Ein Zimmer für sich
Beziehungen zwischen Männern und Frauen können gesamtgesellschaftlich als auch im individuellen Fall entweder hierarchisch oder gleichgewichtig organisiert sein. Oder sie können umstritten und konfliktreich sein, weil man sich weder auf das eine noch auf das andere einigen kann.
Historisch gesehen war die Beziehung zwischen Männern und Frauen meist, aber keineswegs immer, hierarchisch. Es gab lange und interessante Episoden des Gleichgewichts – eine solche Episode werden wir uns gleich noch etwas näher ansehen.
Heute befindet sich die Geschlechterbeziehung in einem Schwebezustand. Hierarchie funktioniert nicht mehr so recht, passt nicht mehr zum Zeitgeist und wird eigentlich von niemandem mehr so richtig gewollt. Aber Gleichgewicht ist auch noch keines entstanden. In der Mitte des letzten Jahrhunderts galten die Männer als verantwortlich dafür, dass Frauen es einfach nicht nach oben schafften. Dann hörten sie weitgehend damit auf, die Frauen zu unterdrücken, und wir müssen uns heute um eine andere Erklärung bemühen, woran es hapert.
Diese Erklärung ist schnell gefunden. Es fehlen zwei Dinge. Erstens fehlt eine Begrifflichkeit. Die Menschen haben kein Bild im Kopf dafür, wie ein Gleichgewicht aussehen könnte. Und zweitens zögern die Frauen, den entscheidenden letzten Schritt zu tun. Sie stellen sich lieber auf die niedrigere Stufe und klagen dort dann lautstark darüber, wie unfair alles ist, als die Konsequenz zu ziehen und die letzten noch nötigen Schritte zu tun.
Bilder für ein hierarchisches heterosexuelles Glück haben wir im Überfluss.
Da steht er, um etliche Zentimeter größer, um einige Jahre älter, weiser und klüger, um zahlreiche Euros reicher, und legt den Arm schützend um SIE. Und ihr Leben wird besser, schöner, sicherer, bequemer, weil sie IHN hat. Und er führt. Wo man als Paar tanzt, führt er. Wenn man gemeinsam im Auto sitzt, ist er hinter dem Lenkrad. Wenn jemand beruflich zurücktreten muss, um die neuen Familienpflichten zu erfüllen, dann ist es sie. Kulturgeschichtlich gab es auch schon andere Bilder. Zwei davon wollen wir hier kurz ansprechen.
Das erste kommt aus dem alten Ägypten. Die Kosmologie dieser Zivilisation war auf dem Bild des Gleichgewichts aufgebaut, bei der Religion angefangen bis hinunter in das letzte Alltagsdetail. Dort gab es keine heilige Dreifaltigkeit, in der Weiblichkeit nicht einmal am Rande vorkam. Sondern es gab Männlich und Weiblich, Himmel und Erde, als die zwei unverzichtbaren, getrennten, aber aufeinander gestützten Prinzipien der Existenz. Wer das Glück hat, das Historische Museum in Kairo zu besuchen, ist überwältigt von der Gleichgewichtigkeit, mit der Frauen in der Kunst und Geschichtsdarstellung dieser Kultur präsent sind. Die Darstellung von Macht ist zu einem auffallenden Ausmaß geschlechtsmäßig ausgewogen. Es ist eine Kultur, die von der Persönlichkeit und Perspektive der Frauen stark und spürbar geprägt ist, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die sich noch nach Jahrtausenden vermittelt. Nicht zufällig hatte diese Kultur einen sehr stark kinderfreundlichen, lebenslustigen, ästhetischen Aspekt, der ebenfalls aus den überlieferten Kulturgütern hervorgeht.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die höfische Gesellschaft in Westeuropa, insbesondere am französischen Königshof. Wir wählen dieses als unser zweites Beispiel, weil »Raum« darin eine große Rolle spielt. Und Raum ist, wie wir schon festgestellt haben, ein stets wiederkehrendes Thema in jenen Beziehungen, die sich um ein erhöhtes Gleichgewicht bemühen.
Am französischen Hof bemühte sich der Adel um standesgemäße Ehen. Das ist bemerkenswert genug, dass es sich lohnt, kurz bei diesem Satz zu verweilen.
Kontrastieren wir dieses Konzept mit dem Idealbild, das bis vor kurzem – und für viele Leute auch heute noch – die Ehepläne in unserem modernen Zeitalter regelt. Dieses Bild geht keineswegs davon aus, dass man das jeweils andersgeschlechtliche Gegenstück zu sich selber ehelichen möchte, sondern Frauen streben danach, »hinauf« zu heiraten – sozial und finanziell. Männer hingegen finden nichts dabei, »hinunter« zu heiraten. Das »Idealbild« gestattet sogar, dass ein gebildeter, erfolgreicher Mann eine Prostituierte heiratet, wie in Pretty Woman, oder eine Putzfrau, wie in der Jennifer-Lopez-Neuauflage dieses seltsamen Märchens.
Über solche Verbindungen hätte die höfische Gesellschaft entsetzt die gepuderten Köpfe geschüttelt, und die Beteiligten hätten niemals Akzeptanz gefunden. Nein, denn ein Mann und eine Frau hatten sich mit einem Ehepartner zu verbinden, der ihnen in Status, in Vermögen, in Bildung möglichst ähnlich war. Ungleichheiten in einem Faktor ließen sich durch eine umgekehrte Ungleichheit in einem anderen aufwiegen, aber nur zu einem bestimmten Punkt – so konnte der bessere Adelstitel wettmachen, dass man ein bisschen zu viel von seinem Vermögen verspielt oder durch schlechte politische Schachzüge verloren hatte. Später ging das so weit, dass sehr wohlhabende Bürgerfamilien sich mit heruntergewirtschafteten Adelsfamilien verbinden durften, zum gegenseitigen Nutzen. Das Prinzip des Gleichgewichts blieb dabei unangetastet – beide Seiten brachten ungefähr gleich viel mit.
Das Prinzip der standesgemäßen Ehe erhöhte in gewisser Weise den Status der Frau zu ihrem Mann. Sie war nicht sein Anhängsel und nicht seine Hilfskraft, sondern sein gleichwertiges Gegenüber. Sie hatte von sich aus Ressourcen – eine wichtige Familie, die Einfluss ausübte, Geld, Kontakte zum Königshaus, eine Rolle in der feinen Gesellschaft. Sie hatte ein Leben, ein eigenes Leben. Dieses Leben gab ihr den Anspruch auf Bewegungsfreiheit, auf Verfügung über ihre eigene Zeit, und auf Raum.
Die höfischen Damen dieser Epoche hatten das, was Virginia Woolf später so schmerzhaft vermisste: ein Zimmer für sich allein. Und nicht nur ein Zimmer, sondern einen Trakt. Einen Trakt, der genauso groß und genauso schön war wie der ihres Mannes.
Der bekannte Kulturhistoriker Norbert Elias beschreibt für uns das typische Wohnarrangement dieser Ehepaare. Dazu gehörten die zwei »privaten Apartments«, »nämlich eins für den Herrn, und eins für die Dame des Hauses. Das eine liegt auf der linken, das andere auf der rechten Seite des großen Hofes. Beide Apartments sind fast völlig gleich aufgebaut: Schlafzimmer und Schlafzimmer liegen einander genau gegenüber. Aber sie sind durch die ganze Breite des Hofes getrennt. Und die Bewohner sehen sich nicht etwa in die Fenster; denn die Fensterfronten gehen bei beiden – um das Geräusch der häufig an- und abfahrenden Wagen zu vermeiden – rückwärts nach den Blumengärten.
Herr und Dame haben beide anschließend an ihr Schlafzimmer ihr eigenes Kabinett, in dem sie bei oder nach der Toilette Besuche empfangen können, beide anschließend daran ihr eigenes Antichambre und beide selbstverständlich ihr eigenes Garderobezimmer.
›Wie lebt sie mit ihrem Mann‹, fragt der neue Diener die Kammerzofe der gnädigen Frau.
›Oh, gegenwärtig sehr gut‹, ist die Antwort. ›Er ist ein wenig pedantisch, aber er ist ehrgeizig; sie hat sehr viele Freunde; sie gehen nicht in dieselben Gesellschaften, sie sehen sich sehr selten und leben sehr anständig zusammen.‹
Das ist natürlich ein individueller Fall; nicht jeder Mann dieser Gesellschaft ist ehrgeizig und pedantisch, nicht jede Dame hat viele Freunde. Aber dennoch wird hier zugleich auch etwas für den Aufbau dieser Gesellschaft durchaus Typisches sichtbar. Diese Gesellschaft ist so weiträumig, dass Mann und Frau verschiedene Verkehrskreise haben können. Der Spielraum für ein Eigenleben ist schon von hier aus, aber ganz gewiss nicht von hier aus allein, für die Verheirateten ein ganz anderer als in einer engräumigen Gesellschaft.«[1]
Wir wissen aus dem historischen Quellenmaterial, dass diese Ehen trotzdem ein Minimum an Gemeinsamkeiten, auch an gemeinsamen sozialen und persönlichen Verpflichtungen, hatten. Darüber hinaus können wir annehmen, dass manche dieser Paare sich gut verstanden und sich um häufige Überschneidungen in ihren jeweiligen Terminkalendern bemühten, während andere das Maximum an Distanz und das Minimum an ehelicher Gemeinschaft suchten.
Interessant ist die Selbstverständlichkeit, mit der diese Epoche der Frau ein Eigenleben zugestand. Und dabei ging es durchaus um keine trivialen Dinge. Viele Freunde zu haben bedeutete, viel Einfluss zu haben. Unserem pedantischen, aber ehrgeizigen Ehemann wird es wertvoll gewesen sein, dass seine Frau seine bestehende Gesellschaft durch ihre eigenständigen Kontakte dermaßen erweiterte. Bei Hof wurde Politik gemacht, und die Netzwerke und gesellschaftlichen Ereignisse waren dabei die treibende Kraft. Hier wurden Karrieren gemacht oder zerstört, Bündnisse geschlossen, Richtungen unterstützt oder sabotiert. Die Frau war eine selbständig Handelnde in diesem politischen Feld.
Ganz zu Recht betont Elias daher den bahnbrechenden Charakter dieses sozialen Systems: »Man kann die Stellung von Mann und Frau in dieser Gesellschaft kurz und knapp kaum deutlicher charakterisieren als durch den Hinweis auf diese gleichmäßige, aber völlig getrennte Anlage ihrer privaten Apartments. Man begegnet hier einer Ehe- und Familienform, die in soziologischen Theorien der Familie vielleicht etwas größere Beachtung verdiente.«[2]
Bestimmt. Was uns aber noch viel mehr interessiert, ist, was wir daraus für die Gegenwart mitnehmen können. Da springen uns vor allem die oben schon erwähnten drei Begriffe ins Auge, die so etwas wie eine Zauberformel für ein glückliches Frauenleben...