Einleitung
Die nahezu völlige Zerstörung Coventrys im Jahr 1940 gehört zu den bekanntesten Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich war die historisch und industriell bedeutende Stadt in Mittelengland fast zwei Jahre lang, von August 1940 bis Juni 1942, Angriffen der deutschen Luftwaffe ausgesetzt. In dieser Zeit erlebten die 240000 Einwohner Coventrys ihren eigenen »Blitz«. Doch die vielen anderen Menschen weltweit, die bei dem Namen Coventry immer noch das Bild einer über Nacht zerstörten Stadt vor Augen haben, denken an den massiven zwölfstündigen Bombenangriff vom 14. auf den 15. November 1940. Viele wissen nicht einmal, dass die Stadt auch davor und danach bombardiert wurde und dass bei diesen anderen Angriffen mehr Bewohner umkamen als in jener Novembernacht.
Gleichwohl stellt dieser eine Angriff für die Bewohner der Stadt bis heute eine zentrale Erfahrung dar, und er ist das Kernelement der Legende, die sich um die Stadt und ihre Rolle bildete. Dass diese Legende von der Kriegspropaganda der britischen Regierung zum eigenen dauerhaften und erheblichen Vorteil gepflegt wurde, macht das Schicksal der Stadt nicht weniger grausam – ein Schicksal, das damals besonders schockierend war, weil Bombenangriffe in der Vorstellung der Öffentlichkeit nach wie vor zumindest in gewisser Weise mit den »eigentlichen« Kampfhandlungen auf dem Boden in Verbindung gebracht wurden.
So war es Ende September 1939 im Falle der polnischen Hauptstadt Warschau gewesen, die sich im Belagerungszustand befand, als die deutsche Luftwaffe mit ihren Angriffen schreckliche Zerstörung anrichtete. Und auch als im Mai des folgenden Jahres die historische Altstadt von Rotterdam in Schutt und Asche gebombt wurde, wollten die Deutschen die niederländische Hafenstadt damit zur Kapitulation zwingen. Selbst die vereinzelten Bombenangriffe auf London in den ersten Wochen der »Luftschlacht um England« und natürlich die Angriffe auf Luftwaffenstützpunkte und einzelne Fabriken entsprachen noch dieser gängigen Vorstellung. Dass Flugzeuge feindlichen Anlagen und Einrichtungen aus der Luft Schaden zufügen konnten, stand außer Zweifel. Schon im Ersten Weltkrieg und insbesondere in den letzten beiden Kriegsjahren hatten beide Seiten solche Angriffe für legitim erachtet, obwohl sie wiederholt entsetzliche Kollateralschäden unter Zivilisten anrichteten. Allerdings hatte sich die Zerstörungskraft dieser zunächst als legitim geltenden Luftangriffe durch Fortschritte in Militärtechnik und Bewaffnung im folgenden Vierteljahrhundert enorm vergrößert (was ihre moralische Rechtfertigung eigentlich hätte erschweren müssen).
Der erste große Angriff auf Coventry durch mehr als 500 deutsche Bomber, die ein neu entwickeltes Funkpeilsystem nutzten, um ihr Ziel zu orten, stellte sowohl quantitativ als auch qualitativ eine prinzipielle Veränderung der Luftkriegführung dar und warf eine ganz grundsätzliche Frage auf: Wie viel Schaden darf sowohl zivilen als auch militärischen Zielen unterschiedslos zugefügt werden, ohne dass die angebliche Legitimität einer solchen militärischen Methode in Zweifel gezogen werden muss? Nach dem großen Angriff auf Coventry war klar, dass Luftangriffe nicht mehr nur taktischen und unmittelbaren, sondern auch strategischen und langfristigen Zielen dienten. Direkte militärische Erfordernisse, die traditionell als legitime Rechtfertigung gegolten hatten, waren dabei nicht mehr unmittelbar relevant. Welche Fabriken oder Einrichtungen konkret beschädigt wurden, war immer noch wichtig, hatte aber in einem Bombenkrieg, bei dem nicht mehr die sofortige Ausschaltung feindlicher Anlagen, sondern die langfristige Zermürbung des Feindes im Vordergrund stand, an Bedeutung verloren. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Schutz der Zivilbevölkerung – der schon immer ein eher zweifelhafter Grundsatz gewesen war – unvermeidlich fast völlig aufgegeben.
Der schiere Schock und die Neuartigkeit des Angriffs auf Coventry trugen zur Entstehung mehrerer Legenden bei. Die hartnäckigste lautet, die Stadt sei »geopfert« worden: Angeblich wurde auf Churchills Betreiben nichts unternommen, um die Luftverteidigung Coventrys zu verbessern, weil die unschätzbar wertvolle Tatsache, dass die Briten verschlüsselte deutsche Funksprüche lesen konnten, um jeden Preis geheim gehalten werden sollte. Durch einen solchen Funkspruch, so die Legende, war die britische Regierung im Voraus über den Angriff informiert, nutzte die Information aber nicht, um die Zerstörung Coventrys zu verhindern, weil sie fürchtete, der Feind könne dadurch erkennen, dass sein Nachrichtenverkehr entschlüsselt wurde.
Die Regierung erfuhr offenbar tatsächlich (wenn auch nur sehr kurz zuvor) von dem Angriff. Dennoch wirft die Theorie, die Stadt sei »geopfert« worden, eine ganze Reihe von Problemen auf: Zunächst einmal erfuhr die Regierung gar nicht durch entschlüsselte Nachrichten, sondern durch die klassische Geheimdienstmethode der »human intelligence« (also aus menschlichen Quellen) von dem geplanten Angriff. Zweitens wurden durchaus Maßnahmen zum Schutz der Stadt getroffen, nur waren diese weder leicht erkennbar noch erfolgreich. Drittens entschied sich die Regierung tatsächlich dagegen, Coventry vor dem Angriff zu warnen. Doch diese Entscheidung hatte höchstwahrscheinlich nichts mit »Ultra«, der ultrageheimen Entschlüsselung des deutschen Funkverkehrs, zu tun, sondern beruhte ausschließlich auf der nüchternen Abwägung zwischen dem möglichen humanitären Erfolg einer Warnung und dem Risiko einer dadurch ausgelösten Panik.
Hartnäckige Legenden sind häufig Folge großer Katastrophen, und ganz besonders gilt das für verheerende Bombenangriffe. Wie ich bei den Recherchen für mein Buch über die Bombardierung Dresdens erleben musste, ist es sehr schwer, solchen Geschichten zu widersprechen, wenn sie sich erst einmal im kollektiven Bewusstsein der Überlebenden festgesetzt haben. Dabei spielt ohne Zweifel der desorientierende Schock solcher Ereignisse eine Rolle. Sie brechen über das friedliche Alltagsleben ziviler Opfer herein, von denen die meisten zuvor keine Erfahrungen mit den Schrecken des Krieges gemacht haben. Tatsächlich können die Überlebenden es als unverschämt und sogar als beleidigend empfinden, wenn ein Historiker eine alternative Darstellung vorlegt.
Genau wie die Bewohner Dresdens waren auch die Menschen in Coventry durch das gleichmäßige Tempo des modernen Lebens mit seinen als selbstverständlich erachteten Sicherheiten und seiner scheinbaren Vorhersehbarkeit kaum auf die Zerstörung vorbereitet, die so plötzlich vom Himmel kam. In früheren Jahrhunderten waren Städte wenigstens über den Anmarsch des Feindes informiert und hatten Zeit, sich psychisch und physisch auf den Angriff einzustellen. Auch konnten sie sich natürlich auf Kapitulation oder Flucht vorbereiten. Demgegenüber gab es im modernen Luftkrieg für den einzelnen Zivilisten keinen solchen Trost, wie schwach auch immer er sein mochte; die Zerstörung, die ein Bombenangriff anrichtete, erfolgte augenblicklich und war fürchterlich. Es ist immer faszinierend und aufschlussreich, wenn auch grausam, sich mit den Empfindungen vom Krieg heimgesuchter Menschen zu befassen. Und im Falle von Zivilisten ist dies aus den oben erwähnten Gründen besonders interessant.
Ich selbst bin in den 1950er Jahren in anständigen, aber bescheidenen Verhältnissen am Rand einer wohlhabenden englischen Stadt aufgewachsen und erlebte einen Schock des Wiedererkennens, als ich die vielen lebendigen Berichte betroffener Bürger aus der Innenstadt und den Vorstädten Coventrys las. Das mit einem Schlag unterbrochene Leben, das sie schildern, gleicht bis auf ein paar unwesentliche Details dem meiner frühen Kindheit in einem Nachkriegsengland, das vor der nahezu universellen Ausbreitung des Fernsehens und des Autos und vor der Wir-hatten-es-noch-nie-so-gut-Konsumgesellschaft dem England vor dem Krieg noch sehr ähnlich war.
Es geht in diesem Buch deshalb nicht nur um eine Stadt, die von den neuen und immer verheerenderen Errungenschaften der Militärtechnik heimgesucht und verwüstet wurde. Solche Städte gab es viele in Europa und, mit zunehmender Dauer des Krieges, insbesondere in Deutschland. Es geht auch um eine Lebensweise, eingefangen im Augenblick ihrer Auflösung. Als traditionsreiche, historisch bedeutsame Stadt und als schnell wachsende Boomtown der Rüstungsindustrie war Coventry ein ganz besonderer und seltener Ort. Tatsächlich sollte es nach dem Krieg trotz seiner Zerstörung noch ein weiteres Vierteljahrhundert eine florierende Stadt bleiben, bis hinter den chronischen Symptomen der britischen Industrie die tödliche ökonomische Krankheit sichtbar wurde, die sich so lange dahinter verborgen hatte. Eine Eigenschaft freilich, die Coventry besessen hatte und deren es sich nach dem 15. November 1940 nicht mehr rühmen konnte, war die, »eine wirklich alte und malerische Stadt« zu sein. Dies sind die Worte J. B. Priestleys, des bekannten britischen Schriftstellers, der Coventry 1933 besuchte – in dem Jahr also, in dem Adolf Hitler an die Macht kam. »Ich wusste, dass es eine alte Stadt ist«, schrieb er, »dennoch war ich überrascht, wie viel aus der Vergangenheit in stolz ragendem Stein und geschnitztem Holz noch in der Stadt erhalten war.«1
Obwohl die modernen Stadtplaner die besten Absichten verfolgten, wurde Coventry nach dem Krieg zum Inbegriff brutaler und seelenloser Sanierung, eine Entwicklung, die die Schrecken von Coventrys »Blitz« noch verschärfte.
Im November 2015 ist es 75 Jahre her, eine mehr als biblische Lebensspanne, dass Coventry die schlimmste Nacht des beinahe zweijährigen Martyriums erlebte, das die Stadt der barbarischsten...