Einleitung
Die Tigerin in mir
Ich war wieder mal zu spät dran. Irgendwie war ich immer zu spät dran, wenn ich meine Kinder zum Klavierunterricht, zum Fußball- oder Schwimmtraining brachte oder sie von dort abholte. In meinem Kopf wirbelten all die Dinge herum, die ich erledigen musste: E-Mails abarbeiten, Termine wahrnehmen, Lebensmittel einkaufen … Die Liste schien nie ein Ende zu nehmen. Ich brauchte Koffein! Während meine Anspannung wuchs, wurde ich zunehmend nervös und bekam Kopfschmerzen. Beides würde nach einer Tasse Kaffee schlimmer werden, aber darüber dachte ich nicht nach. Ich dachte nur daran, wie unglaublich verlockend ein kurzer Mittagsschlaf wäre.
Beim Spurwechsel schaute ich in den Rückspiegel und sah meinen Sohn auf dem Rücksitz. Er sah so kraftlos, leer und verloren aus, dass es mir zu Herzen ging.
»Was ist los, Schatz?«, fragte ich ihn.
»Mama«, seufzte er matt und kaum hörbar, »ich will nicht zum Klavierunterricht. Ich will einfach nur nach Hause und spielen.«
Diese einfachen Sätze gingen mir noch mehr zu Herzen. Mein Sohn wollte einfach nur spielen und Kind sein, wie ich es sein durfte. Es traf mich wie ein Donnerschlag: Mit all den Aktivitäten und Programmen, die ich für ihn organisiert habe, machte ich aus meinem sechsjährigen Jungen einen überarbeiteten Mann mittleren Alters. Was war nur los mit mir? Warum hatte ich mich in letzter Zeit so sehr zur Tiger-Mutter entwickelt?
Den strikt autoritären Tiger-Erziehungsstil hat Amy Chua mit ihrer Biographie »Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte« weltweit berühmt gemacht. In diesem Buch berichtet die »Tiger Mom« stolz, dass sie ihren Kindern keine Spielverabredungen, keinerlei eigene Entscheidungen, ja, nicht einmal Toilettenpausen während des Klavierübens zugestanden hat. Es schien, als hätte ich diesen Erziehungsstil übernommen, obwohl er allem zuwiderläuft, das ich wertschätze und woran ich glaube. Damals im Auto, in einem kostbaren Augenblick der Klarheit, nahm ich mir vor, ein paar wichtige Veränderungen vorzunehmen. Ich würde meinen Sohn wieder Kind sein lassen. Ich wollte wieder ein Mensch voller Vitalität und Freude sein, statt im Automatikmodus zu funktionieren. Also ließen wir den Klavierunterricht sausen. Ich muss zugeben, dass ich von diesem Ausflug in die Freiheit genauso begeistert war wie mein Sohn.
Aber um meinem Sohn die Freude am Spielen zurückzugeben, war es nicht damit getan, einfach nur den Klavierunterricht abzusagen. Ich hatte mir immer gewünscht, mit ihm ausgiebig LEGO zu spielen, aber nie die Zeit dafür gefunden. Nun gingen wir endlich in ein Spielwarengeschäft, um LEGO-Steine zu kaufen. Als Kind hatte ich mit diesen Steinen stundenlang Häuser, Tiere und alle möglichen wilden Fantasiekreationen gebaut. Aber als wir im Laden standen, fand ich das LEGO meiner Kindheit nicht mehr. Es gab nur noch LEGO-Kästen zu speziellen Themen, mit eigens gefertigten Teilen und detaillierten Anleitungen, die zeigten, wie das fertige Modell aussehen sollte. Zudem basieren viele der Sets auf knallhartem Merchandising: Disney, Star Wars, Ninja Turtles … Ein Kasten mit einfachen Bausteinen in mehreren Größen und Farben ist fast schon Mangelware.
Die weltbekannte Firma LEGO produzierte ab den 1930er-Jahren zunächst Holzspielzeug, bevor 1949 die Herstellung der berühmten Plastikbausteine startete. Diese Steine gaben Kindern vielfältige Möglichkeiten zu bauen, zu erschaffen, sich etwas auszudenken – Raumschiffe, Häuser, Autos, Tiere, Bahnhöfe, der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Im Lauf der Jahre wurden einige Requisiten, wie Räder (1961) oder menschliche Figuren (1978), eingeführt, um die Spielmöglichkeiten noch zu erweitern.
Anfang der 1990er-Jahre begann LEGO dann, Themenkästen zu verkaufen, die meist vor Weihnachten auf den Markt kamen und im neuen Jahr bald wieder ausliefen. Diese Kästen waren teuer und kurzlebig. Allein 2011 erschienen zehn neue, nur für begrenzte Zeit erhältliche LEGO-Themenkästen.
Auch mein Sohn entschied sich letztendlich für solch einen Kasten. Doch als wir ihn zu Hause öffneten, hatten wir beide Schwierigkeiten mit dem Zusammensetzen des Modells. Frustriert schickte ich meinen Sohn zu seinem Vater. Dann sahen wir beide zu, wie mein Mann mit den Anweisungen kämpfte. Statt sich zu freuen, dass die Kinder mit LEGO spielen, muss man heute eher sagen, dass sie Anweisungen ausführen – oder ihren Eltern dabei zusehen, wie diese sich mit der Anleitung abmühen. Natürlich spielen Kinder dann hin und wieder mit ihrem fertigen LEGO-Star-Wars-Raumschiff, aber dafür täte es ein einfaches Plastikraumschiff vom Wühltisch wahrscheinlich genauso.
Das LEGO meiner Kindheit war kreativ, anregend und garantierte stundenlangen Spielspaß. Es ließ uns die Freiheit zu erschaffen, was wir wollten, ohne Baupläne oder elterliche Unterstützung. Was ist passiert? Warum unterstützen wir als Eltern diesen Wandel vom kreativen zum passiven Spielzeug und kaufen die teuren Themenkästen?
Am Ende des Tages wurde mir klar, dass mein Sohn teure LEGO-Sets ebenso wenig brauchte wie Klavierstunden. Draußen sein, im Matsch buddeln, Würmer ausgraben, das war es, was ich ihn tun lassen sollte.
Was ich von meinen Eltern gelernt habe
Ich bin froh, dass wir an jenem Tag den Klavierunterricht gestrichen haben. In dem Augenblick, den ich brauchte, um diese Entscheidung zu treffen, dachte ich natürlich an meinen Sohn, aber auch an meine Patienten und an meine Eltern. Ich hatte den deprimierten Gesichtsausdruck meines Kindes zuvor schon bei vielen meiner Patienten gesehen – talentierten jungen Pianisten, begabten Sportlern und Mathematikgenies, die erschöpft, zerbrechlich und innerlich leer waren. Nun erinnerte ich mich an einen bekannten Spruch, den meine eigenen Eltern gern zitiert hatten: »Unsere Kinder sind nicht unser Eigentum; sie sind Reisende, die nach dem Weg fragen, und wir wollen ihnen gute Begleiter sein.« Endlich verstand ich, was diese Worte bedeuteten – mein Sohn war nicht mein Besitz, und es war nicht meine Aufgabe, ihn zu steuern und zu programmieren, sondern ihm seinen eigenen Weg zu zeigen. Und trotz all meiner beruflichen Erfahrungen erledigte ich diese Aufgabe gerade furchtbar schlecht. Dieser Gedanke brachte mich zu der Erkenntnis, wie sehr ich meine Eltern wertschätze und wie mein Leben in vielen Punkten ihrem früheren ähnelt und sich doch so sehr unterscheidet.
Meine Eltern kamen aus einem kleinen indischen Dorf nach Kanada – arm, allein und ohne irgendwelche Sicherheiten. Meine Mutter hat nie eine Schule besucht – ich wurde in einigen der besten Einrichtungen der Welt ausgebildet. Mein Vater schaffte den Balanceakt, tagsüber zur Schule zu gehen und nachts Taxi zu fahren, um seine Familie zu ernähren – ich mühe mich ab, um meine drei Kinder, meine alten Eltern, meine Ehe, mein Zuhause, meinen Vollzeitjob, gemeinnützige Arbeit, Familie, Freunde, aber auch eine Vielzahl anderer, oft unnötiger Ablenkungen unter einen Hut zu bringen. Ich überwache die Mathehausaufgaben meines Sohnes für die erste Klasse, während meine Eltern an meiner Zulassung für das Medizinstudium völlig unbeteiligt waren. Nicht die Anweisungen meiner Eltern gaben mir innere Motivation, sondern die Werte, die sie mir mitgegeben hatten. »Denk auch an andere«, bewegte mich dazu, mit 21 Jahren bei örtlichen Veranstaltungen Reden zu halten, um Geld für meine eigene Stiftung aufzutreiben. »Sorge für eine bessere Welt« war mein Antrieb dafür, mit 22 ein Praktikum bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf zu absolvieren. »Setze deinen kreativen Geist ein« animierte mich, ein innovatives neues Programm für Jugendliche mit psychischen Problemen und Drogenproblemen (eines von nur wenigen Programmen dieser Art weltweit) ins Leben zu rufen. »Gehe mit gutem Beispiel voran« ließ mich die Funktion der beratenden ärztlichen Direktorin bei den Child and Youth Mental Health Programs in Vancouver übernehmen, während ich als Teilzeitforscherin bei einem aufstrebenden Biotechnologieunternehmen in Boston arbeitete.
Was im Leben wirklich wichtig ist, habe ich von meinen Eltern gelernt. Als Heranwachsende erlebte ich ihre tiefe Arbeitsmoral sowie ihre Anpassungs- und Innovationsfähigkeit und ihr unermüdliches Engagement für Familie und Gemeinwesen. Unser Zuhause war nicht immer glücklich – bei Weitem nicht. Wie in jeder Familie gab es auch bei uns Stress und Zerwürfnisse, einschließlich vieler ernster Probleme. Trotzdem spürte ich als Kind immer die Liebe meiner Familie. Ich war mir ihrer hohen Erwartungen an meinen Erfolg in allen Lebensbereichen bewusst. Am wichtigsten war ihre Erwartung, dass ich über meinen eigenen Tellerrand hinaussehen und einen positiven Beitrag in der Welt leisten würde. Die Botschaft war klar: »Sei optimistisch und voller Lebensfreude und inspiriere auch andere dazu, damit wir alle in einer besseren Welt leben können.« Diese Aussage stammte nicht aus Strategiesitzungen meiner Eltern und auch nicht von externen Beratern, für die ohnehin weder Zeit noch Geld vorhanden war. Sie ergab sich einfach aus ihren individuellen Persönlichkeiten und Werten.
Eine Kindheit wie meine würden moderne Eltern kaum spontan gutheißen (sofern sie nicht eine ähnliche hatten). Ich kannte keine Terminpläne, Nachhilfe- oder Trainingsstunden oder auch nur Hausaufgabenbetreuung. Als jüngstes Kind einer großen Familie war ich oft mir selbst überlassen....