Martin Schüttler
Diesseitigkeit
Der Begriff der «Diesseitigkeit» hat in den letzten Jahren als Schlagwort für die Arbeit einiger Komponisten immer wieder Verwendung gefunden.1 Der folgende Text wird auf Musik von Michael Maierhof, Maximilian Marcoll, Hannes Seidl und mir selbst eingehen. Anhand einiger Aspekte soll erläutert werden, was Diesseitigkeit in einem musikalischen Zusammenhang bedeuten kann und was wesentliche Gestaltungsmerkmale diesseitigen Komponierens sind.
Der Duden definiert Diesseitigkeit als «dem Diesseits, der Welt zugewandte Haltung; Weltlichkeit.» In dieser Definition schwingt implizit der Begriff der Jenseitigkeit mit und in der Dualität von Diesseits und Jenseits eine transzendentale oder metaphysische Grundordnung der Welt. Der Wikipedia-Eintrag zum Begriff «Diesseits» führt weiter aus: «Dem Diesseits fallen aus der Weltanschauung der Metaphysik und vieler Religionen Zuschreibungen zu wie ‹endlich, sinnlich, vorläufig›, dem Jenseits solche wie ‹ewig, geistig, (end-)gültig›. Dies wird bestritten von den nicht-religiösen Humanisten und Freidenkern, die darauf bestehen, dass das menschliche Leben ausschließlich im Diesseits stattfinde.»2
Der Begriff der Diesseitigkeit ist bezüglich der Arbeiten der hier vorgestellten Komponisten weniger eine philosophisch/religiöse Weltsicht, als eine notwendige Bezeichnung für das Hier und Jetzt. Das Jenseitige, mag es existieren oder nicht, ist dabei nicht von Interesse. Die Musik konzentriert sich ausschließlich auf die sinnliche, die sinnlich erfahrbare Welt. Auf Dinglichkeit. Auf das, was da ist.
Was bedeutet das musikalisch? Konkret geht es um eine direkte Alltagsbezogenheit und das gleichrangige Verwenden von Nebenprodukten des täglichen Lebens. Klangmaterialien wie Aufnahmen aus einem Supermarkt, mediale Störgeräusche, YouTube-Videos oder das Einbeziehen profaner Gegenstände, etwa einer Waschmaschine, können vom Komponisten ebenso selbstverständlich verwendet werden wie Instrumentalklänge und Verfahren, die aus der musikalischen Tradition abgeleitet sind. Michael Maierhof sagt diesbezüglich: «Es spielt keine Rolle, ob der Komponist sein Material aus dem überlieferten Kanon bezieht, ob er sich mit Pop-Musik oder dem akustischen Ablaufprotokoll eines anspringenden Kühlschranks auseinandersetzt.»3 Dieser Ansatz ist nicht nur auf die rein klangliche Ebene beschränkt. Auch strukturell oder formal kommen Alltagsbezüge zum Tragen, z. B. das selbstreferenzielle Einbinden der Aufführungssituation in die Komposition oder das Transkribieren eines Field-Recordings als strukturelle Grundlage eines Stücks.
Die Verwendung des Begriffs Diesseitigkeit verweist zusätzlich auf einen rezeptiven Kontext. Diesseitiges Komponieren stellt sich gegen die Auffassung eines musikalischen Eskapismus, gegen das Benutzen von Musik, um sich aus der Realität zu flüchten. Eine auf das Jenseitige, das Außergewöhnliche gerichtete Vorstellung von Musik meint zum einen den romantischen Entwurf von Kunst als Ersatzreligion, der gegenwärtig in Bereichen wie der Filmmusik oder dem Pop ungebrochen weite Verbreitung findet. Anderseits kann aber auch auf dem Gebiet der Kunstmusik die Auffassung einer reinen Musik, einer L’art pour l’art, Züge der Weltabgewandtheit tragen. Wird Musik als ein Ereignis außerhalb des Alltäglichen und Trivialen begriffen, das vom Profanen der Welt ferngehalten werden muss, erscheint sie als etwas Heiliges. Hier spielt auch das traditionelle Konzert mit seinen sozialen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Wo der Konzertsaal mehr ist als ein geeigneter Ort, der ein konzentriertes Zuhören ermöglicht, wenn er also zu einem Refugium für Weltflüchtige wird, tritt ein eskapistischer Mechanismus ein. In gewisser Weise wirkt dann der religiöse Ursprung von Musik nach: sie sei nicht von dieser Welt, etwas Höheres, Universelles, Ewiges, usw. Und der Konzertsaal wird zu ihrer Kirche.
Demgegenüber ist die Idee einer diesseitigen Musik viel direkter auf das gerichtet, was uns tatsächlich umgibt. Andauernd. Hier und jetzt. Dinge, Klänge, Vorgänge, Medien, politische und soziale Verhältnisse. Diesseits meint also zunächst einmal nur eine Ortsangabe und zwar eine sehr subjektive. Es meint alles, was in meiner persönlichen Reichweite liegt. Durch den Zugriff auf meine direkte Umgebung verhalte ich mich künstlerisch zur Wirklichkeit. Mein Verhältnis zur Welt wird nicht in und durch Musik zum Ausdruck gebracht, sondern genau umgekehrt. Musik ist Teil des Alltäglichen und davon nicht zu trennen!
Eine direkte Bezugnahme auf die Wirklichkeit der Welt hat historische Vorläufer. Ohne hier einen detaillierten musikgeschichtlichen Überblick geben zu wollen, sei doch auf verschiedene Beispiele für Weltzugewandtheit verwiesen: Tonmalerei, Futurismus, Musique concrète oder Soundscape-Kompositionen haben unter jeweils verschiedenen Produktionsbedingungen und mit verschiedenen ästhetischen Ansätzen Bezüge zur Klangwelt des Alltags hergestellt. Politische Komponisten wie Hanns Eisler, Luigi Nono oder Nicolaus A. Huber verweisen auf gesellschaftliche Vorgänge und nutzen Komposition zum Zweck ihrer Erkenntnis.4 Und nicht zuletzt ist John Cage zu nennen, dessen Arbeit die Grenze zwischen Kunst und Leben weitestgehend aufgelöst hat. Seiner Musik liegt jedoch fast immer eine Intentionslosigkeit zugrunde. Ein diesseitiger Ansatz verfolgt dagegen eine absichtsvolle Verwendung aller Mittel.
Auf dieser historischen Folie operieren Komponisten heute unter gesellschaftlich, technisch und medial vollkommen veränderten Voraussetzungen mit den Erfahrungen des täglichen Lebens. Im Folgenden sollen einige wichtige Verfahren offengelegt werden. Die besprochenen Aspekte sind: Klangmaterial, Strukturbezug, mediale Heterogenität und Musik als Kommentar.
Über Klangmaterial
Im Zuge der Materialerweiterung, die im 20. Jahrhundert stattgefunden hat, sind viele Konventionen aufgebrochen oder verworfen worden, die noch vor hundert Jahren Gültigkeit hatten. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben sich Geräusche und elektronische Klänge gleichberechtigt neben instrumentalen und vokalen Klängen als musikalisch verwendbar etabliert. Dies gilt für alle musikalischen Bereiche, für Kunstmusik genauso wie für populäre Musik. Durch das Hinzufügen einzelner, bislang noch nicht verwendeter Klänge ist heute eine derart grundlegende Veränderung nicht mehr zu erwarten.
Zusätzlich hat sich die Klanglichkeit der uns umgebenden Realität fundamental gewandelt. Im Alltag sind ästhetische Produktionen und zufällig zustande kommende Klangereignisse durch den permanenten Eingriff technischer und medialer Mittel in unsere Lebenswirklichkeit gleichermaßen präsent, sie durchdringen sich. Beim Einkauf im Supermarkt genauso wie beim Surfen im Internet. Im Hinterhof mischt sich eine Schubert-Sinfonie mit dem Lärm von Bauarbeiten. Alles ist gleichzeitig gegenwärtig und im alltäglichen Erleben miteinander verbunden. Das Internet stellt gewissermaßen ein nahezu vollständiges Archiv dar, in dem jede Musik und jeder Klang permanent abrufbar sind. Unsere Vorstellung von Verfügbarkeit hat sich ins Totale gesteigert.
Die Position der Diesseitigkeit geht von dieser uns unmittelbar umgebenden akustischen Situation aus. Vor dem Hintergrund der absoluten Gleichzeitigkeit lässt sich keine Unterscheidung zwischen per se wertvollen und wertlosen, also kunst-tauglichen und kunst-untauglichen Materialien treffen.
In meiner Komposition schöner leben 2 (Monument für T.H.) für Klavier und Live-Elektronik treffen heterogene Komponenten aufeinander, ohne dass zwischen ihnen klanglich vermittelt wird. Am Schluss des Stückes stehen elektronisches Rauschen, Oktavpermutationen, einzelne, zum Teil präparierte Klaviertöne, Dur-Akkorde, der leicht bearbeitete Soundtrack eines Hardcore-Pornos und die geglättete Melodie eines Popsongs nebeneinander. Der instrumentale Einzelton ist nur eine Möglichkeit unter vielen. Er ist nicht Normalfall, Ausgangspunkt oder kleinster Baustein für alle musikalischen Entwicklungen innerhalb eines Stücks. Stattdessen werden unterschiedlich stark vorstrukturierte Materialien wie gesetzte, unteilbare Klangobjekte aufeinander bezogen. Ein Verfahren, das ich «Materialvergröberung» nenne. Alle Objekte werden gleichberechtigt behandelt, egal, woher sie stammen und ob es sich im Ursprung um gefundenes oder um konstruiertes Klangmaterial handelt.
Um eine beliebige, sinnleere Collagearbeit von unterschiedlichen Klangpartikeln zu vermeiden, ist auf struktureller und/oder konzeptioneller Ebene ein Entgegenwirken unumgänglich. Dabei stellen kompositorische Verfahren der letzten sechzig Jahre durchaus einen wichtigen Bezugspunkt dar, beispielsweise das serielle Parameterdenken. Ich verwende solche Verfahren jedoch nur gelegentlich konstruktiv, das heißt vom Einzelton ausgehend. Oft dienen sie dagegen als Werkzeug, um Fremdmaterial zu analysieren und aufzubrechen. Ziel ist es, gefundene Klangobjekte soweit zu dekonstruieren, dass Reste einer ursprünglichen Aura noch erkennbar...