Woche 1:
Rollmops.
Die erste Sünde
STATUS-REPORT:
Mission: Abnehmen
Programmdauer: 1 Jahr
Woche 1 von 12 der »Fastenphase«
Kalorien täglich: 900
Verstöße gegen Fastendisziplin: 1
Ausgangsgewicht: 185,4 kg
Aktuelles Gewicht: 178,4 kg
Veränderung: –7,0 kg
Ich gestehe. Ich hab’s getan, die Tat geschah aus den niedrigsten Beweggründen, aus Lust und nackter Gier. Und aus Schwäche, dem elendesten Motiv von allen. Ich habe mich von einem Glas Rollmöpsen überwältigen lassen. Mea culpa. Mea maxima culpa. Doch der Reihe nach.
Seit einer Woche ernähre ich mich flüssig, von einer Art Milkshake – ohne echte Milch, natürlich, die wäre zu fett, hätte zu viele Kalorien. Drei Mal täglich, möglichst regelmäßig alle vier bis fünf Stunden, reiße ich zwei der silbrig glänzenden Beutel auf, die mir die Ärzte verordnet haben, schütte das Nahrungsersatzpulver darin in einen Plastikbecher mit Deckel, kippe 200 ml Wasser hinterher, schraube den Becher zu und schüttle alles kräftig. Es ergeben sich Shakes in den Geschmacksrichtungen Schoko, Erdbeere und Vanille, die ich kalt trinke; die Geschmacksvariante Kartoffel/Lauch, die ich mit weniger und warmem Wasser anrühre, löffle ich wie eine Fertigsuppe.
Drei Monate soll das jetzt so gehen, und was soll ich nach den ersten Tagen sagen? Es scheint, als habe das Leben seine Fülle verloren, seine Textur, seinen Crunch. Für ein Blatt Salat würde ich töten; das macht wenigstens ein Geräusch, wenn man hineinbeißt. Sogar die Farben der Dinge um mich herum kommen mir wie ausgewaschen vor.
Die Entbehrung fällt deshalb so drakonisch aus, weil dadurch mein innerer Esstisch, wenn Sie so wollen, völlig abgeräumt und dann neu gedeckt werden soll. Ein ganzes Jahr lang, immer dienstags, gehe ich jetzt in ein Programm, das ein Krankenhaus in meiner Stadt ambulant anbietet, ins Adipositas-Zentrum dort, eine spezielle Einrichtung für Adipöse, Fettleibige, früher auch »Fettsüchtige« genannt, und ja, dass ich zu denen gehöre, war lange Zeit nicht ganz einfach einzusehen, und es jetzt so hinzuschreiben fällt noch immer schwer.
Während dieser Zeit soll ich nicht nur Pfunde hinter mir lassen. Ich soll lernen, anders zu essen und mich fleißiger zu bewegen. Das ist mehr als eine Diät, es ist eine Neuprogrammierung meines Verhaltens. Ein neues Betriebssystem.
Begonnen habe ich plangemäß mit der zwölfwöchigen Fastenphase, in der ich ausschließlich die Formula-Shakes zu mir nehmen soll, die meinem Organismus so wenig Kalorien zuführen, dass der gar nicht anders kann, als erheblich Gewicht herzugeben. Danach soll ich acht Wochen an eine ausgewogene Mischkost herangeführt werden. Die übrigen Wochen bis zum Jahresende schließlich soll ich dazu nutzen, mich an meine Re-Education zu gewöhnen.
Helfen bei meinem Vorhaben werden eine junge, ausgesprochen schmale, ernste Ärztin, eine kleine Truppe von höchst sportlichen Bewegungstherapeutinnen, eine gut gelaunte Psychotherapeutin und eine schnuckelige Ernährungsberaterin, die zwar nur etwa 1,60 Meter groß ist, das aber ausgleicht, indem sie sich rhythmisch auf den Fußspitzen wiegt, wenn sie etwas Wichtiges vorträgt. Gymnastik, Nordic Walking und dergleichen Dinge sind vorgesehen, sogar zwei Kochabende und ein Ausflug in den Supermarkt, um das korrekte Einkaufen zu lernen. Gut dreitausend Euro kostet das Jahr all-inclusive, von den Beuteln für die Shakes bis zum regelmäßigen Blutbild. Das zahlen die meisten Krankenkassen nicht oder nur teilweise.
Man sieht schon, Zielgruppe dieses Angebots sind nicht Leute, bei denen Hemd oder Bluse ein wenig spannen, sondern stark Übergewichtige, genauer: Menschen mit einem sogenannten Body-Mass-Index von über 30. Falls es Sie interessiert, der BMI ist die moderne Variante des Modells vom »Normal-« und »Idealgewicht«, mit dem ich aufwuchs und das Sie vielleicht ebenfalls noch kennen, und errechnet sich nach der Formel Körpergewicht in Kilo durch (Körpergröße in Meter hoch zwei). Jemand mit 1,65 Metern Körpergröße und 110 Kilogramm Gewicht zum Beispiel hat einen BMI von 40,4. Bei einem BMI unter 18,5 spricht man (bei Erwachsenen) von Unter-, bei einem zwischen 18,5 und 24,9 von Normal-, zwischen 25 und 29,9 von Übergewicht. Jenseits der 30 beginnt dann das düstere Reich der Adipositas; und wer mehr als 40 hat, bei dem spricht man von »Adipositas permagna« (nach dem lateinischen »permagnus«, sehr groß oder riesig) oder »morbider Adipositas«.
Im Mikrozensus des Statistischen Bundesamts 2013 gaben 36,7 Prozent der Deutschen Körpermaße an, durch die sie als übergewichtig definiert wurden, 15,7 Prozent mussten sogar als noch schwerer, als adipös, gelten. Männer lagen in beiden Kategorien höher als die Frauen. Der Durchschnitts-BMI aller Deutschen lag bei 25,9 – also am unteren Ende des Übergewichts.
In meinem Fall freilich muss keiner groß rechnen: Mein BMI, das enthüllt auch der Blick des medizinisch Ungeschulten, entspricht annähernd dem des tierischen Hauptdarstellers im Kinofilm Free Willy – Ruf der Freiheit.
Alleine unternehme ich diesen abermaligen Versuch, Gewicht loszuwerden, nicht. Zehn Frauen und fünf weitere Männer sind mit dabei, in einer Abnehmgruppe, die sich regelmäßig zu Sitzungen unter Leitung der Therapeutin treffen soll. Mal sehen, ob sich unter uns ein Zusammenhalt einstellt; eigentlich ist Abnehmen ein sehr einsames Geschäft. Bisher verbindet mich mit den anderen jedenfalls nicht viel mehr als mit jemandem, mit dem man sich im Wartezimmer eines Arztes anderthalb Stunden lang angeregt unterhält, weil die Praxis gerade wieder mal so voll ist.
Ähnlich unverbindlich verliefen bislang auch unsere bisherigen Zusammentreffen als Gruppe: Wir probierten gemeinsam, welche Geschmacksrichtungen bei den Formula-Shakes für uns infrage kamen; wir liefen uns im Adipositas-Zentrum über den Weg, als jeder seine zwei Einkaufstüten mit dem Beutelvorrat für die ersten Wochen abholte; wir saßen einander auf harten Stühlen auf dem Gang gegenüber, während wir auf die Eingangsuntersuchung bei einem Arzt oder das erste Gespräch mit der Therapeutin warteten. Einzeln und im Pulk wurden wir auch fotografiert, um das Ausmaß unseres Dick-Seins zu dokumentieren – das Vorher-Bild unserer Mission.
Empfohlen hat mir das Programm meine Hausärztin. Zuvor allerdings musste ich mich selbst zu der Einsicht durchbeißen, dass ich unassistiert und unbeaufsichtigt zwar im Abstand von etwa einem Jahrzehnt immer neu Gewicht verlieren, dem ewigen Jo-Jo-Effekt aber nicht entkommen könnte. Als ich jetzt im Adipositas-Zentrum gefragt wurde, wie viele Kilo ich in meinem Leben grob geschätzt bei allen Versuchen zusammengenommen verloren hätte, konnte ich antworten: siebzig. Dumm nur, hätte ich hinzufügen können, dass ich sie jedes Mal komplett wiedergefunden hatte – plus ein paar mehr.
Das ist ja überhaupt das schmutzige kleine Geheimnis der ganzen Diätindustrie. »Eigentlich können Sie irgendeine Diät machen, und Sie werden abnehmen – aber anschließend wieder zunehmen«, hielt der Ernährungswissenschaftler Volker Pudel in seinem Ratgeber Übergewicht einmal fest, und das war nur leicht übertrieben.
Mit Diäten ist es ja ohnehin so eine Sache. Wenn man sich mal grundsätzlich dazu entschlossen hat, muss man sich eine aussuchen, und da wird es unübersichtlich. Es gibt welche, die einem das Fett weitgehend verbieten, und solche, die in Kohlenhydraten den Bösewicht sehen. Mal soll man essen wie die Mittelmeervölker, dann wie die Eskimos, dann wie die Steinzeitmenschen. Andere Methoden scheinen nur zu funktionieren, wenn man in Beverly Hills wohnt. Einige setzen darauf, bloß die Hälfte des Gewohnten zu essen – oder ein einziges Gericht wie Gemüsesuppe oder ein einzelnes Lebensmittel wie Ananas. Eine basiert auf Sternzeichen, eine andere auf Blutgruppen.
Mittlerweile gibt es mehr unterschiedliche Diäten als Angela Merkel Hosenanzüge hat. Okay, das habe ich mir gerade ausgedacht, aber Sie wissen, was ich meine. Manche der Diäten gelten als potenziell schädlich für des Diäters Gesundheit. Andere richten zwar keinen Schaden an, wirken aber auch nicht, zumindest nicht nachhaltig. Denn Abnehmen ist gut und schön; das Gewicht zu halten aber ist die Meisterklasse.
Das kriegt unser Programm angeblich hin für uns. Weil es Ernährungsumstellung, Verhaltens- und Bewegungstherapie kombiniert, ist es so ziemlich das Innovativste, was sich im Moment denken lässt, zumindest unter den konservativen Lösungen; der nächste, drastischere Schritt wäre dann eine jener Magen-OPs, die immer populärer werden.
Offizielle Bedingung für die Teilnahme ist ein BMI über 30, aber diese Höhe überspringe ich leider ja mühelos, bei einem Gewicht von 185 Kilo und einer Größe von 1,78 cm. Das hatte auch meine Hausärztin mir bereits bescheinigt; unter »Begleiterkrankungen/-erscheinungen« listete sie auf: Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2 grenzwertig, Bewegungsmangel, Stress. Woran ich offenbar nicht leide, jedenfalls noch nicht, war auf dem Diagnosebogen sicherheitshalber schon mal vorgesehen: degenerative Herzerkrankungen, koronare Herzerkrankungen, Hypertriglyceridämie, Hypercholesterinämie, was immer die beiden Letzteren auch sein mochten (eine Fettstoffwechselstörung und ein zu hoher Cholesterinspiegel im Blut). Dass es dafür offenbar kein Wort unter acht Silben gab, verhieß jedenfalls nichts Gutes.
Ohnehin habe ich das – sicher übertriebene – Gefühl, bei uns...