Prolog
Im März des Jahres 2013 geht ein 76-jähriger Mann aus Argentinien durch die nächtliche römische Innenstadt zum Priesterheim in der Via della Scrofa. Es ist ungewöhnlich kalt in Rom in diesem März. So kalt, dass die Zitronenbäume der Römer hoch oben auf den Dachterrassen noch unter Schutzfolien auf den Frühling warten. Der Wind fegt durch die Gassen, sodass die nächtlichen Spaziergänger den Kragen hochziehen müssen.
Auf dem Weg in das Priesterheim, vorbei an der menschenleeren, im Sommer von tausenden Touristen überrannten Piazza Navona trifft der Mann aus Argentinien einen Priester aus Kanada, der ihm zuwinkt. Das Gespräch der beiden Männer ist kurz: »Bete für mich!«, bittet der Mann aus Argentinien, und verwundert fragt der kanadische Priester: »Warum? Machst du dir Sorgen?«
Ja, dieser Argentinier macht sich Sorgen. Er war gerade dabei, in Rente zu gehen, und er hat nur noch einen Lungenflügel, und er weiß, dass sie ihn dorthin schicken wollen. In jenen Palast neben der riesigen Kuppel des Petersdoms, die man in der Nacht auch in entlegenen Gassen Roms erahnen kann, weil das Streulicht den Himmel über ihr erstrahlen lässt, in den Vatikan, als nächsten Papst.
Dabei hatte dieser Mann aus Buenos Aires eigentlich keine Chance gehabt, jemals das Oberhaupt der größten Kirche der Welt zu werden. Genau das nahmen seine Feinde in der Kurie ihm ungemein übel, und genau das machte ihn für seine Unterstützer so wertvoll: Er hatte nie eine einzige Chance gehabt. Dass es Jorge Mario Bergoglio jemals auf den Thron des Papstes schaffen könnte, war eine völlig abwegige Vorstellung. Genauso gut hätte irgendein hergelaufener Freizeitsportler Boxweltmeister aller Klassen werden können.
Er hatte keine Chance gehabt. Sie hatten ihn nach einer kurzen Karriere als Chef der Jesuiten in Argentinien abgeschoben als Beichtvater in ein Erholungsheim. Er stand in einem ärmlich eingerichteten Aufenthaltsraum am Ende der Welt und sah auf einem flimmernden Schwarzweiß-Fernseher zu, wie am anderen Ende der Welt der Sohn des erfolgreichen italienischen Parlamentariers und Zeitungsverlegers Giorgio Montini, jener Giovanni Battista Montini, zu Papst Paul VI.: aufstieg. Es war so wie immer; eine weitere der einflussreichen italienischen Familien hatte einen Papst gestellt, wie die Colonna, die Borghese, die Pacelli zuvor.
Aber wie sollte der Sohn des Eisenbahners Bergoglio, der Beichtvaters eines Heims in Buenos Aires, sich auch nur vorstellen, dass er es schaffen könnte, das Unmögliche zu erreichen? Er war ein Mann, der nach vatikanischen Maßstäben eine absolute Null war. Dass dieser Pater es schaffen könnte, in die engere Wahl für das Amt des nächsten Papstes zu gelangen, schien unmöglich. Das war nicht vorgesehen. Er war ein Jesuiten-Pater, und noch nie war ein Jesuit Papst geworden.
Er hatte auf das Amt des Papstes nie eine Chance gehabt – und das war es, was seine Unterstützer so schätzten. Sie wollten einen Außenseiter, einen absoluten Außenseiter, der das Unglaubliche schaffen könnte. Er sollte den Kreislauf durchbrechen, der es unmöglich gemacht hatte, dass ein Mann von unten und von sehr weit her es schaffte, den Thron Petri zu erreichen.
Aber diesmal konnte ein solcher totaler Außenseiter das entscheidendste aller Kräftemessen im Vatikan gewinnen und das Amt des Papster erobern, um das zu tun, was sie von ihm erwarteten: aufzuräumen. Jetzt kam es nur noch darauf an, ob sie wirklich wussten, wie hart sein Kampf gegen die Kurie gewesen war, ob er tatsächlich der Außenseiter war, den sie wollten, zumindest viele von ihnen, sehr viele.
Die alles entscheidende Frage war, wie viel sie wussten. Die Kardinäle, die möglicherweise daran dachten, ihn zu wählen, wie sie es schon einmal versucht hatten im Jahr 2005. Wie viel wussten sie über die Demütigungen, die er erlitten hatte, über die Erniedrigungen und Beleidigungen, die immer wieder aus dem Vatikan auf ihn, den argentinischen Bischof, eingeprasselt waren? Wussten sie, wie oft man ihm, diesem Jorge Bergoglio aus Buenos Aires, nicht einmal einen Termin gegeben hatte in der Kurie? Wussten sie davon, dass die Kurie ihn immer wieder lächerlich gemacht hatte, dass sie hinter seinem Rücken Bischöfe und Universitätsrektoren ernannt hatte, ohne ihn, der eigentlich zuständig gewesen wäre, auch nur anzuhören? Die Kurie hatte ihn zum Narren gemacht, jahrzehntelang.
Der Wind zerrt in dieser Nacht an seinem billigen Priesterrock. In seiner Heimat ist es jetzt Herbst und nicht so bitterkalt wie in diesem römischen Frühjahr. Er kommt langsam voran. Er weiß, dass seine Probleme mit Füßen und Beinen ihn zu einem watschelnden Gang zwingen; er weiß, dass er von Weitem wirkt wie ein schaukelndes Schiff, ein altes Schiff, das sich durch die frostige Nacht in Rom kämpft.
Wie viel wussten sie? Das war die Frage, um die sich alles drehte. Konnte ihnen verborgen geblieben sein, dass kein anderer Bischof auf der Welt so viel Ärger mit der Kurie gehabt hatte wie er? Wussten sie, dass Ettore Ballestero aus dem Staatssekretariat im Vatikan schon alles hatte vorbereiten sollen, um ihn abzuservieren, um ihn endgültig abzuschieben? Die Kardinäle hatten überall ihre Ohren, das wusste er. Aber selbst wenn nicht, wenn sie nicht ihre Spitzel im Staatssekretariat hatten, wäre es überhaupt möglich, dass den Kardinälen verborgen geblieben war, was ein Jahrzehnt lang in Buenos Aires passiert war?
Er kennt die Antwort auf diese Fragen, während er über das holperige Kopfsteinpflaster der römischen Innenstadt geht, vorbei an den Brunnen, die eisiges Wasser ausspeien, das die Plätze der Stadt noch feuchter wirken lässt. Natürlich wussten sie Bescheid. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Aber es war nun einmal geschehen. Er hatte dem Nuntius, dem Botschafter des Vatikans, der ihn hintergangen und hereingelegt hatte, wieder und wieder sogar den Gruß verweigert, er hatte ihm nicht einmal die Hand gegeben. Er wusste, dass sie in seinem erzbischöflichen Ordinariat hinter seinem Rücken darüber getuschelt hatten: Er gibt dem Nuntius nicht einmal mehr die Hand, so groß ist der Krach mit der Kurie im weit entfernten Rom. Gegen diese Gerüchte gab es kein Mittel. Überall in Lateinamerika wussten die Bischöfe mittlerweile, dass Bergoglio einen bitterbösen Streit mit der Kurie austrug und erhebliche Prügel bezog. Und mit Sicherheit erzählten sie es weiter, nach Europa, nach Nordamerika. Leugnen half nichts. Es gab Fotos, auf denen jeder sehen konnte, wie er voller Abscheu dem Nuntius den Rücken zukehrte. Wenn die Kardinäle jetzt einen Mann zum Papst machen wollten, der einen regelrechten Krieg gegen die Kurie vom Zaun brechen würde, der nach all diesen Skandalen unter der Regentschaft des hilflos wirkenden deutschen Papstes Benedikt XVI. keine Gnade kennen würde, dann war er die beste Lösung, das war ihm klar.
Schon einmal war ein Mann in diesen Palast eingezogen, um alles zu verändern. Er hatte 33 Tage lang regiert und war dann so überraschend gestorben, dass noch heute viele Menschen glauben, sein Tod sei kein natürlicher gewesen. Aber jetzt geht es nicht um einen Italiener mit dem Namen Papst Johannes Paul I., der die Gefahr in dem Palast der Päpste wenigstens hatte ahnen können. Diesmal geht es um einen Mann von weit her, um ihn, der nur einen zerschlissenen Koffer aus Buenos Aires mitgebracht hatte.
Zu oft hatte er die eleganten Herren kennengelernt, die in dem Palast unter der Kuppel den Ton angaben. Es wäre Wahnsinn, dort hineinzugehen, so alt wie er schon ist. Er hat keinen einzigen Freund in dieser Stadt. Jeder Schritt, den er an den abgebröckelten Fassaden vorbeigeht, die nur im Glanz der Sommersonne so warm und ockerfarben leuchten, jetzt aber feucht und abweisend wirken, zeigt ihm, wie einsam er hier ist. Denn er dürfte hier gar nicht sein, dürfte diesen Weg Richtung Via della Scrofa im schneidenden Wind, der durch die Gassen wie durch Schluchten fegt, gar nicht gehen. Ein paar Dutzend Augen am Abendbrottisch im Hauptquartier seines Jesuiten-Ordens würden die Plätze absuchen, an denen der grimmige Erzbischof von Buenos Aires eigentlich sitzen müsste; aber er wird nicht da sein. Nicht nur die Kurie hatte ihn tief gedemütigt, auch sein eigener Orden. Sie hatten ihn in die Wüste geschickt, als Beichtvater in ein bedeutungsloses Haus, nach einem sehr heftigen Streit. Er will sie nicht sehen, nicht mit ihnen an einem Tisch sitzen, nicht mit ihnen unter einem Dach schlafen. Er zieht es vor, allein durch diese in der Kälte so abweisende Stadt zu einem anonymen Priesterheim zu gehen, wo sein Koffer in einem schmalen Zimmer steht.
Sollte es so weit kommen, sollten sie ihn zum Papst wählen, wie konnte er dann verhindern, dass alles herauskommen würde, dass sie entdecken würden, wie man ihn in Lateinamerika sieht? Als einen Revoluzzer, einen Linken! Wie könnte ein Papst die römisch-katholische Kirche regieren, der im Ruf steht, ein Kommunist zu sein? Wieder und wieder hatte er betont, dass er nur ein Mann des Evangeliums sei, dass die Armen ihm am Herzen liegen, weil sie Christus am Herzen lagen. Aber genutzt hatte es nichts; sie sehen in ihm einen politischen Revoluzzer und wollen ihn so sehen. Genau diese Bewunderer könnten ihm viel gefährlicher werden als alle Feinde, sollte er zum Papst gewählt werden.
Aber wichtiger als alles andere scheint ihm eines: Er muss verschwinden. Dieser grimmige Mann aus Argentinien, er selbst, er muss aufhören zu existieren. Ein neuer Jorge Mario Bergoglio muss entstehen. Ein strahlender, ein lachender Mann. Ein Mann, dessen Gesicht die Freude des Glaubens widerspiegelt. Aber einen solchen Jorge Mario Bergoglio hatte es nie gegeben. Er muss sich...