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Das andere Berlin

Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867 - 1933

AutorRobert Beachy
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783641165741
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Zwischen Repression und Freiheit: Die Geschichte der Homosexualität in Deutschland
Homosexualität ist eine deutsche Erfindung - zu dieser überraschenden Erkenntnis kommt Robert Beachy in seiner Geschichte der Homosexualität in Deutschland. In seinem Buch erzählt er von den Pionieren der Sexualwissenschaft, den Debatten um gesellschaftliche Anerkennung im Kaiserreich sowie vom schwulen Eldorado Berlins in der Weimarer Zeit und holt damit ein in Vergessenheit geratenes Kapitel deutscher Geschichte ans Tageslicht.

Welche einzigartigen Bedingungen im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts herrschten, die es zum Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der menschlichen Sexualität machten, zeigt der Historiker Robert Beachy anhand einer Fülle an Figuren und Episoden. Vor allem Berlin mit seinem berühmten Nachtleben entwickelte sich in dieser Zeit zum Magneten für eine lebendige, internationale schwule Szene und zog Künstler wie Christopher Isherwood und W.H. Auden an, die der Zeit in ihren Werken ein Denkmal setzten. Mit seiner Geschichte der Homosexualität in Deutschland verändert Robert Beachy das Bild von Kaiserzeit und Weimarer Republik und fügt unserem Verständnis dieser Epoche eine wichtige Facette hinzu.

Robert Beachy, geboren 1965 in Aibonito, Puerto Rico, lehrt Geschichte an der Yonsei University in Seoul. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher zur deutschen und amerikanischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, für seine Forschung erhielt er Förderungen u.a. von der John S. Guggenheim Memorial Foundation und vom Max-Planck-Institut für Geschichte.

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Leseprobe

Einleitung

»Schaut mich nur an!«, schmetterte die deutsche Kapitale, prahlerisch noch in der Verzweiflung. »Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten. Sodom und Gomorra zusammen waren nicht halb so verderbt, nicht halb so elend wie ich! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften, bei mir geht es hoch her, oder vielmehr, es geht alles drunter und drüber. Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher einmal hatten wir eine Armee; jetzt haben wir Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl!

KLAUS MANN, Der Wendepunkt, Berlin und Frankfurt am Main 1953, S. 133.

Im Oktober 1928 zog der 21 Jahre alte Wystan Hugh Auden nach Berlin, vorgeblich um Deutsch zu lernen. Im März des folgenden Jahres kam sein Freund Christopher Isherwood zu einem einwöchigen Besuch nach Berlin. Später zog auch Isherwood nach Berlin und wohnte dort bis Frühjahr 1933. Isherwoods Besuch, erklärte Auden später, veranlasste ihn, sein Berliner Tagebuch zu beginnen. Im allerersten Eintrag skizzierte Auden unter der Überschrift »Ein straffer Samstag« die Einführungsrunde, auf die er seinen Freund mitnahm. »Es beginnt mit dem Hirschfeld-Museum. Wir warteten in einem Salon aus dem 18. Jahrhundert mit älteren Damen und liebenswürdigen jungen Männern.« Das Hirschfeld-Museum gehörte zum berühmten, am nördlichen Rand des Tiergartens gelegenen Institut für Sexualwissenschaft, das der Pionier im Kampf für die Rechte von Homosexuellen, Dr. Magnus Hirschfeld, 1918 dort gegründet hatte. Neben dem Museum mit seinen sexuellen Artefakten und farbenprächtigen Darstellungen waren in dem Institut medizinische Untersuchungs- und Behandlungsräume, ein Vortragssaal, Büros, eine Bibliothek und Wohnungen für Mitarbeiter untergebracht. Das Institut zog nicht nur neugierige Touristen an, es diente auch als Treffpunkt für Berliner mit gewissen Neigungen. Dass es sich bei den »älteren Damen« im Salon nicht um Frauen, sondern um Männer in Frauenkleidung gehandelt hatte, ging Auden und Isherwood erst später auf.1

Von dem Institut aus begaben sich Auden und Isherwood zum Essen in ein Restaurant knapp südlich von Unter den Linden. Nach dem Essen machten sie sich auf zu Audens bevorzugtem Treffpunkt – dem Cosy Corner, einer vor allem für männliche Prostitution bekannten Bar. Um es nicht so weit zu seiner Lieblingsbar zu haben, hatte Auden sich einige Monate zuvor eigens eine Wohnung ganz in der Nähe genommen. Die südöstlich vom Cosy Corner gelegene Gegend um das Hallesche Tor war proletarisch geprägt und galt als hartes Pflaster. »Ich bin«, wie Auden in einem Brief ganz offen schrieb, »in einen Slum gezogen … fünfzig Meter von meinem Bordell.« In einem weiteren, kurz danach verfassten Brief berichtete er: »Ich verbringe den Großteil meiner Zeit mit jugendlichen Straftätern … Berlin ist der Tagtraum des Arschfickers.«2

Auch wenn nur wenige Zeitgenossen derart offenherzige schriftliche Zeugnisse wie Auden hinterlassen haben, kann kaum Zweifel daran bestehen, dass das Weimarer Berlin für viele erstmalige Besucher eine atemberaubende Offenbarung war. Nachdem sie die Stadt für sich selbst entdeckt hatten, wurden Auden und Isherwood zu Aposteln der ungehemmten Sexualität Berlins und lockten einen breit gefächerten Zirkel britischer Autoren, Poeten und Abenteurer in die deutsche Hauptstadt. In seinem eigenen autobiographischen Bericht über die Zeit schreibt Isherwood darüber, wie ihn die Offenheit Berlins nicht nur dazu ermutigte, seine eigene Homosexualität zu erkunden, sondern schlussendlich auch das zu akzeptieren und begrüßen, was er als seine sexuelle Orientierung und Identität zu sehen lernte. Über sich selbst in der dritten Person sprechend, beschrieb er die Offenbarung, die Berlin für ihn war: »Er war beschämt, weil, zu guter Letzt, er sich Aug in Aug seinem Stamme gegenübersah. Bisher hatte er sich so verhalten, als gäbe es diesen Stamm nicht und als sei die Homosexualität eine Lebensweise, die er und ein paar Freunde für sich selbst entdeckt hatten. Natürlich hatte er seit jeher gewusst, dass dies nicht stimmte. Doch nun sah er sich gezwungen, sich seine Verwandtschaft mit diesen monströsen Stammesmitgliedern einzugestehen.«3

Isherwood brachte seine Erinnerungen an dieses offenkundige »Coming-out« Jahrzehnte später zu Papier und dürfte darin seine Erlebnisse idealisiert haben. Audens Berliner Tagebuch dagegen bietet unmittelbare, zeitgenössische Einblicke und zeigt deutlich auf, wie Berlin die sexuelle Identität formte. In einem bemerkenswerten Eintrag vom 6. April 1929 beschreibt der aufstrebende Dichter einen scheinbar trivialen Vorfall. Auf dem Weg zum Bahnhof, wo er mit seinem aktuellen Geliebten Gerhart zu einem gemeinsamen Ausflug nach Hamburg verabredet war, hatte Auden in der Straßenbahn eine kurze Begegnung mit einer jungen Frau. Er beschreibt, wie sie Augenkontakt zu ihm aufnahm, sich ihm näherte und flirtete. »Sie kam und stand neben mir, bis ich ausstieg. Am liebsten hätte ich eine Verbeugung im Stil des 18. Jahrhunderts vor ihr gemacht und ›Entschuldigen Sie, Madame, aber ich bin schwul‹ gesagt.« Was für eine unglaubliche Replik das gewesen wäre! Statt Verachtung für seine Bewunderin zu empfinden oder sich amüsiert zu fühlen, war Auden überzeugt, dass ihr Annäherungsversuch auf einer Fehleinschätzung beruhte; sie hielt Auden für einen Mann, der sich von Frauen angezogen fühlt. Und obgleich Audens Deutschkenntnisse nach eigenem Bekunden niemals sonderlich gut waren, hatte er – zumindest im Kopf – eine angemessene Antwort formuliert, die seine deutsche Bewunderin verstanden hätte.

Bemerkenswert auch Audens Gebrauch des Ausdrucks »schwul«. Einem etymologischen Wörterbuch zufolge ist der Begriff eine Berliner Schöpfung; er geht auf das Wort »schwül« zurück und spielt mutmaßlich auf den Ausdruck »warme Brüder« an, der in der deutschen Umgangssprache Männer bezeichnet, die Männer lieben. Darüber hinaus wurde der Ausdruck mit Kriminalität assoziiert. In einer Schrift aus dem Jahr 1847 mit dem Titel Die Diebe in Berlin definierte ein vormaliger Berliner Polizeikommissar »Schwule« als Gauner »mit einer Vorliebe für gewisse Unsittlichkeiten«.4 Ungeachtet dieser herabsetzenden Assoziation wurde der Begriff von Homosexuellen, die sich selbst als solche identifizierten, adoptiert. In der dritten Ausgabe einer medizinischen Studie, die sich ausschließlich mit der Homosexualität befasste – und auf ethnographischen Forschungen in Berlin basierte –, behauptete der Psychiater Albert Moll 1899, dass die Angehörigen der homosexuellen Subkultur in Berlin (und zwar Männer wie Frauen) den Ausdruck »schwul« verwendeten, um sich selbst zu beschreiben.5 (Ende des 19. Jahrhunderts verlief durch einen Teil des Tiergartens, den Männer schon seit langem auf der Suche nach Sex frequentierten, ein schmaler Pfad mit dem Spitznamen »schwuler Weg«.6) Obwohl die schriftliche Quellenlage wenig ergiebig ist, hatte der Begriff in den Zwanzigerjahren unter jungen Berliner Homosexuellen eindeutig neutrale oder sogar positive Konnotationen, und sie bezeichneten sich selbst und gegenseitig gewohnheitsmäßig als »schwul«.7 Zugleich verlief in dieser Hinsicht offenbar eine Trennlinie zwischen den Generationen. Zumindest berichtet der Historiker Manfred Herzer in seiner Biographie des Sexualwissenschaftlers und Streiters für die Rechte von Homosexuellen Magnus Hirschfeld davon, dass Hirschfeld einen homosexuellen Jugendlichen dafür schalt, das Wort zu benutzen, obwohl es eindeutig dem Berliner Dialekt des Jugendlichen entstammte.8

Das im Berliner Sprachgebrauch entstandene »schwul« ist die beste deutsche Entsprechung für das englische »gay«. Hätte Auden eine ähnliche Situation in London erlebt, er hätte zu der Zeit auf kein passendes englisches Pendant zurückgreifen können. Sein Wortschatz umfasste 1928 englische Ausdrücke wie »queer« (sonderbar), »bugger« (Arschficker), »pederast« (Päderast), »sodomite« (Sodomit), »molly« (Weichling), »queen« und »fairy« (Schwuchtel, Tunte) oder »pansy« (Bubi). Manche davon wurden eindeutig zur Selbstidentifikation verwendet – immerhin bezeichnete Auden Berlin als den »buggers daydream«, den »Tagtraum des Arschfickers« –, aber sie waren auch herabsetzend. Ein paar Monate später, während eines kurzen Besuchs zu Hause, beendete Auden seine langjährige Beziehung mit einer Frau. »Niemals–Niemals–Niemals wieder«, notierte er in seinem Tagebuch.9 Audens Berliner Erweckung ist frappierend, und in den späten Zwanzigerjahren konnte er seine Sexualität selbst in holperigem Deutsch besser beschreiben, als ihm das auf Englisch je möglich war.

Die Erlebnisse, die Auden dabei halfen, seine dramatische Verwandlung zu vollziehen, sind natürlich bedeutsam, aber gleichermaßen von Interesse sind die Konturen der Terminologie, die sich zur Beschreibung der sexuellen Minderheit herausbildete, der er sich nun zugehörig fühlte. Ein zentrales Argument dieses Buches lautet, dass die Entstehung einer auf einer unverrückbaren sexuellen Orientierung basierenden Identität ursprünglich ein deutsches und insbesondere ein Berliner Phänomen war. Die Berliner Etymologie von »schwul« ist demnach umso signifikanter, als die Sprache uns dabei helfen kann, die Entstehung einer neuen Gruppenidentität zu kartieren.

Das Wort »schwul« war allerdings weder der erste noch der einzige deutsche Ausdruck, der moderne Konzepte sexueller...

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