Teil 2
Binge
Mara S.: Ein Freund namens Crystal
Als ich mein Elternhaus verließ, war ich natürlich traurig, aber das gute Gefühl überwog. Ab jetzt war ich frei, konnte tun, was ich wollte. Auch weil ich ohne Unterstützung durch meine Eltern auskam. Ich musste mir keine teure Wohnung mieten. Eine eigene Wohnung hatte ich mein ganzes Leben lang nicht – bis zu diesem Jahr, kurz bevor ich meine dritte Therapie begonnen habe.
Vorher habe ich nie wirklich einen Sinn in einer eigenen Wohnung gesehen – wenn man auf Crystal ist und nicht schläft, dann braucht man auch keine Wohnung, habe ich mir gedacht. Ich habe all die Jahre immer bei Freunden gehaust, immer in irgendeiner Form von Wohngemeinschaft gelebt.
Heute weiß ich gar nicht mehr, wie die Freunde hießen, bei denen ich zuerst untergekommen bin. Alles, was ich weiß, ist, dass diese ersten Jahre auf Droge und unabhängig von allem die schönsten meines Lebens waren. Da hatte ich immer viel Energie, hatte ständig Spaß – und vor allem hatte ich keine Ahnung, wie die Langzeitwirkungen für den Körper aussehen.
Abgesehen davon: Wenn ich hier von Freunden rede, dann hat das wenig mit den Vorstellungen zu tun, die ein normaler Mensch von Freundschaft hat. Zweckgemeinschaft, so würde ich diese Freundschaften heute nennen. Die wichtigsten Fragen waren: Wer hat eine Wohnung, wer hat ein Auto? Und vor allem: Wer hat Stoff? Gab es jemanden, der die Bedingungen erfüllte, dann war der es, bei dem alle rumhingen. Das war ein Freund.
Wenn ich jemanden traf, der gut aussah und viel Stoff hatte, dann habe ich versucht, ihn zu meinem Freund zu machen. Hatte er nichts mehr, dann habe ich mir halt wieder einen anderen Freund gesucht.
Anderes Beispiel: Wenn ich Drogen gekauft habe, dann lief es meist so, dass der Dealer beim ersten Mal richtig guten Stoff anbot, beim zweiten, dritten Mal auch noch. Danach wurde die Qualität mieser. Es gab selten jemanden, der über längere Zeit guten Stoff in gleich bleibender Qualität lieferte. Hatte ich mal so einen gefunden, dann war der ein Freund.
Echte Freundschaften mit Menschen waren auch vollkommen nebensächlich. Ich hatte ja einen Partner, der mir mehr gab als jeder sogenannte Freund da draußen: Crystal war wie der wichtigste Mensch in meinem Leben, mein allerbester Freund, mein Vertrauter, mein alles. Crystal und ich – der Rest war egal. Ich brauchte keine Freunde.
Crystal und ich, wir haben in diesen Jahren gelebt, wir haben geliebt und das Leben sprichwörtlich aufgesaugt. Crystal und ich sind von einer Wohnung zur nächsten gezogen, sind mal zwei Wochen, mal ein paar Monate und mal auch ein Jahr dort geblieben. Wir fanden es vollkommen normal, wenn da jemand herumsaß und gerade seinen Kau-Fasching hatte, also stundenlang zwanghaft Kaubewegungen ausführte. Wir fanden es amüsant, jemandem zuzuhören, der gerade auf einem Laberflash war und unentwegt redete, wirres Zeug von sich gab und sich ständig wiederholte, während er glaubte, etwas wirklich Weltbewegendes zu erzählen. Mit Crystal habe ich großartige Kunstobjekte erschaffen, die sich für den normalen Menschen nur als ein weiteres gleichmäßig bekritzeltes Blatt Papier darstellten.
Vor allem wurde in dieser Zeit der typische Kreislauf der Droge zur Normalität. Denn Crystal nimmt man nicht einfach, wird high und kommt wieder runter. Es hat seine eigenen Gesetze.
Das Erste, was mit einem passiert, wenn man Crystal gesnieft oder geraucht hat, ist der Rush: Das Herz beginnt zu rasen, der Blutdruck und der Puls steigen. Das kann eine halbe Stunden so gehen, ist aber nur die Vorstufe zu dem, was für mich und jeden Druffie der eigentliche Punkt war. Nach ein paar Minuten kommt dann das High, das ist genau die Phase, die Crystal für mich so besonders machte. Für einige Stunden, manchmal sogar einen halben Tag hatte ich dann das Gefühl, schlauer als alle anderen Menschen zu sein. Das war die Phase, in der ich besonders intensiv spürte und lebte – und natürlich auch die unzähligen wahnsinnigen Putzaktionen oder Rätselexzesse vollführte.
Diese Phase war diejenige, die eigentlich nie enden sollte. Also kam nun der Binge oder das Binging. Binge bedeutet übersetzt so viel wie Gelage oder Exzess und bezeichnet die Tatsache, dass man versucht, das High durch Einnahme weiterer Drogen möglichst lange aufrechtzuerhalten. Um mein High weitestgehend auszudehnen, nahm ich also immer weiter Crystal. Dadurch konnte ich mich bis zu 14 Tage lang ohne Schlaf auf den Beinen halten, konnte feiern und tanzen.
Das Dumme an dem Binge ist, dass er sich nicht ewig fortsetzen lässt. Jedes Mal, wenn man in dieser Zeit Crystal nimmt, fällt das High weniger großartig aus, bis schließlich der Körper wegen des langen Schlafentzugs umschaltet auf das, was Fachleute Tweaking nennen. Das war für mich immer die schlimmste Phase. Zwei Wochen war ich aufgedreht und gut drauf, doch dann schaltete der Körper auf ein Notprogramm um, ich fühlte mich mies. Dazu kam das Hirngeficke, also die Psychosen und Halluzinationen. Das ging so lange, bis der Crash einsetzte. Da kann man Crystal nehmen, so viel man will, das bringt alles nichts – auch so ein Begriff, den ich erst in der Therapie gelernt habe. Für mich war das einfach der Punkt, an dem der Körper sozusagen abschaltete. Meistens bin ich dann erst nach zwei oder drei Tagen Schlaf wieder aufgewacht.
In diesen Momenten hatte ich dann immer nur den einen Gedanken: Ich will Crystal. Ich wusste ja, wie unbeschreiblich schön das Gefühl auf Droge war, wollte alles tun, um aus der Trostlosigkeit nach dem Aufwachen herauszukommen. Da denkt man dann nicht daran, dass der nächste Crash sicher wieder kommen wird. Man denkt nur an das High, an dieses einzigartige Gefühl – und nicht an den ewig gleichen Kreislauf, der am Ende nur einmal mehr zu einem Crash führt.
Ich frage mich gerade, wie sich das für jemanden anhört, der keine Drogen nimmt. Ob das alles irgendwie nachvollziehbar ist. Vermutlich ist es das nicht, weil niemand das Gefühl und die Stimmungen erlebt hat, die Crystal auslöst.
Wer zumindest eine Vorstellung davon haben will, wie sich Crystal anfühlt, der sollte sich nach einer DVD des Spielfilms Spun umhören. Der kam, wenn ich mich richtig erinnere, so um das Jahr 2003 in die Kinos. Und ich kenne keinen anderen Film, der so nah an die realen Empfindungen herankommt, wenn man Crystal nimmt. Ich habe mir Spun damals x-mal angeschaut, es war und ist einer meiner Lieblingsfilme. Bei uns in Deutschland lief er mit dem Zusatztitel Leben im Rausch – und genau diese Stimmung vermittelt der Film auch.
In Spun dreht sich alles um Crystal Meth. Die Handlung ist dabei eigentlich gar nicht so wichtig: Der junge Ross will sich Crystal besorgen und landet bei dem von Mickey Rourke gespielten Cook, dessen Drogenküche abbrennt. Ross hilft ihm beim Neuaufbau des Labors in einem Wohnwagen, der dann wieder explodiert.
Wichtiger als dieser Rahmen ist aber, dass in dem Film fast ausnahmslos jeder Charakter auf Crystal ist – sodass nicht jede Handlung der Personen für den Zuschauer wirklich nachvollziehbar ist. Vor allem hat der Regisseur darauf geachtet, dass sich auch die Bilder den wirren Gedanken und der von Drogen vernebelten Realität der Personen anpassen. Das wird besonders deutlich in einer Szene, in der Ross mit der Freundin des Cook im Auto unterwegs ist. Beide sind auf Crystal, sie erzählt von ihrem dreijährigen Sohn, den der Staat ihr weggenommen hat, er spricht begeistert davon, dass er in eine gewisse Amy verliebt ist. Beide reden also vollkommen aneinander vorbei, scheinen jedoch selbst den Eindruck zu haben, ein sinnvolles Gespräch zu führen. Immer wieder unterbrochen wird die Unterhaltung von bildhaften Gedankenblitzen, die einige Sekunden alles andere überlagern und wieder verschwinden, um einem vollkommen anderen Bild, einer anderen Idee Platz zu machen. Was die Protagonisten ebenso intensiv und angenehm erleben wie ihre eigentlich vollkommen sinnlose Unterhaltung.
So ist Crystal. Die Dinge werden dadurch nicht besser, aber zumindest hat man eine Weile den Eindruck, dass sie besser sind, dass alles, was im nüchternen Zustand elendig langweilig und unsinnig erscheint, eine verborgene Schönheit besitzt, die es nur unter dem Einfluss von Crystal entfaltet.
Die Realität der Straße:
Crystal in Leipzig
Leipzig gilt als die älteste Messestadt der Welt, als die Stadt mit dem längsten Kasernengebäude Europas und dem höchsten Rathaus Deutschlands. Doch Leipzig hat auch ein Drogenproblem und in jüngster Zeit vor allem eines mit Crystal.
Angefangen hat alles – wie in den meisten Städten der ehemaligen DDR – in den frühen Neunzigerjahren nach der Öffnung der Grenzen zum Westen. »Das ist uns sozusagen auf die Füße gefallen«, sagt Willie Wildgrube, amtierender Leiter des Sachgebiets Straßensozialarbeit der Stadt Leipzig. Vorher waren Drogen in der Stadt kein Thema, nun musste man sich in die unbekannte Problematik erst einmal einarbeiten und sich mit ihr auseinandersetzen.
»Wir haben dann ein Konzept erarbeitet. Dabei ging es unter anderem um Hilfe für Frauen, die sich im Drogenmilieu prostituierten, ebenso wie um Möglichkeiten für den Spritzentausch.«
Als man mit der Arbeit an dem Konzept begann, war Crystal noch weitgehend unbekannt – es ging daher hauptsächlich um die Süchtigen, die sich etwa Heroin und andere Drogen spritzten. Für die stellte gerade der Mehrfachgebrauch von Spritzen ein erhebliches zusätzliches Infektionsrisiko dar. Umgesetzt wurde das...