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Schwester Ambrosina sagte mir nach der schriftlichen Abschlussprüfung, mein Aufsatz sei unerwartet schwach, aber der Experte hätte ihn verteidigt. Ich sei offensichtlich echt lyrisch begabt. Zu ihrem Erstaunen erhielt ich von ihm für meine schwache Leistung in „Deutsch“ die beste Note.
Anders fiel die Prüfung in Methodik aus.
„Besser zur Bühne, als ins Schulzimmer“, sagte die altehrwürdige Schwester Benedikta und taxierte mich entsprechend im Diplom. Vermutlich hatte sie mich kurz zuvor im Seminartheater als „Parzival“ gesehen.
Dass ich aber statt zum Theater ins Kloster ging, daran war erstens die Krankheit schuld, zweitens der Krieg und drittens Gott.
Kurz nach der Mobilmachung im August 1939 hatte ich im Zivildienst einen an die Grenze abkommandierten Lehrer zu ersetzen. Die Kinder liebten mich, „weil sie so schöne hohe Stiefel trägt“.
Nach vierzehn Tagen Schuldienst wurde bei mir eine beginnende Lungentuberkulose festgestellt. Kuren, ein paar Monate, sagte der Chefarzt. Die Heilung brauchte drei Jahre Zeit. Zuerst drunten am Ägerisee, später, nach dem eigentlichen Ausbruch, droben im Walliser Bergland, Montana und Leysin.
In den Augen meiner Lehrerinnen und Freunde war ich „eine hochgradige Individualistin, ständig mit sich selber beschäftigt“.
Zugegeben, das war ich wohl. Aber wie konnte ich anders? Ich musste doch wissen, wer und wozu ich bin. Leysin gab mir Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Was man da tat, war auf Heilung warten, liegen und lesen, auch geistliche Bücher, was mir sonst wohl nicht einfiel. Vor allem rührte mich eines an, als ob es mich aufwecken wollte: „Traktat der Gottesliebe“ von Franz von Sales. Mein Onkel, der Domkaplan an der Kathedrale von Solothurn, hatte es mir geschickt; von ihm erhielt ich auch „Der innere Jubel“, geistliche Texte mittelalterlicher Autoren, und einen kleinen Band, vom „lebendigen Wasser“ nach Joh 4.
Mir wurde bewusst, da gab es überall Dinge und Sachverhalte, große, heilige, an denen ich nicht vorbeikam, was mich aber eher störte.
Erst nachdem ich das Sanatorium verlassen konnte, erfuhr ich, dass ich auf den Tod krank gewesen war.
Und jetzt?
Die Krankheit war das erste, das meine Zukunft zunächst bestimmt hatte.
Die Invasion der Amerikaner unter Eisenhower von Nord-Afrika herüber nach Süditalien hatte damals begonnen. Nur noch die Alpen standen zwischen dem Krieg und unsern Balkons, wo wir lagen und unter Fliegern und Panzergeschütz-Donner auf „Bazillenfrei“ warteten. Dass Hitler vor Torschluss noch einmarschierte, war nicht mehr möglich. Die Russen waren jedoch im Anmarsch, gefolgt von Gräuelberichten aus dem besetzten Wien. Wozu gesund werden, um morgen im Lager umzukommen oder sonstwo erschossen zu werden? Leben und Heilung waren von neuem fragwürdig.
Das erste war die Krankheit, das zweite der Krieg. Beides holte mich zwar aus meinem Narzissmus heraus, stieß mich aber in Ängste, gereizte Langeweile und Leere.
Wozu alles?
Dann wieder dieser Franz von Sales. Es gibt die Heiligen. Was ist mit den Heiligen? Was wussten die? Was war mit diesem Comte de Sales, dass er Bücher über Gott schreiben konnte? Er war ein Radikaler, sie waren alle radikal, auch die kleine Therese. Auch Onkel Domkaplan. Die Leute in der Stadt nannte ihn noch als Ehrendomherrn „s’ Heilig Mannli“. Baten sie sterbenskrank, sie auf den Tod vorzubereiten, fuhr er sie an: „Auf den Tod bereite ich niemanden vor, aufs Leben bereite ich Sie vor!“ Woher diese Sicherheit über das, was nachher kommt?
Wer das weiß, hat der die Antwort auf die Frage: „Wozu alles?“ Diese Frage setzte sich fest in mir, wurde zur unruhigen Sehnsucht nach der Wahrheit und – zur Wehr gegen Gott!
In meiner Erzählung „Monika tanzt“ – „brach langsam die nur angelehnte Terrassentüre ins Zimmer ein, und die dunkelroten Gardinen bauschten sich weit, als wären sie das feierliche Gewand eines großen, aus der Nacht hereintretenden Gastes“.
GA 1, S. 117
Langsam brach eine Türe ein – aber wie David legte ich einen Kieselstein in meine Schleuder …
Es stand in jener Zeit eben so mit mir, dass es mich nicht kümmerte, wer anders noch als ich selbst im Hause lag und was es mit ihm und mit ihm und seiner Krankheit für eine Bewandtnis hatte. Daran war der Kieselstein schuld, den ich gegen mein Herz eingetauscht hatte.
(…)
In unsern Kirchen stehen Opferstöcke, nahe beim Portal. Oft hängt ein bedrucktes Kartonstück daran oder ein Metallschildchen, auf dem zu lesen ist, für wen oder für welchen Zweck das hineingelegte Geld der Gläubigen verwendet wird. Nun war mein Herz solch eine Münze geworden, die ich herlegen musste auf den Opferteller des ewigen Gottes, und ich sollte es hinunterlassen in den Opferstock, an dem keine Anschrift stand, zu welchem Zweck! So sollte also mein Herz, und das ist doch ich selbst, zu gar keinem andern Zweck auf Erden sein als dazu, in der finstern Öffnung des Opferstockes Gottes zu verschwinden, ohne zu wissen wozu, kurz, zu gar keinem Zweck?
(…)
Niemand war da, der mich Gottes wegen trösten konnte. Nichts und niemand stand mir bei gegen Ihn, und niemand sah die arme, rot glühende Herzmünze, die zuckte und brannte unter Seinem Blick, derweil Er, der Allgegenwärtige dastand in mir und um mich in der Finsternis.
aus: „Stern“, GA 1, SS. 140, 144f.
Ich hatte gedacht, mit einem Kieselstein müsste ich Gottes wegen nicht mehr leiden, weil ein Kieselstein nicht leiden kann. Mit einem Kieselstein schützte ich mich vor seinem Griff nach mir.
Aus den Walliser Bergen wieder zu Hause, erfand ich, was ich für meine erste Prosaerzählung halte: „Monika tanzt“, die Geschichte eines jungen Mädchens, das Gott zu widerstehen entschlossen war und hinter dem ich mich selber verbarg.
In ihrer Lizentiatsarbeit 1999 über „Tanz in den frühen Gedichten von Silja Walter“, schreibt Manuela Waeber:
„Das Forschungsinteresse am ‚Tanz in den Frühen Gedichten von Silja Walter‘ war bisher gering. Das ist nicht erstaunlich, da es überhaupt kaum Sekundärliteratur zur Schriftstellerin gibt und gerade das Frühwerk mit dem Klostereintritt ins Abseits geraten ist. Erstaunlich dagegen, da kein anderes Bild häufiger im gesamten Werk zu finden ist als der Tanz. Die dreiteilige Erzählung ‚Monika tanzt‘ handelt von dem jungen Mädchen Monika, welches auf der Suche nach Sinn und Identität Gott begegnet.“ (M. W.)
Monika hatte den „Ruf aus dem Garten“ gehört. Ihre Antwort war Abwehr.
Du sollst mich nicht segnen, Gott, denn ich will glücklich sein!
(…)
Als er nicht locker ließ und mich fragte und fragte, zog ich, es war im August, ein Kleid mit Orchideen darauf an, kaufte mir eine breite, doppelreihige Korallenkette, machte mich schön und fremd und freute mich über meine große Klugheit. So konnte ich Gott sicher entgehen.
(…)
Reddie [mein Freund] hat mir versprochen, nie von Gott zu sprechen. Wir tanzen viel zusammen. Wir tanzen auf den Rändern Gottes. Er stört uns nicht. Ein kleiner Schritt nur, und ich tanze mit Reddie dort hinaus, wo Gott nicht ist.
aus: „Monika tanzt“, GA 1, SS. 122, 135, 134
Das Kleid mit Orchideen, die Korallenkette und Reddie, der Freund, sind erfunden, gehören in die Erzählung, nicht in meine Biografie. Aber Monika war ich selber. Ich brauchte Ausgedachtes um mich herum, um die Bedrängnis mit Gott loszuwerden.
Die französische Dichterin Marie Noël schrieb, es sei nicht gut, sich zu viel Kummer um Gott zu machen. Manuela Waeber zitiert weiter:
„Dann träumte das Mädchen nachts eine Woche lang denselben Traum. Es musste in einer Kirche tanzen:
‚Es gab in der Höhe farbige Fenster, der Chor war dunkel, und im ganzen Raum Orgelmusik. An den Wänden hingen Gesichter, die auf und ab schaukelten. Ich trug ein lan-ges, weites Kleid aus rotem Tuch und tanzte auf einer kleinen Fläche. Mir war, ich sei eine Flamme, denn ich warf einen hellen runden Schein auf den Boden. Ich hielt die Arme ständig über mich hinaus und fühlte sie kaum, ich vergaß, dass ich Arme hatte. Es war ein sonderbarer Tanz.‘ Sonderbar erscheint ihr dieser Traum, der an eine Vision erinnert, die durchaus eine Offenbarung von Gott sein könnte. Kein alltäglicher Tanz wird getanzt, ein anderer Tanz, ein Tanz im Traum.
‚Ich hielt die Arme ständig über mich hinaus‘, heißt es da. Das Abheben der Arme erinnert an das Abheben vom Boden. Im Tanze vergisst sie ihre Arme, vergisst sich, ist ganz Flamme. Den Tanz deutet sie als eine Folge auf das Heimgehen durch die Stadt, die ihren Sinn und ihr Geheimnis in sich und vor sich versteckt. Und dann wird eines Abends dieser Tanz wirklich.“
Was hier in meiner Erzählung folgt, könnte eine Erfahrung aus meiner Zeit in Fribourg...