Viele junge Autoren veröffentlichten ab 1995 ihre jeweiligen Debütromane und brachten damit die die zweite Welle der Popliteratur ins Rollen. Sie hatten die primäre Aufgabe, ein junges, kaufkräftiges Publikum anzusprechen und durch das Etikett Popliteratur zu suggerieren, dass ihre Bücher unterhaltsam und leicht lesbar seien.[3] Moritz Baßler sieht in Stuckrad-Barre den Meister des neueren Literatur-Pops, doch Christian Kracht war mit seinem Erstroman Faserland sein Gründungsphänomen.[4] Bevor ich Faserland wie auch Krachts Folgeromane 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten im Hinblick auf ihre popliterarischen Merkmale untersuchen und vergleichen werde, ist ein Blick auf die Entwicklung der Popliteratur von Nöten. Denn obwohl die Popliteratur erst Ende der 1960er Jahre im deutschsprachigen Raum etabliert und Teil der literarischen Öffentlichkeit wurde, ist es in der Literaturwissenschaft gebräuchlich, zwei verschiedene Phasen innerhalb der Entwicklung dieser Gattung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung nahm Poptheoretiker Diedrich Diederichsen vor und bezeichnete die Zeiträume als Pop I und Pop II.[5]
Die erste Phase, Pop I, setzt man 1968 als Leslie A. Fiedler in einem Vortrag als Erster den Begriff Popliteratur im deutschsprachigen Raum einführte und Pop als „Gegenkultur, Widerstand, Dissidenz [...], aber auch Affirmation, Warenförmigkeit, Flüchtigkeit“[6] verstand. Die Literatur dieser Zeit, deren Texte nicht sonderlich poppig im Sinne von leicht konsumierbar waren, sondern eher die rebellische Geste des Sixties-Pop übernahmen[7], definierte sich nicht als Pop I, sondern „verkörperte eben das kulturelle Wort“[8]. Auch der „Ahnherr der deutschen Popliteratur“[9] Rolf-Dieter Brinkmann bekannte sich zu dieser Pop-Darstellung, obwohl seine theoretische Positionierung über die Fiedlers hinausgeht: In Der Film in Worten preist er eine „fundamentale Vereinfachung der Sprache, reine Gegenständlichkeit, bloßes Bild, bloße Oberfläche“[10] an und veröffentlichte 1969 passend dazu das Werk ACID. Neue amerikanische Szene. Hier vereint Brinkmann „Interviews, Essays, Comics, teilweise pornographische Bilder“ amerikanischer Autoren der beat generation. In ihrer Heimat als Außenseiter aktiv, vermischten diese ihre Texte mit Sex- und Drogeneskapaden, bezogen sich auf die Popkultur und kannten kaum literarische Tabus, wodurch Parallelen zur zeitgleich blühenden Hippie-Bewegung aufkamen.[11] In Deutschland gab es zu dieser Zeit, gemeinsam mit Brinkmann, zahlreiche Autoren, die gegen ihre nationalsozialistische Vätergeneration protestierten und „einen Weg zur Befreiung in einer lustvollen, anarchistischen Popkultur suchten“[12]. Durch Fiedler und speziell Brinkmann erlangte also auch die deutschsprachige Literatur mit dem Einfluss der Beat-Poetik, mit dem subversiven „Programm einer Außenseiterszene, die sich auf die populäre Kultur bezog“[13], die Aufmerksamkeit trotz fehlender, gesellschaftlicher Akzeptanz.
In den 1970er Jahren, ließ das Interesse an Pop und Popliteratur nach. Trotzdem wurden Fiedlers und Brinkmanns Gedanken über Pop in den Folgejahren aufgenommen und „sprachkritische, satirische, ironische, dokumentarische Literaturen“[14] dazu entwickelt.
Bis in die 1990er Jahre änderten sich auch die einstigen Assoziationen, die man mit Pop in Verbindung brachte. So beginnt gemeinhin mit Faserland die zweite Welle der deutschsprachigen Popliteratur, auch Pop II genannt. Mit dem Verlust des rebellischen Gestus wurde jene Neue Deutsche Popliteratur „zu einer Unterhaltungsdienstleistung innerhalb der Kulturindustrie, Synonym für eine Art 'Easy Reading'“[15]. Dabei griff die Massenkulturindustrie subkulturelle Phänomene, also solche der einstigen Außenseiterszene, auf und machte sie populär. Insofern steht Pop II im Gegensatz zur ersten Phase der Popliteratur, bei der die Subkultur Massenphänomene aufgriff und politisch engagiert gegen Autoritäten der oberflächlichen Marken- und Warenwelt rebellierte. Pop II wurde zur „Upperclass-Prosa postadoleszenter Autorinnen und Autoren“[16], die die Postadoleszenz der jeweiligen Protagonisten zusammen mit Elementen medialer Massenkultur in den Vordergrund stellt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass zum einen die Neue Deutsche Popliteratur speziell bei der konservativen Literaturkritik auf Ablehnung stieß und zum anderen vor allem Romane jener Autoren bereit hält, die bereits vor ihrer Schriftstellerkarriere in den Medien tätig waren. Basierend auf den Arbeiten Diederichsens fassen Corina Caduff und Ulrike Vedder die Ergebnisse passend zusammen:
Wurde Pop I noch ,als Gegenbegriff zu einem eher etablierten Kunstbegriff verwendet‘ und stand ,für den von Jugend- und Gegenkulturen ins Auge gefaßten Umbau der Welt‘, so diene Pop II seit den 1990er Jahren der ,homogenisierende[n] Subsumption unterschiedlichster Phänomene aus den Bereichen Kultur, Öffentlichkeit, Medien‘ und sei geradezu ,zum begrifflichen Passepartout einer unübersichtlichen Gesellschaft‘ geworden.[17]
Trotz der deutlichen Unterscheidung zwischen beiden Popliteraturwellen ist eine klare Eingrenzung der hier relevanten Neuen Deutschen Popliteratur schwer.
Martin Fritz unternimmt den Versuch einer Definitionszusammenfassung, indem er in seiner Diplomarbeit Ist doch nur Pop. einige Literaturwissenschaftler zu Wort kommen lässt.
Laut Thomas Ernst ist Popliteratur
eine Entwicklungslinie, die sich im 20. Jahrhundert darum bemühte, die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur aufzulösen und damit auch Themen, Stile, Schreib und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen.[18]
Moritz Baßler wiederum legt den Fokus auf das „Verfahren des Archivierens von Diskursen, Gegenständen und Verhältnissen der jeweils zeitgenössischen Gegenwartsliteratur“[19].
Laut ihm
operiert der neue Archivismus [...] mit der Prämisse, daß die Kultur der Gegenwart und somit unserer Sprache [...] immer schon medial und diskursiv vorgeformt ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Literatur der zweiten Worte, die im Material einer Sprache des Immer schon Gesagten arbeitet.[20]
So wird die mediale Gegenwart enzyklopädisch zusammengestellt und ein kulturelles Archiv als größte Leistung von Pop II erstellt. Eine weitere Definition stellt Fritz von Jörgen Schäfer vor, demzufolge Popliteratur „entsteht, wenn der Autor die Pop-Signifikanten – gleichgültig, ob sie aus einem Popsong, einem Film oder einem Werbeslogan stammen – im literarischen Text neu ,rahmt'“.[21]
Trotz dieser Popliteratur-Definitionen konstatiert Fritz, dass dennoch „ein gewisser Konsens [fehle], was denn eigentlich aus welchen Gründen als Popliteratur bezeichnet werden sollte“[22]. Auch andere Definitionen, so sehr sie auch passen mögen, laufen diesbezüglich ins Leere. So beschreibt Heinz Drügh die Neue Deutsche Popliteratur als
jene ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in puncto Publikumsresonanz so ungewöhnlich erfolgreiche Orientierung jüngerer, deutschsprachiger Autoren an die Popkultur, d.h. an einer von käuflichen Gegenständen, von Marken, von Medien und nicht zuletzt von Popmusik geprägten Gegenwart [...].[23]
Laut Sandra Mehrfort zeichnet sich die Popliteratur dahingehend aus, dass sie „Alltagssprache, Popmusik, Markennamen, Stars – auf alle diese Elemente medialer Massenkultur referiert [...]“[24]. Jedoch ist es wiederum Mehrfort, die es aufgrund der unzähligen legitimen Definitionsmöglichkeiten, für notwendig hält, „sich von der Vorstellung einer absoluten Definition, die uneingeschränkt gültig sein will, zu lösen und den Zugang zu einem freieren,...