Schatten der Kindheit
Das Unheil kommt in der Nacht
Maini schläft in seinem Kinderbett. Maini, das bin ich. Sechs Jahre alt. Mit allen Vornamen heiße ich Mainhardt Maria Stani Julius-Cäsar Eduard Franciscus Hubertus. Aber mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und alle Freunde auf dem Spielplatz nennen mich nur Maini. Ich träume von der Schule, in die ich bald komme.
Plötzlich werde ich aus dem Schlaf gerissen. Es ist zehn Uhr abends. Aus der Diele unserer Wohnung in der Berliner Stierstraße dringt ohrenbetäubender Lärm. Gegenstände fallen krachend zu Boden. Zwischen lautem Klopfen brüllt jemand: »Aufmachen! Sofort aufmachen!« Ich höre Mamas Stimme: »Hilfe, Hilfe! Lassen Sie das!« Dann ein Riesenknall. Sekunden später wird die Tür zum Kinderzimmer aufgestoßen, Männer in dunklen Uniformen stürmen herein, knipsen das Licht an. Einer schreit: »Wo ist das Schwein!?«, reißt meine Bettdecke weg, wirft sie zu Boden, schaut unters Bett. Auch bei meinem kleinen Bruder Engelbert, »Engelchen« nennen wir ihn. Er fängt laut an zu weinen. Wir beide verstehen nicht, was vor sich geht.
Es ist Dienstag, der 7. März 1933.
Ich sehe durch die offene Tür, wie die fremden Männer ins Wohnzimmer stürmen, Schrank und Kommode aufreißen, in Papieren wühlen, Sachen in einen Sack stopfen. Dies und das fällt zu Boden. Manches heben sie auf, anderes lassen sie liegen, trampeln darauf herum. Meine Mutter ist ebenfalls ins Wohnzimmer geeilt, sie ruft wiederholt mit heller Stimme: »Was wollen Sie?« Einer faucht sie an: »Schnauze halten!« Ein anderer brüllt: »Wir suchen Ihren Mann! Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht. Er ist verreist, schon länger unterwegs.«
»Besser, Sie sagen jetzt, wo er ist«, schreit der Mann. Sein Gesicht ist vor Erregung gerötet. »Keine Sorge, wir kriegen das Schwein. Und dann hat er nichts zu lachen.«
Am linken Arm ihrer Uniformjacken tragen die Eindringlinge eine Armbinde mit Hakenkreuz. Vorn an ihrer Schirmmütze, die durch einen Riemen am Kinn festgehalten wird, prangt ein silberner Totenkopf. Es sind sieben, vielleicht acht SS-Männer, wie mir meine Mutter später erklärt, als der Trupp nach einer halben Stunde wieder verschwunden ist.
»Was sind SS-Männer?«, frage ich.
»Das verstehst du nicht.«
»Wieso?«
»Weil du zu klein bist.«
»Ich bin nicht klein, Engelbert ist klein.«
»Hör auf zu nerven.«
Tränen rinnen über ihr Gesicht. Ich folge ihr in die Diele, traue meinen Augen nicht. Die schwere Wohnungstür hängt schief im Türrahmen, droht umzukippen. An einer Seite ist der Rahmen aus dem Mauerwerk herausgerissen und nur noch über das Schloss mit der Tür verbunden. Die Männer hatten sich zwischen Rahmen und Mauerwerk durchgequetscht. Am Boden überall Schutt und weißer Staub. Engelchen heult noch immer. Meine Mutter drückt ihn an sich, um ihn zu beruhigen. Er schluchzt, verschluckt sich, hustet. Sie bringt uns schließlich ins Bett. Es ist Mitternacht, bis wir einschlafen.
Vorher denke ich: Warum schimpfen sie meinen Papa ein Schwein? Meinen geliebten Vater, auf den ich so stolz bin. Wenn wir in Berlin Schiffsausflüge machten, ergatterte er für uns immer die besten Plätze – hinten auf dem Freiluftdeck, genau in der Mitte. In meinem Kinderbett sehe ich ihn in Gedanken vor mir: Er trägt einen hellen Strohhut mit breiter Krempe und schwarzem Rundumband – eine »Kreissäge« nennen das die Großen. Ich selbst habe einen weißen Matrosenanzug an, mit Seemannsknoten und schwarz-weiß gestreiftem Marinekragen. Gewiss, Papa kann auch streng sein. Vor allem wenn er mittags ein Schläfchen hält und ich im selben Zimmer mit ihm schlafen soll. Ich bin ein zartes Kind, hatte Rachitis, der Kinderarzt warnte vor möglichem »Krüppeltum«. Aber ich kann mittags nicht schlafen, bin unruhig, wälze mich, was wiederum meinen Vater stört. Dann muss ich mich zur Strafe in die Zimmerecke stellen und heule. Meine Tränen hinterlassen feuchte Kleckse an der geblümten Tapete. Einmal verpasste mir Papa dafür eine Ohrfeige.
Familie Nayhauß, vorn die Brüder Engelbert (li.) und Mainhardt, um 1932
© Privatarchiv des Autors
Anderntags, man schreibt den 8. März 1933, erstattet Gräfin Nayhauß Anzeige. Der zuständige Polizeibeamte auf dem örtlichen Revier begrüßt sie mit »Heil Hitler«. Mutter bleibt bei »Guten Tag«.
»Ich möchte Anzeige erstatten.«
»Gegen wen?«
»Gegen SS-Männer, die letzte Nacht in unsere Wohnung in der Stierstraße 4 eindrangen.«
Mutter bemerkt ein Zucken im Gesicht des Polizisten. Ist ihm die Anzeige unangenehm? Befürchtet er Scherereien mit seinen Vorgesetzten? Dann sagt er: »Das kommt in letzter Zeit leider öfter vor. Nicht nur SS-Leute sind da zugange, auch SA.« Er schiebt ihr ein Formular über den Tisch. »Füllen Sie das bitte aus.«
An der Wand der mit dunklem Holz eingerichteten Polizeistube hängt ein Porträt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der hat etwa sechs Wochen zuvor, am 30. Januar, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, den Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5. März bestimmt.
Inzwischen geschehen aufregende Dinge: Das Reichstagsgebäude im Berliner Tiergarten fängt durch Brandstiftung Feuer. Der Berlin-Korrespondent des britischen Massenblattes »Daily Express«, Sefton Delmer, steht gerade am brennenden Reichstag, als der alarmierte Hitler dort eintrifft. »Er hatte seinen weichen schwarzen Künstlerhut tief ins Gesicht gezogen«, schreibt Delmer später. »Die Schöße seines Trenchcoats flatterten, als er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe des Portals Nummer II hinauf stürmte. Hinter ihm Goebbels und die Männer der Leibwache.«
Delmer, für den Chef der Leibwache, Sepp Dietrich, kein Unbekannter, fragt, ob er mit durch die Polizeiabsperrung dürfe. »Schlängeln Sie sich mit durch«, antwortet dieser. Delmer ist der einzige Journalist vor Ort.
Auch Hitler kennt Delmer. Beim Rundgang durch das teilweise noch brennende Gebäude wendet sich der »Führer« an den Engländer: »Gott gebe, dass dies das Werk der Kommunisten ist. Sie erleben jetzt den Beginn einer neuen großen Epoche in der deutschen Geschichte, Herr Delmer. Dieser Brand ist der Auftakt dazu.«
Delmer gibt später seine Story mit den Hitler-Zitaten an die Londoner Redaktion durch, glaubt an den Scoop seines Lebens. Er bekommt indes von der Zentrale die Antwort: »Wir wollen nicht diesen politischen Kram. Wir brauchen mehr über den Brand.« Die Dämlichkeit in Redaktionen ist bisweilen grenzenlos.
Von all dem ahnt der sechsjährige Maini natürlich nichts. Drei Jahrzehnte später – inzwischen selber Journalist – lernt er den englischen Reporter in Bonn kennen, ist Gast auf dessen »Valley Farm« in Suffolk, England, und arrangiert eine deutsche Ausgabe der Delmer-Memoiren mit dem Titel »Die Deutschen und ich«. Ein erstes Exemplar, das Delmer ihm zum Dank vermacht, trägt die Widmung: »For Mainhardt who is the godfather of this German edition. I hope he has as much fun in the reading of it, as I had in the writing.« Schicksalskreuzungen.
Nach dem Reichstagsbrand, Ende Februar 1933, erlässt Reichspräsident von Hindenburg eine Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat«. Wichtige Grundrechte werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt, über hunderttausend Regimegegner in der Folge verhaftet, mehrheitlich Kommunisten, aber auch andere. Die SA und die SS üben Terror aus, dringen in Wohnungen ein, stecken politische Gegner in ad hoc errichtete Isolierungslager. Das ist die politische Lage in Berlin, als am Abend des 7. März die Wohnung des Grafen Nayhauß überfallen wird.
Sein »Verbrechen«? Mit eigenem Geld hatte er im Jahr zuvor insgesamt 60000 Exemplare einer selbstverfassten Anti-Nazi-Broschüre drucken lassen, die er nun auf Vortragsreisen unters Volk bringt. Sie trägt den Titel »Führer des Dritten Reichs!« Darin sind auf eng bedruckten Seiten die Straftaten wichtiger Nationalsozialisten aufgelistet: Meineide, Betrügereien, Urkundenfälschungen, Unterschlagungen und viele andere Entgleisungen, zum Beispiel: »Georg Berressen, führender Nationalsozialist in Koblenz, vierzehn Tage Gefängnis wegen Friedhofsschändung – hatte zwischen den Gräbern mit Mädchen Geschlechtsverkehr getrieben.«
Von Vater Stanislaus unter Decknamen verfasste Anti-Nazi-Broschüre, 1932
© Privatarchiv des Autors
Wegen dieser Broschüre wird nach Graf Nayhauß gefahndet. Der aber setzt seine Vortragsreisen ungerührt fort. Das ist tollkühn. Oder leichtsinnig, wie man will. Andererseits macht er nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Mittelfristig plant er, mit Frau und beiden Kindern über die Tschechoslowakei in die USA auszuwandern. Nur ein Visum fehlt noch.
»Wenn Sie mit dem Ausfüllen der Anzeige fertig sind, unterschreiben Sie bitte noch hier«, sagt der Polizeibeamte auf dem Revier. »Haben Sie auch die Gegenstände aufgelistet, die bei dem Überfall entwendet wurden?«, fährt er fort. »Wir werden zur Beobachtung gelegentlich Streifen in die Stierstraße schicken.« Will er nur vertrösten, oder hat der Mann keine Ahnung?
Denn der preußische Innenminister Hermann Göring hat die Polizei bereits angewiesen, Übergriffe von SS und SA nicht zu verfolgen, geschweige denn, dagegen einzuschreiten. Noch zwei Mal dringen Rollkommandos in die Wohnung des Grafen Nayhauß ein – auf der Suche nach dem »Volksfeind«....