3 Archetypen – eine Begegnung mit den menschlichen Grundmustern
Der Mikrokosmos Mensch ist in seiner Grundzusammensetzung so beschaffen, wie der Makrokosmos Weltall. Jedes kleinste Teilchen beinhaltet in sich das Ganze. Man kann daraus folgern, dass alle Bausteine, die das Leben bilden, auch in der bewussten und in der unbewussten Psyche enthalten sind.
Wir können uns das Leben beispielsweise als Theaterstück vorstellen, in dem alle wesentlichen Rollen vertreten sind. C.G. Jung hat diese Rollen als Archetypen bezeichnet. Die meisten Menschen haben ein Problem, sich darunter etwas vorzustellen, und so bleibt der Begriff oft nur eine abstrakte Idee, die sich nicht mit Leben füllt. Bei meiner Suche nach einem leicht verständlichen Beispiel, das Ihnen das Wesen der Archetypen nahe bringen kann, bin ich auf das Kasperltheater gestoßen, wie wir es alle aus unserer Kindheit kennen. In diesem Spiel sind nämlich alle wesentlichen menschlichen Grundtypen enthalten.
Die Hauptfigur des Spieles ist der Kasperl, oder auch der Narr. Er ist der Grundtyp des inneren, göttlichen Kindes und steht für die Unbekümmertheit des ursprünglichen Menschen, der, noch unbewusst, den Keim der Weisheit in sich trägt. Dies zeigt sich auch im Charakterbild des Hofnarren des Königs.
In ihrer Arglosigkeit gleicht diese Figur Adam, der noch im Paradies ist und nichts von der «Schlechtigkeit» der Welt ahnt. Dieser Typus verkörpert den Beginn der Lebensreise.
Das Kind in uns ist eine sehr wichtige Figur, und am Anfang jedes umwälzenden Entwicklungsprozesses begegnet man ihm oft im Traum. Wie wir aus der Entwicklungspsychologie wissen, werden die prägendsten Erfahrungen eines Menschen in der frühen Kindheit gemacht. Auf der Basis dieser inneren und äußeren Erlebnisse werden die Verhaltens- und Beziehungsmuster angelegt, weshalb es nahe liegt, dass diese Figur die Projektion des persönlichen Unbewussten eines Menschen ist.
Jeder therapeutische Prozess verlangt ein erneutes Hinsehen, Annehmen und Heilen dieses inneren Kindes. Daher sind Träume, in denen ein oder mehrere Kinder eine Rolle spielen, von großer Wichtigkeit.
Eine weitere Figur ist der Seppel, Kasperls Freund. Er steht für den jungen Mann, der schon ins Leben eingetaucht ist und in der Phase der Pubertät seine Männlichkeit entdeckt. Er symbolisiert den jungen männlichen Krieger, er ist der männliche Held, der Prinz, der die Prinzessin freit. Er ist die erste Stufe des Animus, der, geistig noch unentwickelt, die ungestüme Männlichkeit auslebt.
Mit dem Begriff Animus (lateinisch: Geist, Mut) bezeichnete C.G. Jung in seiner Archetypenlehre das männliche geistige Prinzip, das als innere «Gestalt» in der Psyche der Frau lebt. Alle Archetypen spielen sowohl in der weiblichen wie auch in der männlichen Psychologie eine wichtige Rolle.
Im Menschen sind biologisch beide Geschlechter angelegt: Am Anfang des Lebens weist der menschliche Fötus eine körperliche Zweigeschlechtlichkeit auf, wenn auch in den Genen bereits das eigentliche Geschlecht bestimmt ist. Im Geschlechtsteil bilden sich dann beim weiblichen Menschen die Schamlippen aus den Teilen, die beim männlichen Menschen zu den Hoden werden. Die Klitoris wird zum Penis. Auch an den Brustwarzen des Mannes lässt sich die anfängliche Zweigeschlechtlichkeit noch erkennen.
Die Tiefenpsychologie nimmt nun an, dass, wenn sich der Mensch zu einem Geschlecht ausbildet, das jeweils andere Geschlecht in der Psyche, also im Inneren verborgen, seinen Platz findet. Das bedeutet, dass in der Frau auch ein «innerer Mann» lebt (Animus), und im Mann lebt eine «innere Frau», Anima genannt. Die Suche nach Partnerschaft ist demzufolge immer auch eine Suche nach dem «inneren Mann» oder der «inneren Frau». Und was uns im außen anzieht, also unser Traummann, unsere Traumfrau, hat auch immer Ähnlichkeit mit unserem inneren Gegenüber. Konflikte in unseren geschlechtlichen Beziehungen bringen daher auch immer das Anima/Animus-Problem in Gang, also die innere Auseinandersetzung mit unserer geschlechtlichen Identität. Der Prozess spiegelt sich dann in unseren Träumen wider, indem wir in der Handlung mit gegengeschlechtlichen Figuren konfrontiert sind.
Der weibliche Seelenanteil ist durch die Prinzessin dargestellt. Sie verkörpert das ursprüngliche, noch jungfräulich Weibliche, sie ist das junge Mädchen und die Anima in ihrer ersten, reinen Form. Sie lebt ihre Emotionalität und strebt nach der Liebe.
Für eine weiterentwickelte männliche Form steht der König. Diese Figur verkörpert das Vaterprinzip, die männliche Autorität, den «schöpferischen Sonnengott». Allgemein gesehen, steht der König auch für das kollektive Bewusstseinsprinzip. Er verkörpert damit die gewachsenen Werte und die Anschauungen einer Gesellschaft. Das bekannte Märchen- und Traummotiv, dass der alte König stirbt und durch einen jungen ersetzt wird, weist demnach auf eine Veränderung und Erneuerung im gesellschaftlichen Bewusstsein hin.
Das höher entwickelte weibliche Prinzip ist die Großmutter. Sie steht für das Mutterprinzip, ist die Große Mutter, die alles Leben hervorbringt. Sie repräsentiert die Erd- und Muttergöttin in ihrem positiven Aspekt. Sie ist auch die gute Fee und die große (Himmels-)Königin.
Eine weitere archetypische männliche Figur ist der Zauberer. Er steht für das spirituelle, männliche Element, die Kraft des Geistes. Er ist der Magier oder der Hohepriester mit seiner transformierenden Energie. Im negativen Sinn steht er auch für die dunkle, destruktive Seite des Vaterprinzips.
Die dunkle, negative oder auch «böse» Seite des weiblichen Mutterprinzips ist durch die Hexe ausgedrückt. Sie verkörpert den weiblichen Gegenpart des Zauberers. Sie ist die dunkle Erdgöttin und spiegelt die Natur und ihre Gesetze wider, mit all ihrer Grausamkeit, die sich dem menschlichen Begriff von Moral gänzlich entziehen.
Eine weitere archetypische Figur ist der Polizist. Er verkörpert Gesetz und Recht, Rechtsprechung, weltliche Macht, weltliche Gesetze, den Zensor, das rechte Gewissen sowie die weltliche Moral als Ordner von Gut und Böse.
Eine wichtige Figur ist der Teufel. Er ist der Herrscher der Unterwelt, verkörpert das Böse und das Gebundensein an das Materielle, an die Fessel des Lebens. Er ist die Geisel der Dualität, und als Luzifer, der gefallene Engel, verweist der Teufel noch auf die ursprüngliche Einheit vor der Dualität, weil ja auch er dem Göttlichen entstammt.
Obwohl der Teufel eine sehr mächtige und gefürchtete Figur ist, bezwingt ihn der Kasperl immer wieder durch seinen Witz und sein argloses Herz. Hierin drückt sich der immer währende Kampf zwischen Gut und Böse aus.
Dann gibt es noch das Krokodil (eine kleine Form des Drachen), das mit der Figur der Hexe in Kontakt steht. Hier ist auch die Verbindung zwischen Drache und negativer Frauen- oder Mutterfigur zu erkennen. Das Krokodil versinnbildlicht «das Tier», das Symbol der Urpsyche vor der Menschwerdung. Als Kaltblütler ist es auch evolutionär weit vom Menschsein entfernt. Die «Erinnerung» an dieses vormenschliche, «kaltblütige» Sein ist tief in den untersten Schichten des kollektiven Unbewussten gespeichert, da wir alle von den gleichen Vorfahren abstammen.
Schließlich bevölkerten die Drachen die Erde viele Millionen Jahre lang, zu einer Zeit, als der Mensch noch eine Idee war.
All diese Figuren sind Grundtypen, personifizierte Prinzipien des Lebens, und das Leben spielt mit ihnen ihre Geschichten, so wie ein Kind seine Kasperltheatergeschichten spielt. Alle Tragödien, alle Komödien, alle Märchen, alle Mythen leben von diesen Protagonisten.
Untersuchen Sie selbst einmal eine beliebige Geschichte nach ihren archetypischen Figuren. Sie werden immer wieder die gleichen Rollen entdecken. Legen Sie sich dabei nicht fest auf Namen und genaue Bezeichnungen, geben Sie sich die Freiheit, mit den Figuren zu spielen, sie zu wandeln. Übernehmen Sie nicht vorgefertigte Bilder, lassen Sie sie in Ihrem Leben und in Ihren Beobachtungen frei.
Sie werden immer wieder neue Bezeichnungen hören, zum Beispiel das Bild vom alten, weisen Mann als Archetyp. Er ist eine Synthese aus König und Magier, so, wie die alte Frau eine Synthese von Großmutter und Hexe ist. Auch die Königin kann ein Abbild der Großen Mutter sein. Der Held kann ebenso Züge des Magiers oder Züge des Narren tragen, je nachdem, ob er mehr die Geisteskraft oder eher die körperliche Kraft personifiziert. Der mythische Herkules beispielsweise ist die Heldenfigur, die große Körperkraft aufweist, aber halb göttlicher Abstammung ist, das heißt zur Hälfte aus Geisteskraft geboren ist. Die Prinzessin kann die junge Anima und zugleich den Kindaspekt verkörpern.
So werden Sie mannigfaltige Variationen der Figuren feststellen können, aus deren Zusammenwirken der Stoff für alle Geschichten der Menschheit gewoben ist. Ich möchte Sie anregen, Geschichten und Mythen daraufhin zu untersuchen, wobei ich nicht nur auf die klassischen Sagen oder auf Märchen verweisen will, sondern durchaus auch auf Romanfiguren oder auf Film- und Fernsehhelden der modernen Zeit. Auch hier gelten immer wieder die gleichen Grundschemata. Je erfolgreicher beispielsweise ein Film oder ein Buch ist, desto stärker ist der Inhalt der Geschichte ein Träger kollektiver Projektionen für Themen, die den einzelnen Menschen und die...