AUF DER SUCHE NACH DADA
Die Schweiz: ein Ruhepol, eine Oase, ein neutrales Land. Als ein deutscher Offizier mitten im Ersten Weltkrieg, im September 1916, die Grenze passiert, stellt er als Erstes die Uhr eine Stunde zurück, »in die Schweizer Friedenszeit«.1 In Rorschach, seiner ersten Schweizer Station nach dem Grenzübertritt, gönnt er sich ein anständiges Frühstück, weitaus üppiger, als er es sonst in diesen Zeiten bekommt, zum »ersten Mal seit langer Zeit wieder ein saftiges Beefsteak und reichlich Sahne zum Kaffee«.2 Anschließend geht es weiter nach Zürich. Dort bleibt er länger, als er muss, weil er sich nach dem leiblichen Genuss etwas zu Gemüte führen will, das in dieser Art im Ersten Weltkrieg ebenfalls nur in der Schweiz zu finden ist: ein Kabarett aus Künstlern unterschiedlichster Nationalität, von dem er Dinge gehört hat, die sein Interesse weckten.
Es ist kein gewöhnlicher Offizier, der da in Zürich eingetroffen ist, es ist Harry Graf Kessler, ein vermögender Kosmopolit, der, um bei Kriegsbeginn zu seinem Regiment zu stoßen, von London über Paris nach Potsdam reiste; der in ganz Europa nicht nur mit den wichtigsten Politikern, sondern auch mit den jungen, aufstrebenden, aufregenden Künstlern in beständigem Austausch steht. Von dem Zürcher Kabarett hat ihm der Münchener Lyriker Johannes R. Becher erzählt, den Kessler für den genialsten Dichter aus der Generation des Weltkriegs hält, aber auch für eine tragische Figur.3 Becher ist morphinsüchtig, er wirft seiner ehemaligen Freundin Emmy Hennings vor, ihn in die Abhängigkeit getrieben zu haben. Kessler hat in seinem Tagebuch Bechers Charakterisierung von Hennings festgehalten: »Sie lebt Indianergeschichten, denunziert sich selbst u. ihre Freunde der Polizei, nur der Sensation wegen. Hat mit sämtlichen Literaten geschlafen, zwei Litteraturbewegungen inszeniert, Neo Pathetiker u. noch eine, verkauft sich auf der Strasse für 50 Pfennig; Morphinistin u Dichterin. Hat jetzt in Zürich das Kabaret Voltaire. Schläft dort in einem Zimmer mit sämtlichen Artisten u Dichtern des Kabarets, 17 Mann, angeblich aus Armut. Sind acht Monate nicht aus den Kleidern gekommen.«4
Kessler ist Diplomat, er weiß mit solchen Äußerungen umzugehen. Zudem ist er frei von Voyeurismus, von all den angerissenen Dramen interessiert ihn die neue Literaturbewegung am meisten. Vielleicht hat er den Namen der zweiten Bewegung nicht genau verstanden. Oder er hat es nach dem etwas komplizierten Ausdruck »Neo Pathetiker« nicht für möglich gehalten, dass dieser Name so etwas Lapidares, Stammeliges wie »Dada« sein könnte.
Auf jeden Fall ist das Cabaret Voltaire in Zürich weitgehend unbekannt, in Kesslers Hotel hat man davon noch nicht gehört. Kessler lässt sich nicht entmutigen, der Kassierer eines Varietés äußert schließlich die Vermutung, dass es »so Etwas« einmal im »Zunfthaus zur Wage« gegeben habe, in einem der vielen traditionsreichen Zürcher Zunfthäuser auf der wohlhabenden, mondänen Seite der Limmat. Da logiere es aber schon seit acht Monaten nicht mehr, vielmehr sei es nun in die »Meierei« verzogen, in ein »kleines altmodisches Gasthaus am rechten Limmat Ufer«.5 Aber als Kessler dort ankommt, muss er erfahren, dass das Cabaret Voltaire auch hier nur für kurze Zeit stattgefunden habe, die Kellnerin übermittelt ihm die bittere Nachricht, dass es inzwischen »tot« sei.
Egal. Kessler genießt den Gang durch den altertümlichen Stadtteil und die engen Gässchen, genießt die anheimelnde Ansicht, die das Ensemble von Mond, See und Lichtern auf den umgebenden Bergen bietet, und geht in ein anderes Varieté. Ein darin gezeigter Film über die erfolgreiche Atlantiküberquerung des U-Boots »Deutschland« wurde laut Kesslers Notizen »stark beklatscht«.
Uns ergeht es heute, hundert Jahre später, auf der Suche nach dem Cabaret Voltaire und dem, was dort zum ersten Mal mit dem Namen »Dada« bedacht wurde, deutlich besser als Kessler. Es dürfte schwerfallen, ein Zürcher Hotel zu finden, in dem man nicht gewissenhaft Auskunft erhielte über den Beginn von Dada. Womöglich bekommt man einen Dada-Stadtplan, der verhindert, dass man, wie Kessler zunächst, das Zunfthaus zur Waag ansteuert, schließlich war der erste Ort der späteren Dadaisten die Meierei, bevor es nach vier Monaten auf die andere Seite der Limmat ging. Auch sind inzwischen die meisten der Missverständnisse, Erinnerungslücken, Übertreibungen und Fälschungen, die die Dadaisten in Umlauf brachten, identifiziert und aufgeklärt, so dass man Äußerungen wie die von Becher über Hennings als verzerrte Gerüchte goutieren darf. Dada ist penibel und leidenschaftlich erforscht, es hat einen prominenten Platz in der Ruhmeshalle der künstlerischen Avantgarde.
Dada gilt als der explosivste, konsequenteste, schrillste und vielfältigste Versuch, Kunst, Literatur und Sprache aus den Fängen bürgerlicher Ideologie zu befreien, sie der Musealisierung und Intellektualisierung zu entreißen und mit den Forderungen des täglichen Lebens zu konfrontieren. Eine unwahrscheinliche Verbindung von absolut unterschiedlich temperierten und talentierten Künstlern, Dilettanten und sonstigen Lebensstrategen trampelte während und nach dem Ersten Weltkrieg so lange auf den Restbeständen bürgerlicher Kultur und Lebensweise herum, bis diese ihre Überlebtheit eingestehen mussten und das Fitzelchen Irrsinn, das in ihnen versteckt war, herausgaben.
Das Cabaret Voltaire ist tot, behauptet die Kellnerin und damit hat sie vollkommen recht. Zur Zeit des Besuchs von Harry Graf Kessler im September 1916 ist die erste Phase von Dada vorbei. Hugo Ball, der damalige Freund von Hennings und Initiator des Cabarets, hat sich nach Ascona zurückgezogen, die Dadaisten werden auf die kleine Bühne der Meierei nicht wieder zurückkehren. Der Coup bei der Namensfindung »Dada« bestand darin, dass Dada von allen Bedeutungszuschreibungen frei gehalten werden sollte. Das paradoxe Programm war, kein Programm zu haben – was auch der dadaistisch Begabteste nicht lange durchhält. Auch deswegen ist Dada, kaum dass es begonnen hat, schnell wieder vorbei.
Das Cabaret Voltaire ist tot, da irrt sich die Kellnerin natürlich gewaltig. Die Protagonisten des Cabarets werden bald eine eigene Dada-Galerie eröffnen; die Dada-Zeitschrift ist noch nicht erschienen; legendär werdende Zürcher Auftritte stehen erst noch bevor. Zudem schwärmen die Dadaisten bald aus, tragen das Dada-Virus nach Genf, Berlin, Köln und Paris und stecken die ganze Welt damit an.
Noch heute ist »Dada« ein Wort, mit dem jeder etwas anfangen kann, es hat sich von seinen historischen Manifestationen längst emanzipiert und ist in die Alltagssprache eingesickert. Mit diesem Zweisilber kann man sich ganz hervorragend über lustigen Quatsch oder subversive Sprachkunst verständigen: von den weit ausgreifenden und emotional intensiven Anweisungen eines Fußballtrainers, der des Deutschen noch nicht ganz mächtig ist, bis hin zur Rap-Sprechakrobatik werden mitunter eine Vielzahl von Gegenwartsphänomenen unter dem Dach »Dada« versammelt. Und wann immer in europäischen Hauptstädten ein Club gegründet wird, der sich in die Tradition von kultureller Avantgarde, intellektueller Distinktion und libertinärem Kitzel stellen will – von den Salons der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert bis zum New Yorker Studio 54 –, darf das Cabaret Voltaire nicht fehlen.
Insofern ähnelt unsere Situation vielleicht doch der von Kessler. Dada schwirrt durch alle möglichen Träumereien von Befreiungsimpulsen und Subversion. Auf der Suche nach dem Erbe von Dada wird man von dem einen in die Hochzeit des Punk nach London geschickt, wo die von Dada erfundene nihilistische Geste zur Geltung kam – dann wieder wird man mitten in die Happenings der Achtundsechziger hineingeworfen, die die dadaistische Technik der provokanten Aktion ausnutzten.6 Der Philosoph Paul Feyerabend verwandelte die dadaistische Haltung gar in eine grundlegende, anarchistische Gedankenfigur: Einen Fortschritt des Denkens und der Erkenntnis könne es nur geben, wenn man bereit sei, sämtliche Vorannahmen und Erwartungen über den Haufen zu werfen.7 Ist das der unverlierbare Triumph von Dada, dass es so etwas wie eine Essenz von Widerstand zusammengebraut hat: hochexplosiv, schnell wieder vorbei, aber gerade deswegen universell anwendbar?
Jede sympathisierende Erzählung der Dada-Bewegung ist dem großen Reiz dieser Träumerei verpflichtet. Aber sie darf ihm nicht gänzlich erliegen. Denn die Gefahr ist groß, dass all das, was Dada für uns heute interessant macht, unter der Erwartungshaltung der Nachwelt begraben wird und nurmehr eine Art Subversionsfolklore übrigbleibt. Dada sei eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und auf die Bankrotterklärung einer Kultur, die ihn möglich machte: So lautet ein völlig plausibler Dada-Erklärungsreflex. Doch je näher man den einzelnen Protagonisten und ihrer Geschichte kommt, desto vielschichtiger wird die Bewegung. Und desto spannender: Weil Dada so viele und so unterschiedliche Biografien, Interessen und Ausprägungen von Talent aushalten muss, ist das unter dieser Bezeichnung versammelte Ringen mit den Verheißungen, Zumutungen und Abgründen der damaligen Zeit so intensiv, so drängend, so enervierend. Einer Zeit, die noch dazu wesentliche Züge der unseren trägt.8
Eine Phase immensen wirtschaftlichen Wachstums führt zu einem Innovationsschub, der das Alltagsleben komplett umkrempelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgen Eisenbahn und Telegraphie für eine rasante...