PROLOG
ES HEISST, WENN DU DEN AUFPRALL HÖRST, BIST DU NOCH AM LEBEN
Am Morgen des 6. Februar 1990 war ich seit mehr als einem Jahrzehnt auf einem schmalen Grat gewandert, ständig mit einem Fuß über dem Abgrund, auf der Suche nach dem größtmöglichen Kick. Ich hatte ein ziemlich kaputtes Leben geführt. Warum aber hatte ich mich nicht einfach komplett ins Drogennirwana geschossen, wo ich mich doch so nihilistisch fühlte? Stattdessen folgte ich dem Credo von Jim Morrison, Samuel Taylor Coleridge und – zeitweise – William Wordsworth, dem Credo der Selbstentdeckung durch Selbstzerstörung, dem ich mich bis heute so überzeugt verschreibe: Lebe jeden Tag, als ob es dein letzter wäre, und irgendwann wirst du damit richtigliegen.
An diesem schicksalhaften Vormittag stehe ich im Morgengrauen hellwach im Wohnzimmer meines Hauses in den Hollywood Hills. Vor mir erstreckt sich das Los-Angeles-Becken bis zu den Hochhaustürmen der Innenstadt. Ich habe nicht geschlafen, mein Kopf dröhnt noch von den Überresten des Alkohols und der illegalen Substanzen der letzten Nacht, und ich blicke hinaus auf die mürrisch erwachende Stadt. Das sich ausbreitende Tageslicht legt Schatten auf die Hänge. Es wirkt fast so, als ob Gott nach und nach die Farben für den heutigen Tag aus seinem Malkasten hervorholt; die Braun- und Grüntöne von Erde und Laub, die sich vom ausgebleichten Weiß der Felsen abheben, auf denen mein Haus steht.
Vom Fenster aus höre ich in der Ferne Sirenen heulen. Hat wohl einer Pech gehabt, denke ich, während ich dem grollenden Autostrom unausgeschlafener, ungeduldiger Pendler auf dem Freeway 101 lausche, die sich durch den Cahuenga-Pass schlängeln: das Geräusch einer Welt, die sich langsam wieder in Bewegung setzt. Der endlose Seufzer des Freeways ist wie ein Echo meiner müden, ausgezehrten Seele.
Am Abend zuvor haben wir nach fast zwei Jahren Arbeit das Album mit dem treffenden Titel Charmed Life abgegeben. Ich spüre die Erwartungen, die auf mir lasten, und bin früh von der obligatorischen Studioparty nach Hause gegangen. Das klingt jetzt, als hätten wir nur eine einzige Party zum Abschluss des Albums veranstaltet, aber eigentlich haben wir die ganzen zwei Jahre durchgefeiert. Zwei Jahre lang nonstop Bier, Bräute und Bikes, dazu ein ständiger Strom aus Hasch, Koks, Ecstasy, Heroin, Opium, Quaaludes und Secobarbital. Ich bin in zahllosen Clubs zusammengebrochen und oft im Krankenhaus aufgewacht. Manchmal kam ich auf dem Rücken liegend wieder zu Bewusstsein, starrte an irgendeine triste, graue Krankenhausdecke, verfluchte mich selbst und war sicher, der Nächste zu sein, der vor irgendeinem Nachtclub in L.A. oder auf irgendeinem kalten Steinfußboden draufgeht, umringt von Fremden und Paparazzi.
Ich habe GHB genommen, ein Steroid gegen die lästige Erschöpfung, die mich zuletzt davon abhielt, Sport zu treiben und meinen Körper wenigstens halbwegs in Form zu halten. Nimmt man zu viel davon – wozu ich neige –, ist das, als würde man sich selbst für drei Stunden in ein künstliches Koma versetzen; für Außenstehende sieht es aus, als hätte man diese Welt verlassen.
Als wir 1988 mit den Aufnahmen begannen, versprachen wir einander, cool und konzentriert zu bleiben und uns nicht komplett in Drogen und sonstige Ausschweifungen zu stürzen. Aber als die Wochen langsam zu Monaten wurden, fingen wir an, freitags etwas früher Schluss zu machen – zur »Drop Time«, zu der wir alle gemeinsam Ecstasy einwarfen. Aus Freitag wurde bald Donnerstag, aus Donnerstag Mittwoch und so weiter, bis alle Regeln außer Kraft gesetzt waren. Irgendwie schafften wir es, trotz Dauerbenebelung noch Musik zu machen. Es war, als würde ich mich permanent von einem weiteren üblen Absturz erholen, und ich brauchte jedes Mal drei Tage, um mich wieder »normal« zu fühlen. Die Arbeit am Album erwies sich als zäh, und die einzige Möglichkeit, dem Druck ein bisschen zu entkommen, war, sich abzuschießen, jede menschliche Emotion zu vermeiden und immer wieder in die Finsternis zu greifen. Irgendwo in dieser Finsternis, so sagte ich mir, waren die Geheimnisse des Universums oder irgendeine andere kreative Botschaft versteckt.
Wir luden auch Mädchen ins Studio ein, die uns zuhören sollten. Das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden erschien uns als der beste Weg, herauszufinden, ob die neuen Songs funktionierten. Wir zogen ein paar Lines, und die Mädchen tanzten. Irgendwann vögelten sie dann mit einem oder mehreren von uns auf dem Studioboden. War die Party erst mal richtig im Gange, liefen wir mit nichts als unseren Motorradstiefeln und Halstüchern am Leib herum. Mit der Zeit wurde das zu unserem Standardlook.
Die Mädchen fanden das spitze und machten es uns nach. Es half sicher, dass wir sie in den örtlichen Stripclubs rekrutiert hatten: Nackt sein machte ihnen nichts aus. Wir veranstalteten richtige Orgien in diesen Studios, die monatelang unser Zuhause waren. Es war wie in einem himmlischen Sexclub – wir waren die Herren der Dröhnung, und alles drehte sich um sofortige Bedürfnisbefriedigung.
Ich möchte gern glauben, dass all das im Sinne der Songs geschah. Der Sex und die Drogen pimpten die Musik auf, und aus dem Chaos heraus entstanden die Songs: Inmitten von in Essen ausgedrückten Zigaretten, dem vollgekotzten Fußboden im Klo und verschwitztem Sex überall im Studio probierten wir unsere Riffs und Mixe aus. Drehten wir laut genug auf, verdrängte der Sound die Geräuschkulisse aus Ficken und Blasen. Songs müssen geschrieben werden. Ideen müssen fließen. Der Flow muss die primitivsten Bedürfnisse befriedigen. Ohne Einschränkung.
Jetzt, wo das alles hinter mir liegt, bin ich erschöpft und zerschlagen. Die Aufgedrehtheit, die mich wach hält, ist das Ergebnis der Mühe und Sorgfalt, die ich in eine Platte gesteckt habe, die über meine Zukunft entscheiden wird. Das ist der Druck, unter den ich mich immer wieder selbst setze. Hinzu kommen die astronomischen Produktionskosten. Der dauernde Zwang, den Karren am Laufen zu halten, hat meinen Geist ausgelaugt und meine Willenskraft aufgezehrt.
Monate später wird sich Charmed Life über eine Million Mal verkauft haben. Die Single »The Cradle of Love« und das dazugehörige Video von David Fincher werden Megahits geworden sein. Aber davon habe ich noch keine Ahnung, als ich mich gegen zwei Uhr morgens allein nach Hause zurückziehe, um mich nach beendeter Aufnahme ein bisschen auszuruhen. Die Trennung von meiner Freundin Perri, der Mutter meines Sohnes Willem, war ein schwerer Schlag. Aber die Fertigstellung des Albums ist das Einzige, was zählt. »Wenn wir Druck machen … wird Lee kapitulieren«, telegrafierte Lincoln 1865 an Ulysses S. Grant in Appomattox. Und weiter: »Machen wir also Druck.« Das ist Rock’n’Roll! Schwierigkeiten muss man die Stirn bieten und den Erfolg aus Schweiß und Tränen schmieden. Daraus ziehe ich meine Inspiration.
In meinem Unterbewusstsein laufen die turbulenten Ereignisse der letzten paar Jahre auf einer Breitbildleinwand und lassen sich nicht ignorieren. Wie soll ich nur diesen Blues loswerden, der mir bis ins Mark kriecht und mein Hirn zermartert? Es ist schön draußen, die Temperatur steigt, und die Sonne brennt den morgendlichen Smog weg. Trotzdem bin ich unruhig, verspüre eine tief im Magen sitzende Unzufriedenheit. Jetzt, wo das Album fertig ist, werde ich schließlich doch noch über mein Leben nachdenken und mich der Leere ohne Perri und meinen Sohn stellen müssen.
Das Motorrad wird den Post-Album-Blues schon wegblasen, denke ich. Ich öffne das Garagentor, und das erwartungsvoll glänzende Chrom meiner 1984er Harley-Davidson Wide Glide ruft mich zu sich.
Der Verkehr ist dicht. Die Sonne fühlt sich gut im Gesicht an und scheint mir warm auf den Kopf. In Kalifornien gibt es noch keine Helmpflicht, und ich habe immer schon gern den Wind in den Haaren gespürt. Mein Motorrad räuspert sich mit tiefem Brummen. Der schwarze Tank und die Chromteile blitzen im gleißenden Sonnenlicht. Ich habe mich für ein Jeansoutfit entschieden, passend zum strahlend blauen Himmel.
Die Harley liegt gut auf der Straße, und ich merke, wie ich mich entspanne. Jetzt muss ich nur noch schneller sein als meine Dämonen. Die süß nach Jasmin und Honig duftende Luft berauscht meine Sinne. Ich bringe das Bike auf Touren. Es reagiert sofort auf meine Kommandos, und ich gleite wie der Wind die kurvige Straße durch den Canyon in Richtung Sunset Boulevard hinab. Das üppige Grün und die Bäume am Straßenrand beleben meinen Geist, und meine Aufmerksamkeit schweift ab. Vor mir sehe ich Bilder von Peter O’Toole als Lawrence von Arabien, der durchs ländliche England rast, sein Motorrad austestet, bis an die Grenzen bringt, als plötzlich …
RUMMS!!!
Eine gewaltige Explosion reißt mich aus meinen Träumereien. Ich spüre, wie mein Körper durch die Luft geschleudert wird und in ein reines Nichts entschwebt. Vor dem Aufschlag verliere ich das Bewusstsein.
Ich fühle, wie sich irgendwelche Wesen um mich drängen. Ich höre Stimmen, einige sehr nah und laut, andere leiser und weiter weg. Das hektische Treiben inmitten dieses finsteren Strudels sagt mir, dass da noch andere Welten sind, und ich spüre ihre magnetische Anziehung. Ich fühle die Auren...