3 Theorie
3.1 Die Evolution formt unseren Geist
„In der Tat, das erste Aufflackern von Mitgefühl für uns selbst beginnt mit unserem Mitgefühl für die Tatsache, dass unser Gehirn sehr komplex ist, voller konflikthafter Motive, Wünsche und Emotionen, die oft nicht gut zusammenarbeiten.“ (Gilbert 2013, 29)
Über hunderte Millionen Jahre entwickelten unsere Vorfahren drei fundamentale Strategien für das Überleben:
Die Fähigkeit, Grenzen setzen zu können zwischen sich und der Umwelt und zwischen einem geistigen Zustand und einem anderen.
Immer wieder neu Herstellen und Aufrechterhalten einer Stabilität in einer sich stets verändernden Umwelt, um körperliche, emotionale und geistige Systeme im Gleichgewicht halten zu können.
Gelegenheiten ergreifen und Gefahren meiden lernen, um den Nachwuchs zu fördern (Hanson & Mendius 2009).
3.1.1 Die Evolution des alten und neuen Gehirns
Als Menschen wurden wir mit einem Nervensystem inklusive einem Gehirn ausgestattet, das uns erlaubt, die wunderschönsten wie auch extrem schmerzhafte Emotionen zu empfinden. Dieses Nervensystem hat sich über viele Millionen Jahre in einem evolutionären Prozess entwickelt. Diese Prozesse laufen nach bekannten Gesetzmäßigkeiten ab. Eine davon besagt, dass in evolutionären Prozessen Neues stets aus dem Alten entsteht. Gilbert betont, dass diese Gesetzmäßigkeit hervorragend mit dem buddhistischen Denken, dass alles aus bevorstehenden Bedingungen heraus entsteht, zusammenpasst. Worin liegt nun die Bedeutung dieser Gesetzmäßigkeit für die CFT und für das Verständnis der Funktionsweisen unserer unterschiedlichen Gehirnanteile?
Weil die Evolution sich nie rückwärts bewegen kann, müssen ältere primitivere Baupläne adaptiert werden, während neue hinzukommen, integriert werden und mit den alten zusammen funktionieren müssen. In der Evolution gibt es keine Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen, Risiken oder Nachteile von Adaptationen und Erweiterungen zu erkennen und rechtzeitig Baupläne entsprechend abzuändern. Dass nicht sämtliche evolutionären Errungenschaften für eine Art nur von Vorteil sind, drückt sich etwa in der Annahme aus, dass 99 % aller Arten von Lebewesen, die je existiert haben, inzwischen ausgestorben sein sollen (Gilbert 2013).
Eine Konsequenz evolutionärer Gesetzmäßigkeiten ist, dass Entwicklungen in der Evolution Kompromisse eingehen müssen. Beispielsweise führte beim Menschen das Aufrichten auf zwei Beine zwar eindeutig zu mehr Sicherheit durch eine bessere Übersicht und zu zahlreichen neuen Möglichkeiten beim Einsatz der freien Hände. Als Kompromiss für diese Vorteile muss der Mensch jedoch unter anderem schmerzhafte Bandscheibenvorfälle und einen um das Vielfache schwereren, schmerzhafteren und vergleichsweise äußerst gefährlichen Geburtsvorgang in Kauf nehmen. Interessierte finden unter anderem auf YouTube eindrückliche Animationen unter upright posture and childbirth.
Auch die Evolution des menschlichen Gehirns musste Kompromisse eingehen. Vorteile der neueren Gehirnfunktionen wie analytische, selbstreflektierende, planerische Fertigkeiten und die einzigartige Vorstellungskraft des Menschen, um an dieser Stelle nur einige wenige exemplarisch zu nennen, müssen mit den älteren Funktionen korrekt zusammenarbeiten. Das macht die Nutzung des Gehirns komplizierter und für Fehler anfällig. Weiter kann analytisches Denken beispielsweise konkretes Verhalten blockieren. Selbstreflexion kann mit Selbstablehnung einhergehen und die Fertigkeit, zu planen kann Ausdruck in zwanghaftem Verhalten finden. Die menschliche Vorstellungskraft kann die kraftvollsten, integersten und einflussreichsten Persönlichkeiten formen, die so Wertvolles wie Frieden zwischen Völkern vermitteln können. Genauso kann sie aber gepaart mit der Bereitschaft zu gewaltsamem Verhalten auch zu den verwerflichsten rassistischen Albträumen führen. Für Gilbert wie auch die buddhistische Geistesschulung ist die Stärkung des Mitgefühls jedes Einzelnen ein wichtiger Schutz in Anbetracht dieser beobachtbaren Anfälligkeit unserer Gehirnfunktionen.
In der CFT ist es ein Anliegen, die Schwierigkeiten bei neurobiologischen Abläufen zu verstehen und Klienten verständlich zu machen. Dafür ist es hilfreich, sich eine grobe und einfache Übersicht über die anatomischen Verhältnisse des Gehirns zu verschaffen. Um eine bessere Vorstellung vom menschlichen Gehirn mit seinen älteren und neueren anatomischen Strukturen zu bekommen, haben Hirnforscher sowohl einfachere als auch kompliziertere Modelle hervorgebracht. Als ein sehr anschauliches und auch für den psychotherapeutischen Rahmen geeignetes Modell sei hier das Handmodell des Gehirns des amerikanischen Psychiaters Daniel J. Siegel (2010) vorgestellt. Hinweise zu Siegels Bücher finden sich unter den Literaturempfehlungen.
Das Handmodell des Gehirns
Mit dem „Handmodell des Gehirns“ entwickelte Siegel eine einfache, anschauliche und nützliche Methode, unser Gehirn zu betrachten. Es hilft, einen groben Überblick zu schaffen über die Hirnbereiche des Hirnstammes, des limbischen Systems, des Cortex und des präfrontalen Cortex. Diese Kenntnisse sollen helfen, ein besseres Verständnis für die komplizierte Funktionsweise unseres Gehirns zu bilden. Wenn wir den ursprünglichen und natürlichen Zweck gewisser neurologischer Prozesse besser verstehen, ist es einfacher, auch gewisse Verhaltensreaktionen daraus anzunehmen und uns nicht mehr für diese verurteilen oder schämen zu müssen. Gleichsam streben sowohl die CFT wie auch Siegel an, Klienten die Handhabung ihres Gehirns durch die Vermittlung gewisser Kenntnisse von dessen Funktionsweise zu erleichtern. Im kommenden Abschnitt finden Sie eine Anleitung zum Handmodell. Sie werden erstaunt sein über die Einfachheit und Genialität dieses Modells.
Wenn Sie Ihren Daumen quer in die Handfläche in Richtung kleinem Finger legen und die restlichen Finger darüber gekrümmt über ihn legen, erhalten Sie ein handliches Hirnmodell. Ihr Gesicht befindet sich in diesem Modell vorne bei den Fingerknöcheln, während Ihr Hinterkopf beim Handrücken liegt. Unterhalb des Handgelenkes am Unterarm liegt das Rückenmark, auf dem das Gehirn sitzt. Oberhalb des Handgelenkes in der Handfläche befindet sich der Hirnstamm. Der Daumen kommt dort zu liegen, wo sich das limbische System befindet (um ein realitätsnäheres symmetrisches Modell zu bekommen, bräuchten wir eigentlich zwei Daumen). Indem Sie Ihre Finger über den Daumen beugen, kommen schließlich Cortex und Präfrontaler Cortex an ihren richtigen Platz zu liegen.
Der Hirnstamm, manchmal „Reptiliengehirn“ genannt, kontrolliert das Energieniveau des Körpers durch die Regulierung von Atmung und Herzfrequenz. Er ist somit wesentlich am Sichern unseres Überlebens beteiligt. Er bestimmt unsere Erregungszustände in Bezug auf Hunger, Sättigung und sexuelle Befriedigung und regelt auch unseren Schlaf. Von hier aus werden rasche Energiemobilisationen ermöglicht, beispielsweise in Gefahrensituationen. Zusammen mit Prozessen des limbischen und kortikalen Bereiches, die direkt über ihm gelegen sind, wird von hier ausgehend entschieden, ob wir im Angesicht von Gefahr kämpfen, fliehen, erstarren oder bewusstlos zusammenbrechen (Siegel 2010).
Das limbische System entwickelte sich vor ca. 200 Millionen Jahren bei kleineren Säugetieren und wird auch als „altes Säugergehirn“ bezeichnet. Als wichtige Bestandteile gehören der Hypothalamus mit der Epiphyse, die Amygdala und der Hippocampus zu ihm.
Im limbischen System wird anhand von Emotionen beurteilt, was uns gefällt und auf was wir uns spontan zubewegen oder was uns unangenehm ist und wovon wir uns instinktiv abwenden. Von hier aus knüpfen wir auch unsere Beziehungen und verbinden uns gefühlsmäßig miteinander (Siegel 2010).
Der Hypothalamus bildet mit der Epiphyse eine wichtige hormonale Steuerzentrale. Er beeinflusst neben anderen Hormonregelkreisen auch beispielsweise die Schilddrüsenhormone, Sexualhormone und die Cortisolproduktion. Der Thalamus ist beteiligt, wenn bei gegebenen Umständen der gesamte Stoffwechsel auf höchste Alarmstufe gestellt wird und die dazu notwendige Energie blitzschnell mobilisiert wird. Bei Klienten mit traumatischen Erfahrungen oder chronischem Stress kommen in der Regulierung dieser Hormonpegel Störungen vor. Beispielsweise kann dann in eigentlich harmlosen stressfreien Situationen durch Reize oder sogenannte Trigger ein Alarm ausgelöst und der Cortisolpegel hochgeschossen werden (Siegel 2010).
Der Amygdala wird die wichtige Funktion der Angstregulierung zugeschrieben. Sie kann einerseits blitzschnelle Überlebensreaktionen auslösen, ist aber auch bei langsamer ablaufenden Angstreaktionen beteiligt (Siegel 2010).
Der Hippocampus integriert neuronale Feuerungsmuster und verwandelt die jeden Moment gemachten Erfahrungen in Erinnerungen (Siegel 2010). Körperwahrnehmung, Impulse und Gefühle werden mit Gedanken, Interpretationen und Beurteilungen, also kortikalen Funktionen verknüpft, geordnet und gespeichert. Interessant ist das Zusammenspiel der Amygdala mit dem Hippocampus als Lieferant von Erinnerungsdaten potenziell gefährlicher Situationen. Ein stetiges Vergleichen gegenwärtiger Erfahrungen mit vergangenen aus der Datenbank der Erinnerungen bildet die Basis der Gefahrenerkennung der Amygdala (Siegel 2010).
Der Cortex, die Hirnrinde oder das „neue Säugergehirn“ vergrößerte sich bei den Primaten und besonders beim Menschen so...