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E-Book

Couchsurfing in China

Durch die Wohnzimmer der neuen Supermacht

AutorStephan Orth
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492992824
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie ticken die Menschen in China? Drei Monate lang erkundet Couchsurfer Stephan Orth das Reich der Mitte: vom Spielerparadies Macao im Süden bis nach Dandong an der Grenze zu Nordkorea, von Shanghai bis in die Krisenprovinz Xinjiang. Er besucht Hightech-Metropolen, die mit totaler Überwachung experimentieren, und abgeschiedene Dörfer, in denen fürs Willkommensessen der Hund geschlachtet wird. Er wird als Gast einer Live-Fernsehshow zensiert und tritt fast einer verbotenen Sekte bei. Dabei wird immer deutlicher, wie sich das Leben hinter den Kulissen der neuen Supermacht gestaltet, welche Träume und Ängste die Menschen bewegen: Und plötzlich wirkt das schwer durchschaubare China viel weniger fremd, als man vermutet hätte.

Stephan Orth, Jahrgang 1979, studierte Anglistik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Journalismus. Von 2008 bis 2016 arbeitete er als Redakteur im Reiseressort von SPIEGEL ONLINE, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Für seine Reportagen wurde Orth mehrfach mit dem Columbus-Preis ausgezeichnet. Er ist Autor des Nr.1-Bestsellers »Sorry, wir haben die Landebahn verfehlt«. Bei Malik erschienen seine Bücher »Opas Eisberg«, die SPIEGEL-Bestseller »Couchsurfing im Iran«, »Couchsurfing in Russland« (ausgezeichnet mit dem ITB BuchAward), »Couchsurfing in China«, »Couchsurfing in Saudi-Arabien« und zuletzt sein England-Reisebericht »Absolutely ausgesperrt«. Er lebt in Kyjiw und Hamburg.

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Leseprobe

Millionäre im Jogginganzug


Vier Wochen später lande ich auf dem Flughafen Macau, einem mit sechs Gates eher kleinen Vertreter seiner Zunft. Aus Platzmangel befindet sich die Rollbahn auf einer 3600 Meter langen künstlichen Insel im Südchinesischen Meer, ein bisschen fühlt es sich so an, als würde man auf einem Flugzeugträger landen. Im Vergleich zu den anderen Passagieren komme ich mir ziemlich groß, blond und blauäugig vor. Und nicht besonders fu, denn viele tragen Uhren oder Handtaschen, die ein Vielfaches von meinem Flugticket kosten.

Alles strömt zu den bunt bedruckten Gratis-Shuttlebussen, auf denen »Wynn Palace«, »Venetian« oder »Grand Lisboa« steht. Das Glück sollte man nicht warten lassen, warum erst ins Hotel, wenn einen der öffentliche Nahverkehr direkt an den Spieltisch bringt? Wobei die meisten Casinos sowieso über integrierte Riesenhotels mit allem Schnickschnack verfügen. Konsequente Zocker müssen also gar nicht mehr raus in die jetzt neblig-trübe, frühlingswarme Realwelt.

Ich hatte acht potenzielle Gastgeber angeschrieben, von denen sieben laut Online-Profil beruflich mit Casinos zu tun haben. Ich hoffte, von ihnen Tipps zu bekommen, wie ich schnell und unkompliziert steinreich werde. Die achte war May, sie kann Casinos nicht ausstehen, und nur sie lud mich ein. Auch die Gastgebersuche ist ein Glücksspiel.

Aus ihrem Profil weiß ich, dass sie 25 Länder bereist hat, in der Personalabteilung einer Fluggesellschaft arbeitet und den Filmemacher Wong Kar-Wai verehrt. Ihr Lebensmotto hat mir gefallen: »Sei wie ein Kind, aber nicht kindisch.«

Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, bis ich sie treffen kann, also nehme ich den Bus ins Grand Lisboa. Die Casinos scheinen mir ein guter Ausgangspunkt auf dem langen Weg zum Chinaversteher zu sein: Geld und Aberglauben haben hier einen hohen Stellenwert, am Spieltisch müssten die Leute also ganz in ihrem Element sein. In Festlandchina ist Glücksspiel verboten, deshalb ist der Andrang enorm.

In Macaus Spielhallen verdichtet sich auf engstem Raum die rasante Entwicklung Chinas der letzten 30 Jahre. Die Chance jedes Einzelnen auf einen plötzlichen Aufstieg bei gleichzeitiger Umdeutung der kommunistischen Ideale. Irrwitzige Erfolgsaussichten, aber auch beträchtliche Risiken. Und das Ziel, die weltweite Führungsrolle zu übernehmen: Der Umsatz der Casinos in Macau liegt knapp fünfmal so hoch wie der in Las Vegas. Chinas Sonderverwaltungszone ist so groß wie Norderney, verfügt aber pro Kopf über das dritthöchste Bruttoinlandsprodukt der Welt.

Direkt neben dem Flughafen passiert der Bus die Baustelle einer Metro-Linie mit fahrerlosen Triebzügen, die in ein paar Monaten eingeweiht werden soll. Und ein nagelneues Fährterminal mit 19 Anlegern und 127 Passkontroll-Schaltern. Allein hier hofft man auf 30 Millionen Besucher pro Jahr. Ein weiterer Passagierhafen befindet sich ein paar Kilometer nördlich.

Die Stadtplaner wollen Touristen, die so sind wie die Mah-Jongg-Steine an einem dieser modernen vollautomatischen Tische: Es rumpelt und rattert ein bisschen, dann öffnet sich eine Luke, und sie stehen in einer Reihe parat, damit das Spiel ohne Verzögerung beginnen kann.

Bald kann ich über ölig schimmerndem Wasser die beleuchtete Skyline der Macau-Halbinsel ausmachen. Deutlich sticht das neue Grand-Lisboa-Casino zwischen den anderen Wolkenkratzern hervor, ein Gebäude, das es fertigbringt, trotz Blütenform und Goldbeleuchtung so bedrohlich zu wirken wie ein riesiger Rachegott aus Beton und Glas.

Der Bus hält an. Durch eine Schiebetür betrete ich eine parfümierte Eingangshalle, an der Rezeption gebe ich meinen Rucksack ab. Auf flauschigen roten Teppichen steht ein Spieltisch neben dem anderen, hauptsächlich Baccara und das chinesische Würfelspiel Sic Bo. Dazu kommen endlose Reihen von Slotmaschinen, die »Dancing Lion« heißen und »Mighty Dragon«, »Golden Goddess« und »Lucky Empress«. Halbkugelförmige Überwachungskameras hängen an goldenen Galgen, in messingfarbenen Geldautomaten und Mülleimern spiegeln sich ihre Benutzer, alles schimmert und blinkt, verheißt und verspricht. Einen Dresscode gibt es nicht, weshalb ungehemmtes Leute-beobachten gleich hinter Unfassbar-reich-Werden der zweitbeste Zeitvertreib im Grand Lisboa ist.

Ohne Anspruch auf empirische Genauigkeit stelle ich fest: Anzugträger haben die schlechtesten Manieren, Männer im Trainingsanzug kompensieren durch besonders hohe Einsätze, und ein NBA-Basketball-Muscleshirt zur Breitling-Armbanduhr ist genauso in Ordnung wie die Hello-Kitty-Handtasche als Zwischenlager für Jetons im Wert einer Dreizimmerwohnung. Ich beobachte einen jungen Mann im Kapuzenpulli, keine 25 Jahre alt, häufig gähnend, der 15 000 Hongkong-Dollar pro Spiel setzt, etwa 1500 Euro (aus irgendeinem Grund werden hier Hongkong-Dollar verwendet und keine Macau-Pataca). Schwungvoll knallt er abwechselnd seine Jetons und die spielentscheidende Karte auf den Tischbezug.

Nach drei erfolglosen Baccara-Runden in Folge hat er keine Chips mehr vor sich liegen, nur noch die Kreditkarte, und mit der erhebt er sich nun langsam und schlendert zu den Umtauschschaltern. Ich schlendere zum Ausgang, um ein Taxi zum verabredeten Treffpunkt zu nehmen.

Am Südende der Ponte da Amizade, der Freundschaftsbrücke, steige ich aus. Die Straßen tragen noch immer portugiesische Namen, obwohl die meisten Menschen Kantonesisch sprechen. 440 Jahre lang war der Stadtstaat eine Kolonie Portugals, erst seit 1999 gehört er wieder zu China.

Eine junge Frau in einem schwarzen Trägerkleid mit Blumen-Applikationen und strenger weißer Bluse kommt auf mich zu und winkt. Ich werde nie verstehen, warum sich Menschen, die weniger als einen Meter voneinander entfernt stehen, mit einem Winken begrüßen. Aber da denke ich wohl sehr europäisch, in Asien gibt man sich nicht so gern die Hand.

»Hallo May, schön dich kennenzulernen!«, sage ich und winke mit leichter Verzögerung zurück.

»Ebenso! Ich hoffe, du kommst nicht nur zum Spielen«, sagt sie.

»Was hast du gegen die Casinos?«, frage ich.

»Die machen die Stadt kaputt. Viele Einheimische gehen gar nicht erst zur Uni, weil die Jobs als Croupier lukrativer sind. Und die ganzen Neubauten sind nicht gut für die Tierwelt. Im Winter kommen seltene Vögel aus Sibirien hierher. Wegen der Lichtverschmutzung werden es jedes Jahr weniger.«

Wir gehen an einem Wachposten vorbei und gelangen in ihre Wohnsiedlung, die aus zwölf fast identisch aussehenden Hochhäusern, einem Außenpool und einem Kunstrasen-Tennisplatz besteht. Zwischen griechischen Säulen erreichen wir einen Eingang mit poliertem Marmorboden, neben den Aufzügen hängt ein goldgerahmtes Ölgemälde, das eine Cellistin zeigt und ein wenig schief hängt.

Die Wohnung im achten Stock wirkt ähnlich feudal, mit teurem Parkettboden, Ledersofas und einem Riesenfernseher. Auf dem Balkon hängt eine Haushälterin Wäsche auf. May lebt hier mit ihrem Bruder, den ich aber nicht zu Gesicht bekomme. In einer Ecke steht eine Vitrine voller Pokale und Plaketten, Auszeichnungen für besondere Leistungen in der Schule.

»Alles deine?«, frage ich.

»Etwa die Hälfte«, sagt sie, aber ihr Lächeln, halb bescheiden, halb stolz, deutet an, dass sie untertreibt.

»Ich war ein ›Goodie Goodie‹.«

»Ein was?«

»›Goodie Goodie‹. Eine Schülerin, wie Lehrer sie lieben, ich hatte immer die besten Noten.«

Oft reibt sie sich beim Sprechen am Kinn oder nickt andächtig, was sehr gebildet wirkt. Sie ist 28 und spricht ein perfektes amerikanisches Englisch, ein paar Jahre lang hat sie in Portland, Oregon, Linguistik studiert.

Durch die riesige Küche führt sie mich in ein kleines Zimmer, das für die nächsten zwei Tage meines sein wird. Darin stehen ein Bett und ein paar Regale mit Wasserkochern, Bügeleisen und Putzzeug.

Wir nehmen ein Taxi in die Altstadt von Taipa, die nur ein paar Gehminuten vom größten Casinoviertel entfernt liegt. Taipa ist eine von ursprünglich drei separaten Inseln Macaus, die inzwischen durch Landgewinnung und Brücken verbunden wurden. Mangels hoher Gebäude trägt sie nichts Sichtbares zur Skyline bei. Dafür gibt es urige enge Gassen mit Kneipen und Shops, die Mandelplätzchen, Kräutertee und Zigaretten mit absurden Markennamen anbieten.

Wir erreichen einen herrlichen Park, in dem zwischen Feigenbäumen Frösche quaken und Zikaden zirpen. »Das ist Macau. Ein Mix aus alt und neu, natürlich und künstlich, Schönheit und Irrsinn«, sagt May. Sie deutet auf die blinkenden Spieler-Hotels. »Vor ein paar Jahrzehnten war das alles noch Meer.« Wo einst Austernfischer die Einzigen waren, die täglich ihr Glück auf die Probe stellten, wurden für die Casinos mehrere Quadratkilometer Land künstlich aufgeschüttet.

Über dem Park wacht eine goldene Statue des portugiesischen Dichters und Abenteuerreisenden Luís Vaz de Camões, der im 16. Jahrhundert eine Zeit lang als Offizier in Macau lebte. Ob er ein Spieler gewesen sei, frage ich halb im Scherz. »Er reiste damals mit Schiffen zwischen Europa und Asien – das ist so ähnlich wie spielen, aber eher russisch Roulette«, antwortet sie.

Der golden angestrahlte Camões hält das Haupt gesenkt, als könne er den Anblick der Casinos nicht ertragen, und eine Hand ist mit abgespreizten Fingern vorgestreckt, wie zu einem ewigen stummen Vorwurf. Was habt ihr bloß aus meiner Stadt gemacht.

»Die berühmte portugiesische saudade, eine...

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