Dieses Kapitel soll in bolivianische Schulsystem einführen, da diese Informationen wichtig für das Kapitel 4 sein werden, in dem ein Blick auf zwei Schulen in Charazani geworfen wird. Zu diesem Zwecke wird zuerst der heutige Stand des Schulsystems erklärt inklusive einer kurzen Untersuchung der staatlichen Lehrpläne. Anschließend erfolgt ein Blick auf die Entwicklung der letzten 20 Jahre und aktuelle Reformen, die noch weitere rezente und zukünftige Veränderungen der Situation an den Schulen erklären könnten. Als letzter Teil dieses Kapitels wird ein Vergleich zum deutschen, bzw. wegen der deutschen föderalen Struktur zum bayrischen Schulsystem unternommen. Dieser Vergleich thematisiert neben den groben Strukturen auch den Lehrplan der beiden Länder (secundaria vs. Gymnasium). Dadurch soll eine Einordnung der Informationen für den Leser ermöglicht werden.
Zunächst soll darauf eingegangen werden, was ein Schulsystem ist. In diesen Begriff fließen verschiedene Teilbereiche mit ein: Die Gesetzgebung, das Bildungsministerium, die Schulen als Institutionen und als physische Objekte, alle weiteren Richtlinien, die den Schulbesuch regeln und strukturieren (auch Schulabschlüsse) und die Finanzierung des Ganzen. Das Gabler Wirtschaftslexikon (o.J.) beschreibt es folgendermaßen:
„Der Begriff des Schulsystems beschreibt die Gesamtheit aller schulischen Institutionen eines Staats. Dies schließt die einzelnen Schulformen, aber auch zahlreiche Regeln zum Schulbesuch und zum Verhältnis der einzelnen Schulformen zueinander, sowie zu den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen ein.“.
Abbildung 4: Schulen Boliviens (eigene Darstellung nach Ministerio de Educación o.J. - Januar 2015)
Das bolivianische Schulsystem sieht für die reguläre staatliche Schulausbildung zwölf Jahre vor, sechs davon in der primaria und sechs in der secundaria, auch colegio genannt, wie die Abbildung 5 zeigt. Das übliche Einschulungsalter in die primaria beträgt 6 Jahre, denn eine teilweise angebotene Vorschule inicial ist optional und vor allem in ländlichen Bereichen kaum verbreitet (siehe 4.2). Im ganzen Land gibt es dennoch 9.504 Schulen der inicial-Stufe. Im Vergleich dazu besuchen die Schüler Boliviens 15.221 primarias. Der Übertritt in die secundaria erfolgt mit zwölf Jahren in eine der 4.707 Bildungseinrichtungen. Bei einer regulär verlaufenden Schulausbildung beträgt das Alter der Absolventen ca. 18 Jahre. Die letzten beiden Schuljahre werden laut Aussage der Schüler des colegios in Charazani pre-promoción (sec. 5. Klasse) und promoción (sec. 6. Klasse) genannt. Mit dem Schulabschluss diploma de bachiller erhalten die Schüler die allgemeine Hochschulreife und können an den Universitäten Boliviens studieren. Den colegios parallel geschaltete Schulen mit niedrigerem Leistungsniveau, wie es die bayrische Sekundarstufe vorsieht, gibt es in Bolivien nicht. Staatliche Schulen können im ganzen Land kostenlos besucht werden, sowohl von Kindern als auch
Abbildung 5: Das Bolivianische Schulsystem und dessen Schuljahre (Ministerio de Educación 2012:95)
von Erwachsenen, wie die untenstehende Grafik mit dem Vermerk „y Adultas“ zeigt. Insgesamt sind in Bolivien 16.999 Unidades Educativas (UE) zu finden, also Schulen, die aus mehreren Schularten bestehen können, wie einer primaria und secundaria. Aber auch eine einzelne Stufe, wie eine inicial kann eine UE bilden.
Das Schulsystem sieht außerdem Sonderschulen vor, die auf verschiedenste Erkrankungen der Schüler eingehen. Davon gibt es 119 im ganzen Land (1), viele sind auf mehr als einen der folgenden Bereiche ausgelegt: Auf Lernschwächen (2 - discapacidad intelectual / mental) sind 76 Schulen spezialisiert, Gehörlose (3 - discapacidad auditiva) 63 Schulen und sehbehinderte Schüler (4 - discapacidad visual) erhalten in 48 Schulen angepassten Unterricht. Auf mehrfache Behinderungen sind 57 Schulen (5 - discapacidad multiple) vorbereitet und 48 Schulen sind für körperliche behinderte Schüler (6 - discapacidad motora / fisica) entsprechend ausgelegt (siehe Abbildung 6). Weil neben Schwächen auch (7) Hochbegabungen (talento superior) unter Schülern nicht unüblich sind gibt es einige wenige Schulen, die sich auf diese Gruppe spezialisiert haben. Alle neun dieser Einrichtungen beherbergen zusätzlich eine Reihe anderer Schüler mit Lernbehinderungen (Ministerio de Educación o.J.). Ob die Schüler getrennt oder nur inklusiv in einer Klasse unterrichtet werden, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden, ebenso wenig die Frage, ob nur eine Schulart oder mehrere Schularten pro Schule oder UE abgedeckt sind, da hierüber keine genauen Daten vorliegen.
Abbildung 6: Sonderschulen Boliviens (eigene Darstellung nach Ministerio de Educación o.J. - Januar 2015)
Neben den staatlich organisierten Schulen gibt es auch private Schulen (escuelas privadas), die sich teilweise durch einen bestimmten Fokus oder eine bestimmte Religionsausübung von den öffentlichen Schulen unterscheiden. Als Beispiel soll die Deutsche Schule - El Colegio Alemán in Santa Cruz de la Sierra genannt werden, deren Besonderheit der integrierte Deutschunterricht ist. So kann man, in Kombination mit einem Auslandssemester in Deutschland, über diese Schule ein allgemeines deutsches Abitur erwerben. Genauso sind aber auch bolivianische Abschlüsse möglich. Der entscheidende Unterschied zu den staatlichen Schulen ist allerdings, dass die Schulbildung nicht mehr kostenlos erfolgt, sondern zum Teil beträchtliche monatliche Beiträge kostet. Daher stehen diese Schulen, die vor allem durch ihre deutlich gehobenere Ausbildung bestechen, nur Kindern der oben Einkommensschicht zur Verfügung, allerdings kommen auch wenige weitere Kinder durch Stipendien in den Genuss dieser Ausbildung (Max Steiner).
Im folgenden Abschnitt wird der Lehrplan der Sekundarstufe der staatlichen, bolivianischen Schulen analysiert. Diese inhaltliche Einengung liegt zum einen am Untersuchungsschwerpunkt colegio, zum anderen aber auch daran, dass mein persönlicher Studienschwerpunkt das bayrische Gymnasium ist und ich daher mit dessen Lehrplan am besten vertraut bin. Das wird für Punkt 3.4 besonders relevant werden, dem Deutsch-Bolivianischen Vergleich. Das Vorgehen erfolgt von den übergeordneten Strukturen des Lehrplans bis hin zu den Inhalten. Als Quelle diente hierbei die Website des Bildungsministeriums von Bolivien, daher erfolgt die Analyse direkt am Originaltext und nicht über Sekundärliteratur.
Abbildung 7: Zielsetzungen des Lehrplans (Ministerio de Educación 2012:5)
Der bolivianische Lehrplan hat fünf aufeinander aufbauende Zielsetzungen, welche durch die Schulbildung erreicht und umgesetzt werden sollen (siehe Abbildung 7). Die Bildung soll zum einen die Produktion (producción) fördern, aber auch die kommunale und die gemeinschaftliche Entwicklung unterstützen (desarrollo comunitario). Bildung soll beständig, also nachhaltig (permanencia) und nah am Lebensalltag der Schüler sein, was mit dem Ausdruck ‚Erziehung über das Leben im Leben‘ beschrieben wird (de la vida en la vida). Es soll also um Inhalte gehen, die für die Schüler in ihrem jeweiligen Lebensumfeld relevant sind, immerhin ist Bolivien durch eine massive soziale (indigene Stämme vs. europäische Abstammung) und natürliche (tropischer Regenwald [Tierra Caliente] vs. andines Hochland [Tierra Helada]) Heterogenität gekennzeichnet, die mit divergierenden Anforderungen an den Lebensalltag einhergeht. Als nächster Punkt wird die vollständige produktive Erneuerung des Landes durch Bildung genannt (innovación productiva integral). Ziel hierbei ist es, das Land durch die Bildung zu neuer Größe zu verhelfen. Mit welchen Themengebieten dies erreicht werden soll, zeigt Abbildung 8.
Abbildung 8: Themengebiete des Lehrplans (Ministerio de Educación 2012:14)
Der Bereich Educación en convivencia con la naturaleza y salud comunitaria beschreibt das Ziel, dass Bildung das Zusammenleben mit der Natur vermitteln, sowie ein gesundes Zusammenleben sichern soll. Dies wird durch die Fächergruppe vida, tierra, territorio (= Leben, Erde, Territorium) im Unterricht umgesetzt. Im Falle des Lehrplans wird diese Gruppe im Anschluss nur noch Ciencias Naturales (= Naturwissenschaften) genannt. Ein weiterer Punkt ist die Educación intracultural, intercultural y plurilingüe. Bolivien ist laut seiner Verfassung ein plurinationaler Staat, das heißt, viele Kulturen und Völker sind als eigenständige Einheiten in einem Staat zusammengefasst. Daraus resultiert eine besondere Herausforderung an einen einheitlichen Lehrplan, der für alle Einwohner Boliviens geeignet ist. So ist eigenes kulturelles Wissen (intra-), aber auch das Wissen...