Einleitung
Sie nimmt einen großen Schluck Rotwein, stellt das Glas etwas zu schnell auf den Tisch, sodass sie fast die Hälfte verschüttet – es ist ihr drittes –, und während sie mit ihrer Papierserviette über den Tisch wischt, sagt sie, ohne aufzublicken: »Okay, verrate mir das Geheimnis!« Laura und ich kennen uns seit der Schulzeit. Wir schlugen nach dem Abitur verschiedene Wege ein, sie studierte Jura, ich Psychologie, die Abende bei Rotwein und Pizza wurden seltener, aber aus den Augen verloren haben wir uns nie.
»Welches Geheimnis?«, frage ich. Laura nimmt einen Bissen Pizza und spricht hastig und ohne vorher runterzuschlucken: »Ich will wissen, wie ich beim Sex zum Orgasmus komme. Also beim Rein-raus. So wie andere Frauen auch. Denn das klappt bei mir nicht. Es klappt einfach nicht! Ich glaube, ich bin kaputt! Also, da unten ist was kaputt!«
Laura sagt, sie wisse nicht, was sie noch tun soll. Sie und ihr Freund schlafen in allen möglichen Stellungen miteinander – schnell und langsam, zärtlich und hart, aber zum Orgasmus kommt sie so nicht.
Dass mir eine Freundin bei einem Glas Wein ihre Fragen zum Thema Sex stellt, kommt relativ häufig vor. Das passiert nicht ohne Hemmungen, höre ich dann auch oft. Schließlich bin ich Sexologin. Mit mir über Sex zu reden sei, als würde man einem Profifotografen die Schnappschüsse auf seinem Smartphone zeigen.
Aber wenn die Scham einmal überwunden ist – wie bei Laura –, ist die Erleichterung jedes Mal riesig. Denn ich kann Laura und alle anderen, die beim Sex nicht »einfach so« kommen, beruhigen. Sie sind nicht kaputt. Und vor allem keine Ausnahmen. »So wie dir geht es Millionen von Frauen«, erkläre ich, und Laura atmet geräuschvoll aus, als wäre ihr gerade eine riesige Last von den Schultern gefallen.
Was Laura beschäftigt, treibt viele Frauen um, die zu mir in die Sexualtherapie kommen. Der ausbleibende Orgasmus beim Sex und Lustlosigkeit, die nicht selten mit einem ausbleibenden oder nur schwer erreichbaren Orgasmus verknüpft ist, sind die häufigsten Themen, mit denen sich meine Patientinnen an mich wenden. Weil so viele Frauen die gleichen Fragen haben, leite ich zusammen mit meiner Kollegin Annette Bischof-Campbell eine regelmäßige Orgasmusgruppe. Dabei lernen Frauen an mehreren Abenden ihren Körper besser kennen und erfahren, wie sie ihre Orgasmusfähigkeit verändern können. Die Gruppe hat viele Vorteile: Wir können das Thema für viele Personen gleichzeitig zugänglich machen, und unter ihresgleichen merken die Frauen, dass sie mit ihren Fragen und Problemen nicht allein sind. Außerdem können sie auch von den Lernerfolgen der anderen profitieren. Wir stellen zudem immer wieder fest, dass Frauen in die Gruppe kommen, die sagen, dass sie eigentlich keine Sexualtherapie »brauchen«, aber trotzdem etwas verändern wollen.
Die Orgasmusgruppe ist für mich ein wöchentliches Highlight. Zu sehen, wie viel unsere Gespräche bei den Frauen auslösen, freut mich jedes Mal sehr. Ich bin jedoch immer wieder erstaunt, wie viel Unwissen beim Thema weiblicher Orgasmus herrscht und wie viel Unsinn sich in den Köpfen vieler Frauen dazu festgesetzt hat.
Wie stiefmütterlich das Thema Sex in vielen Bereichen des Lebens behandelt wird, habe ich spätestens dann bemerkt, als ich in der Pubertät meinen ersten Freund hatte. Zum Glück habe ich eine sehr offene und tolle Mutter, der ich meine zahlreichen Fragen zum Thema Körper und Sex stellen konnte – denn sonst gab es niemanden, mit dem ich wirklich über diese Themen sprechen hätte können. Der Aufklärungsunterricht in der Schule war alles andere als praxisorientiert, und unter meinen Freundinnen kursierten zwar wilde Geschichten vom ersten Mal, wirklich über Sex austauschen konnten wir uns aber nicht.
Auch während meines Psychologiestudiums erfuhr ich nur sehr wenig über Sexualität. Ich war jedoch schon damals überzeugt, dass Sex und Lust großen Einfluss auf unsere Psyche haben, und beschloss deshalb, diese Fragen im Rahmen meiner Abschlussarbeit näher zu erforschen. Ich schlug meinem Professor ein Thema zum Sexualverhalten der Schweizer vor. Er reagierte sehr verhalten und stimmte irgendwann zähneknirschend zu, dass ich das Thema angehen könne, wenn es mir gelänge, 500 Teilnehmer für die erforderliche Online-Befragung zu finden. Verblüffende 15 000 Antworten später hatte ich grünes Licht von ihm – und mir war klar, dass ich unbedingt als Sexualtherapeutin arbeiten möchte. Ich wollte der großen Sprachlosigkeit rund um dieses Thema etwas entgegensetzen.
Die Tatsache, dass sich 15 000 Menschen die Zeit genommen haben, meine Befragung auszufüllen, zeigt deutlich, wie groß das allgemeine Interesse an Sexualität ist.
Besonders für uns Frauen ist es höchste Zeit, unseren Körper besser kennen- und verstehen zu lernen, anstatt jahre- oder sogar jahrzehntelang fragwürdigem Halbwissen aufzusitzen, das wir aus sogenannten Frauenzeitschriften beziehen. Denn über den weiblichen Orgasmus wird viel geschrieben und es kursieren zahllose Mythen und Legenden dazu. Der wohl verbreitetste Mythos ist: Frauen können entweder vaginal oder klitoral kommen. Einige sind angeblich damit gesegnet, beim Sex allein durch Penetration zum Orgasmus zu kommen – und andere nicht. Ist das purer Zufall? Glück? Oder einfach Anatomie? Ist es Kopfsache? Eine Frage der Entspannung? Also: Wer sich nicht fallen lassen kann, kommt nicht zum Höhepunkt? Alles Quatsch, so viel sei schon mal vorweggenommen! In diesem Zusammenhang ganz wichtig: Auch der sogenannte vaginale Orgasmus – also der, der beim Sex durch Penetration ausgelöst wird – entsteht zumeist durch Stimulation von Vagina und Klitoris. Dazu aber später mehr.
Dass der weibliche Orgasmus so viele Fragen aufwirft, ist jedoch keine Seltenheit. Und dass junge, emanzipierte, neugierige Frauen wie meine Freundin Laura beim Orgasmus von »Geheimnis« sprechen, ebenfalls nicht. Ich sagte ihr an unserem weinseligen Abend: »Das Geheimnis ist kein Geheimnis. Beim Sex zu kommen ist Übungssache. Du bist alles andere als kaputt. Du musst wahrscheinlich nur ein bisschen trainieren.« Laura hatte sofort tausend Fragen. Bei einem weiteren Glas Wein erklärte ich ihr, was nun auch in diesem Buch steht. Es ist mir ein persönliches Anliegen, Frauen dazu zu ermutigen, sich intensiv mit ihrem Körper und ihrer Sexualität zu befassen. Denn Sex ist lernbar. Lust ebenfalls. Jede Frau kann vaginale Orgasmen haben. Es lohnt sich, sich mit seinem Körper zu befassen. Denn wir können ein Leben lang davon profitieren.
Beim vaginalen Orgasmus geht es nicht um Glück oder Pech, Schicksal oder richtige Entspannung, sondern um Fähigkeiten, die jede Frau besitzt, die einige aber noch nicht entwickelt haben. Denn tatsächlich kommen sehr wenige Frauen beim Sex zum Orgasmus. Nur etwa 30 Prozent erleben beim Geschlechtsverkehr mit einem Partner häufig bis immer einen Höhepunkt. Rund 60 Prozent aller Frauen finden Penetration an sich sexuell sogar wenig erregend. Das ist schade, denn durch vaginale Stimulation zu kommen ist Übungssache.
Es ist erstaunlich, dass das kaum jemand weiß. Hinter dem vaginalen Orgasmus steckt eine ganz »einfache« biologische Erklärung: Jeder Körperteil ist mit Nervenzellen und Sensoren ausgestattet, die durch eine Nervenbahn mit dem Gehirn verbunden sind. Je öfter er berührt und genutzt wird, desto stärker ist diese Verbindung. Je stärker die Verbindung, desto schneller reagiert das Gehirn, wenn dieser Körperteil berührt wird. Das bedeutet: Je dicker die Nervenbahn und je reaktionsfreudiger das Gehirn, desto intensiver die Empfindung. Weil einige Frauen die Verbindung zwischen Vagina und Gehirn selten nutzen, empfinden sie wenig beim Geschlechtsverkehr.
Die Vagina ist dann nicht trainiert – sie schläft, wurde nie »aufgeweckt«. Damit sie gut sensibilisiert ist, muss sie erst empfindsam gemacht werden, so wie jeder andere Körperteil auch. Nehmen wir zum Beispiel eine Balletttänzerin. Sie übt ihre Schritte monatelang. Die Sensoren an ihren Füßen sind viel sensibler als die eines nicht tanzenden Menschen. Auch ein Pianist muss nicht mehr auf seine Hände schauen, wenn er spielt. Seine Fingerspitzen sind hochsensibel und gut mit dem Gehirn verbunden – sie finden ihren Weg allein.
Das Prinzip des Übens gilt auch für die Vagina. Jede Frau kann die Nervenbahn zwischen Vagina und Gehirn trainieren und so ausbauen. Und das wiederum bedeutet: Es ist für alle Frauen möglich, beim Sex allein durch Penetration zum Höhepunkt zu kommen. Es bedarf allerdings etwas Training – oder genauer: eines Zehn-Schritte-Programms. Das Wissen und die Übungen, die du dazu brauchst, findest du in diesem Buch.
Ob du Single oder in einer Beziehung bist, ist dabei egal. Das Training machst du ohnehin allein. Dein Partner muss davon nichts mitkriegen, außer du willst ihm davon erzählen. Dann darf er natürlich gern parallel mit üben.
Dass so wenige Menschen davon wissen, dass der weibliche Orgasmus Übungssache ist, hat in meinen Augen mit zwei wesentlichen Dingen zu tun: Der Orgasmus der Frau wird erst seit Kurzem erforscht. Man hat sich so lange nicht mit ihm befasst, weil es ihn rein biologisch betrachtet nicht braucht. Die Frau muss keinen Orgasmus haben, um schwanger zu werden. Ob sie kommt oder nicht, ist für die Fortpflanzung relativ egal.
Zudem irritiert der Begriff »Training« wahrscheinlich in keinem anderen Zusammenhang so sehr wie bei Sex. Denn hier will niemand trainieren oder »daran arbeiten« müssen. Schon gar...