Dieser Teil will im Vorfeld der von der Wissenschaft empirisch bestätigten Modelle nicht die Theorien angehen, sondern ergänzende Aspekte vorstellen.
In einem Seminar bei Martin Gollmer im Jahre 1999 an der Universität Bern wurde das Thema „Auslandjournalismus“ angegangen. Eingeladen waren Akteure im Nachrichtenfluss. Das Programm umfasste neben Spezialgebieten[40], die Angebots-[41], die Produzenten-[42] sowie die Nachfrageseite[43]. Die Gäste referierten über ihre Tätigkeiten mit Fokus auf die Auslandberichterstattung. So hat die NZZ in der Auslandberichterstattung eine klare Kernkompetenz und betrachtet das Ressort Ausland als prioritär. Von den durchschnittlich 12‘900 Seiten pro Jahr, sind rund 2‘000, also rund 15 Prozent des gesamten Angebots, dem Ausland gewidmet[44]. Auch wenn Ende der 90er Jahre die Etats reduziert worden sind, verfügen die NZZ, der Tages-Anzeiger, der Bund sowie die Basler Zeitung über ein für die Schweiz vergleichsweise umfassendes Korrespondentennetz. Alexander Grass[45] beschreibt den Auslandjournalismus medienübergreifend nach 1989 als komplexer. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die internationale Berichterstattung vielschichtiger geworden. Ausserdem löste ein multipolares Weltsystem mit zahlreichen Interessengegensätzen das klassische „Ost-West-Schema“ ab. Mit der Globalisierung der Märkte sowie des Kapitals, der Internationalisierung der Produktion oder der Kommunikation müssen neue Bewegungen in der Berichterstattung berücksichtigt und eingeordnet werden. Der damals stellvertretende Auslandchef und heutige[46] Redaktor Peter Kleiner[47] der Schweizerischen Depeschenagentur SDA referierte über diesen Selektionsprozess sowie die damit verbundene Schwerpunktsetzung. Er skizzierte eine Systematik von Triagekriterien, die den internationalen Nachrichtenfluss und somit das Angebot in den schweizerischen Zeitungen massgeblich beeinflussen. Die Richtlinien, die er auch als „aufgeklärte Willkür“ bezeichnete, lassen sich folgendermassen darstellen (nach Relevanz geordnet):
1. Nachbarländer
2. „Grossmächte“
3. Europa – Europäische Union
4. Osteuropa, Schwellenländer, „Emerging Markets“
5. Weltpolitische Prozesse (Terrorakte, Naturkatastrophen)
6. Internationale und supranationale Organisationen, IKRK usw.
7. Lateinamerika, Asien, Afrika
8. Entwicklungszusammenarbeit
Diese Einschätzungen werden durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt. In Zeiten weltweiter politischer, ökonomischer, sozialer und technologischer Verflechtungen kommt der Auslandsberichterstattung eine entscheidende Bedeutung zu. „Vor dem Hintergrund rasanter Fortschritte der Kommunikationstechnologie und zunehmender Deregulierung wurde die Berichterstattung expandiert, diversifiziert, internationalisiert und kommerzialisiert“ (Berens et al. 1998: 60). Die Massenmedien übernehmen auf internationaler Ebene die Wahrnehmung für den Rezipienten. Im Gegensatz zum Fernsehen, das primär unterhaltende Funktion hat, bietet die Presse als Informationsmedium mehr Raum für Auslandnachrichten (vgl. Fechter / Wilke 1998: 44). Bei einer Bildanalyse der Nachrichtenagenturen DPA, AP und Reuters stellen Fechter und Wilke fest, dass bei allen drei Anbietern Bilder aus der Politik zwar dominieren (vgl. Fechter / Wilke 1998: 99), jedoch kann anhand der Studien von Rathgeb festgestellt werden, dass das Ressort Ausland von 1978 bis 1993 in jeder Phase einer Zeitungsrenovation Anteile an andere Ressorts eingebüsst hat (Rathgeb 1993: 141).
In direktem Zusammenhang mit der Auswahl des Ressorts befindet sich der Regionalismus, also die Frage, welche Variablen die Auslandberichterstattung sowie den internationalen Nachrichtenfluss bestimmen. Die Beachtung von Ländern in Auslandnachrichten ist in hohem Masse durch die Struktur internationaler Verknüpfungen sowie von den Merkmalen der Ereignisse bestimmt. Neben den von Galtung und Ruge (vgl. 1965a: 67) relevanten Nachrichtenfaktoren wie die politische oder kulturelle Nähe des „Berichtslandes“ zum „eigenen Land“ betrachtet Staab ausserdem die geografische oder wirtschaftliche Nähe als zentral und definiert somit einen (Elite-)Status (Machtstatus) eines Landes als bedeutsame Eigenschaft (Staab 1990: 120). Zur Frage, welche Merkmale eines Landes für eine Berichterstattung in der schweizerischen Presse entscheidend sind, werden in der wissenschaftlichen Literatur diverse Punkte angeführt. Schulz bezeichnet den Faktorenkomplex „wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärische Macht“ des Ereignislandes zusammenfassend als Status oder „nationale Zentralität“ eines Landes (Schulz 1976: 33). Im selben Kontext spricht Staab von der „Bedeutung der Nationen“ (Staab 1990: 120). Marie-Therese Guggisberg untersuchte, welchen Ländern die Berichterstattung in der Schweiz das grösste Interesse entgegengebracht wurde. Ausserdem stellt sie, sich u.a. auf die Distanz-Theorie (Gantzel 1972) berufend, eine Rangfolge der für die Schweiz relevantesten Länder auf (Guggisberg 1974: 5)[48]. Bei den Merkmalen zur Beurteilung des Nachrichtenwertes von Ländern werden oft Beziehungen im politischen, militärischen, wirtschaftlichen sowie kulturellen Bereich festgehalten. In Anlehnung an Galtung und Ruge (vgl. 1965a: 67) systematisiert Wyss die fünf Nachrichtenfaktoren in die Komplexe Ablauf, Anlass, Modalität, Folgen und Akteure, die die Auslandberichterstattung sowie den internationalen Nachrichtenfluss beeinflussen (vgl. Wyss 2001: 273).
Die Vereinigten Staaten sowie Westeuropa erhalten in den Nachrichten grössere Beachtung als die Entwicklungsländer (Mohammadi 1990: 267). Mit der globalen Verschiebung geopolitischer Strukturen bildete sich eine neue internationale Nachrichtengeographie und nachrichtenpolitische Lage heraus. Auf diesen zusätzlichen Aspekt der internationalen Berichterstattung im Zusammenhang einer neuen Weltinformationsordnung, dem „kulturellen Imperialismus“ (Schenk 1987: 38, Meier / Schanne 1980: 19), einer so genannten Verzerrung der Nachrichten aus den Entwicklungsländern durch multinationale Agenturen, kann nicht akkurat eingegangen werden.
Ein Bild sagt immer etwas aus. Eine Redensart, die in der Reportagefotografie verwendet wird, dass nur dargestellte Emotionen den Betrachter bei einem Bild verweilen lassen. Uwe Pörksen meint zu diesen Bildern, die in Verbindung zu Schlüsselreizen stehen: „Sie sind umgeben von einem starken Assioziationshof von Gefühlen und Wertungen […]. Es geht eine beträchtliche Bannkraft von ihnen aus“ (Pörksen 1997: 28). Für Christian Rentsch vom Tages-Anzeiger sprechen Bilder Emotionen an. „Sie heizen sie an oder bringen sie wieder hoch“[49]. Zur Bildkommunikation in der Werbung stellt Werner Kroeber-Riel fest, dass Bilder besser als Sprache dazu geeignet sind, emotionale Erlebnisse auszulösen (vgl. Kroeber-Riel 1993: 14). Sie können dadurch Schlüsselreize auslösen und somit die Werbewirkung verstärken (vgl. Strassner 2002: 16). Aus der Perspektive des praktizierenden Bildjournalisten bezeichnet Rolf Sachsse die „emotionale Wirkung von Fotografien stärker denn je“. Seiner Meinung nach „verfliegt“ der Eindruck mittels Fernsehen oder Videosequenz allzu schnell, „um sich im Gedächtnis festzuschreiben. Fotografien hingegen können das noch immer erreichen“ (Sachsse 2003: 66). „Sick Sentimentalls nennen amerikanische Journalisten jene Bilder, auf denen leidende und sterbende Menschen zu sehen sind“. Diese Bilder seien zwar oft schockierend, aber hauptsächlich auf kurzfristige Effekthascherei aus. „Die moralische Entrüstung über diese Bilder ist oft selbst Heuchelei“ (Sachsse 2003: 79). „Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Vulkanausbrüche: Das sind die ‚tough jobs‘ der Bildjournalisten […]. Hier muss man mitten im Geschehen sein, nah herangehen, im besten Sinn des Wortes teilhaben und mitleiden“ (Sachsse 2003: 80). Im Vergleich zum Golfkrieg 1991 meint Barbara Basting vom Tages-Anzeiger, dass der gegenwärtige Krieg im Irak auch ein „Krieg der Bilder“ sei (Basting 2003: 53). Die Bildredaktorin Béatrice Geistlich des Tages-Anzeigers bezeichnet das Bildangebot gegenüber 1991 zudem quantitativ als massiv vergrössert und somit auch als vielfältiger. Es dominiere jedoch „die Optik der Angreifer“ (a.a.O.). Beim systematischeren Betrachten der enormen und sich fortwährend erneuernden Bildmenge stellt der Chefredaktor der „Bildredaktion“ des Tages-Anzeigers Remo Lötscher eine damit verbundene Erschwerung der Selektion fest. Ausserdem werden heute auf dem gelieferten Bildmaterial mehr zivile Opfer gezeigt als 1991. „Heute seien - auf Grund einer gesunkenen Schwelle gegenüber brutalen Bildern - viel mehr grausame Bilder im Angebot der Agenturen als noch vor zehn Jahren. Der von Barbara Basting zitierte Lötscher bringt diesen Umstand mit der folgenden Formel auf den Punkt: „Alle gehen näher ran, die Drastik nimmt zu“ (vgl. Basting 2003: 53). Im Gegensatz dazu zitiert 1965 Luc Boltanski einen Fotografen der Zeitung „France Soir“: „Leichen darf man zeigen, aber wohlgemerkt wenn ein Mann oder eine Frau aus dem dritten Stock...