Teil II
Wie fremde Gefühle
uns unbewusst beherrschen
Wie kommt es, dass wir Gefühle von
anderen übernehmen, ohne es zu merken?
In der Welt der Gefühle gibt es keine Mauern. Wenn wir jemandem begegnen, überlappen unser Energiefeld und das der anderen Person einander bis zu einem gewissen Grad. Auf diese Weise spüren wir einander und erhalten bereits auf diesem Weg einen unmittelbaren Eindruck von der gefühlsmäßigen Stimmung des anderen, lange bevor wir die Botschaft, die unsere Augen, unsere Ohren, unsere Nase uns vermitteln, im Gehirn verarbeitet und interpretiert ha-ben. Wenn wir nicht aufmerksam sind, kann es geschehen, dass wir diese gefühlsmäßige Stimmung, die wir unbewusst wahrnehmen, für unsere eigene halten und mit den dazugehörigen Gedanken ausschmücken. Nehmen wir an, Sie begegnen jemandem, der wütend ist; und plötzlich sind Sie selbst wütend. Da Sie den Vorfall falsch interpretieren, werden Sie meinen, dieser Mensch sei auf Sie wütend, und werden darüber Ihrerseits wütend: weil er Sie so unfreundlich behandelt oder über die Ungerechtigkeit, die darin liegt. Tatsächlich hatte die Wut des anderen mit Ihnen nichts zu tun, und Sie haben sie einfach gefühlt und sich damit identifiziert.
Im Moment der Begegnung fühlen wir, wie die andere Person sich fühlt. Wir fühlen es in uns selbst (es gibt keinen anderen Ort, an dem wir fühlen können), das heißt in unserem Körper, unserem Energiefeld, in unserem fühlenden Wesenskern, dem Herzen.
Das wäre eigentlich kein Problem, wenn dieser Vorgang bewusst abliefe. »Aha, so fühlt diese Person sich gerade.« Das setzt jedoch voraus, dass wir schon gleich zu Anfang der Begegnung bei Bewusstsein sind und auf das achten, was in uns vorgeht. Auf das erste Gefühl, den berühmten ersten Eindruck. Haben wir das versäumt, ist es bereits zu spät; in Nanosekundenschnelle hat sich die Interpretation der Sinneseindrücke in Gang gesetzt, wir haben eine Story dazu entwickelt. Und nun können wir, selbst wenn wir es versuchen, nicht mehr auseinanderhalten, was intuitive Wahrnehmung, was Emotion, was Gedanke und was Tatsache ist. Wir haben das Gesicht, die Gestalt, die Mimik, die Haltung gesehen, haben gehört, was die Person gesagt hat, und wahrgenommen, wie sie es gesagt hat, und all das haben wir auf unsere Weise interpretiert. »Ein überheblicher Mensch«, denken wir vielleicht, weil sein Verhalten uns an jemanden erinnert, der überheblich war. In Wirklichkeit ist die Person vielleicht schüchtern, fühlte sich im Moment der Begegnung unsicher oder scheu und hat aus Gründen, die in ihrer Kindheit liegen, gelernt, dies hinter einem souveränen Verhalten zu verbergen.
Im Moment der Begegnung fühlen wir also die emotionale Gestimmtheit der anderen Person. Der Ort, an dem dieses Fühlen stattfindet, ist innerhalb von uns und nicht außerhalb. Da ist also plötzlich ein Gefühl in uns. Wir achten jedoch nicht darauf. Wir nehmen es nicht bewusst wahr, und schon gar nicht nehmen wir wahr, dass wir es von jemandem aufgeschnappt haben (haben vielleicht auch von dieser Möglichkeit noch nie gehört). Wir fühlen uns eben einfach so. Für einen Augenblick oder für länger.
So übernehmen wir also die Gefühle von anderen bei flüchtigen Begegnungen:
Im Moment der Begegnung überlappen sich unsere Energiefelder bis zu einem gewissen Grad, und in diesem Augenblick empfinden wir das Gefühl des anderen in uns selbst.
Wir bemerken das aber nicht bewusst.
Wir fühlen uns einfach, wie der andere sich fühlt, und halten es unbewusst automatisch für unser eigenes Gefühl.
Wir identifizieren uns also damit und drücken es in unseren Gedanken und unserem Verhalten aus.
Mit diesem Gefühl kann nun zweierlei geschehen: Entweder es verschwindet wieder aus unserem Energiefeld oder es bleibt darin hängen. Wenn es wieder verschwindet, ist es wie bei jedem anderen Eindruck, der uns begegnet und für uns keine besondere Bedeutung hat – ein Auto, das vorbeifährt, eine Wolke, ein Baum, ein Mensch, der nichts an sich hat, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Vielleicht ist es uns völlig unbekannt, also in unserer eigenen Geschichte noch nie in uns geweckt worden. In diesem Fall ist es einfach ein Eindruck, dessen Codierung wir nicht lesen können, wie eine Radiowelle, die uns durchstreift und keinen Eindruck hinterlässt, weil wir sie ohne die Vermittlung eines Radioapparats nicht interpretieren können. Oder das Gefühl ist uns bekannt, weckt jedoch keinerlei besonderes Interesse in uns, wir verbinden damit kein Thema. Dann ist es einfach ein flüchtiger Eindruck, der unser Gemüt durchstreift.
Es gibt jedoch Eindrücke, die uns nicht so schnell loslassen. Ein Auto von der Sorte, die wir selbst gerne besäßen; eine Wolke, die wie ein Engel aussieht; ein Baum, der uns an unsere Kindheit erinnert; ein Mensch, der attraktiv auf uns wirkt. Oder bedrohlich. Das sind Eindrücke, die ein Gefühl in uns wecken und daher länger haften bleiben.
Ähnlich ist es mit emotionalen Eindrücken, die wir bei der Begegnung mit einem anderen Menschen empfangen. Diejenigen, die uns nichts bedeuten, sind flüchtig; diejenigen, die ein Gefühl in uns wecken, verbleiben länger bei uns.
Nun gibt es also zwei Gefühle in uns: das der anderen Person und das eigene, das wir damit verbinden. Wir fühlen die Unsicherheit des anderen; und sie erinnert uns an unsere eigene Unsicherheit, die uns dadurch in Erinnerung gebracht und aktiviert wird. Folge: Wir fühlen uns doppelt unsicher. Das bemerken wir aber nicht bewusst, sondern diese übergroße Unsicherheit ergreift uns einfach und wir verhalten uns entsprechend. Das nennt man »Mit einem fremden Gefühl in Resonanz treten«.
Im Moment der Begegnung, während unsere Energiefelder einander überlappen, nehmen wir unbewusst das Gefühl der anderen Person wahr.
Tatsächlich existiert genau dieses Gefühl auch in uns. Durch die Begegnung mit dem gleichartigen Gefühl des anderen wird es in uns geweckt.
Dieses eigene Gefühl nehmen wir jedoch auch nicht bewusst wahr.
Nun werden wir also unbewusst von zwei Gefühlen beherrscht: einem fremden und einem eigenen, die einander ähnlich oder fast identisch sind. Das Ergebnis ist, dass das verdoppelte Gefühl uns in besonders starker und hartnäckiger Weise beherrscht.
Das fremde Gefühl kann jedoch auch ein andersartiges, vielleicht entgegengesetztes Gefühl in uns wecken. Die Unsicherheit eines Mitmenschen, die wir unterschwellig wahrnehmen, kann uns daran erinnern, wie unsicheres Verhalten in unserer Familie mit Verachtung gestraft wurde, und uns verächtlich reagieren lassen. So kann es dazu kommen, dass drei Gefühle in unserem Innern einander überlagern: die Unsicherheit des anderen; die eigene Unsicherheit; die Verachtung. Zwei davon sind nicht unsere eigenen: Unsicherheit Nr. 1 gehört der Person, der wir begegnet sind; die Verachtung gehört unserem Vater oder unserer Mutter.
Jedoch ist uns das alles nicht bewusst, sodass am Ende unser Verhalten oder unsere Gedanken nur die Verachtung ausdrücken. Schematisch zusammengefasst:
Im Moment der Begegnung, während unsere Energiefelder einander überlappen, nehmen wir unbewusst das Gefühl der anderen Person wahr.
Dieses weckt in uns ein eigenes, gleichartiges Gefühl.
Diesem Gefühl wurde in unserer Kindheit in der Familie mit einem bestimmten negativen Gefühl begegnet, und daher haben wir gelernt, es zu unterdrücken.
So sind also nun drei Gefühle in uns vorhanden: das fremde Gefühl, unser eigenes, gleichartiges und das negative, mit dem wir es unterdrücken. Letzteres sitzt an der Oberfläche und wird von uns ausgedrückt.
Ähnliches spielt sich vielleicht auch in der anderen Person ab. Auch sie empfängt den Eindruck unserer gefühlsmäßigen Stimmung im Moment der Begegnung; auch sie ist sich wahrscheinlich dessen nicht bewusst; auch sie übernimmt vielleicht unser Gefühl und reagiert darauf.
Arnold und Sofie begegnen einander in einer Vorlesung. Arnold wird sofort von Unsicherheit befallen, wie jedes Mal, wenn er einer attraktiven Frau gegenübersteht; Sofie fühlt diese Unsicherheit, ohne zu wissen, dass es seine ist, und übernimmt sie. Sie verstärkt ihre eigene Unsicherheit. Jedoch hat sie die Verachtung übernommen, die ihre Mutter unsicheren Männern entgegenbrachte; und so tritt die Unsicherheit hinter Verachtung zurück. Arnold spürt diese Verachtung unbewusst und übernimmt sie ebenso unbewusst. Seine Überzeugung, dass attraktive Frauen dumme, überhebliche und eigentlich verächtliche Geschöpfe sind, wird mal wieder verstärkt. So endet etwas, was der Anfang einer wunderbaren Geschichte hätte sein können, wenn beide sich ihrer eigenen Gefühle bewusst gewesen wären und die fremden Gefühle zurückgewiesen hätten, als frustrierendes und verwirrendes Ende einer kurzen Begegnung.
Wenn man erst einmal verstanden hat, dass uns ständig fremde Gefühle durchstreifen, wird man ein völlig anderes Verständnis für Vorfälle und für Menschen...