchende Ruine sehen wollte. Zu ihrem Entsetzen kamen Leute aus dem abgebrannten Gebäude, Juden, die versuchten zu retten, was noch zu retten war. Was ein Rabbiner ist, wusste Nelly noch nicht.14

Gottfried Benn war während des Zweiten Weltkrieges als Offizier und Truppenarzt in der damaligen General-von-Strantz-Kaserne stationiert, die Landsberg burgartig überragte. Einhundertsiebenunddreißig Stufen hatte die Treppe, die dort hinaufführte – Benn hat sie gezählt. Für ihn war Landsberg «eine Stadt im Osten». Christa Wolf fand diese geographische Einordnung geradezu lachhaft, als sie in Benns «Roman eines Phänotyps. Landsberger Fragment» darauf stieß. Für sie als Kind begann der Osten weit weg, in Bromberg oder in Königsberg. Die eigene Heimatstadt lag wie jede Heimatstadt im Mittelpunkt der Welt. In «Kindheitsmuster» zitiert sie Benn als Beispiel für den fremden Blick, der Seltsamkeiten entdeckt, die sie nicht wiederzuerkennen vermag: «Straßen, die Hälfte im Grund, die Hälfte auf Hügeln, ungepflastert; einzelne Häuser, an die kein Weg führt, unerfindlich, wie die Bewohner hineingelangen; Zäune wie in Litauen, moosig, niedrig, nass.»15

Die elterliche Wohnung in einem Eckhaus am Sonnenplatz 5 kann Benn damit nicht gemeint haben. Am Neubau in der Soldiner Straße muss es allerdings einen Lattenzaun um den Vorgarten gegeben haben. Noch im Juli 1971, bei der ersten Reise aus der DDR zurück in die polnische Heimatstadt, kann Christa Wolf dessen Reste ausmachen. Am Sonnenplatz unterhielten die Eltern, die Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld, ihr erstes Lebensmittelgeschäft und dekorierten die Schaufenster mit Kathreiner Malzkaffee und Knorr Suppenwürsten. Hier kam 1932 der Bruder Horst zur Welt, von hier aus ging Christa, gerade sechs Jahre alt geworden, Ostern 1935 zum ersten Mal zur Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen und den Hitlergruß. Der ging ihr so sehr in Fleisch und Blut über, dass es ihr nach 1945 schwerfiel, «Guten Tag» und «Auf Wiedersehen» zu sagen. Aber auch die Lieder der Zeit – «Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren» – setzten sich hartnäckig im Gedächtnis fest. «Die Lieder sind das Schlimmste gewesen», sagt die Kinderärztin Vera Brauer aus Christa Wolfs Debüterzählung «Moskauer Novelle» zu ihrem russischen Freund Pawel. «Man vergisst sie so schwer. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man misstrauisch jeden Ton bewachen muss, der einem von den Lippen will?»16

Der Vater, Otto Ihlenfeld, ist im späteren Urteil der Tochter ein weicher Mensch.17 Weil es die Umstände erforderten, war er schon 1933 in die NSDAP eingetreten oder vielmehr sanft in die Partei hineingeglitten: Der Ruderclub, dem er angehörte, wurde im Zuge der Neuordnung der Sportvereine in die entsprechende NSDAP-Gliederung integriert. Nazis waren die Eltern aber nicht. Die Ihlenfelds gehörten zum aufstrebenden, arbeitsamen Mittelstand und waren in protestantisch geprägtem Ethos darauf bedacht, als ordentliche Mitglieder der Gesellschaft nicht aufzufallen. Die dreißiger Jahre waren für sie Friedensjahre und eine sorglose Zeit des Wohlstands. Das Geschäft ging gut. Man konnte sich eine neue, rotbraune Sesselgarnitur leisten und ein Mende-Radio statt des billigen Volksempfängers – nicht um womöglich nach verbotenen Sendern zu suchen, sondern eher aus Statusgründen. Das Radio holte Max Schmelings Niederlage gegen Joe Louis in die heimische Küche und ließ den Vater fast verzweifeln. Das Geheul des Sportreporters scheint mehr Emotionen aufgewühlt zu haben als das übliche Geschrei der Nazis, das nicht recht in die Behaglichkeit passte. Im Wohnzimmer standen ein schwarzes Buffet, ein Blumenständer, die Anrichte. Die Neubaupläne für die oberhalb der Stadt gelegene Soldiner Straße lehnte die Mutter zunächst als größenwahnsinnig ab. Am 1. September 1936 zog die Familie jedoch ins neue, weiß gestrichene Haus und verlegte auch das Lebensmittelgeschäft hierher. Christa konnte vom Fenster ihres Zimmers aus weit über die ganze Stadt, über die Seen und Wälder der Umgebung blicken.

Eine sehr frühe Erinnerung gilt...

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