1. Betrachtung:
Immer naht das Ende der Welt
Setzen wir Zeit und Raum für den Moment eines absurden Gedankens außer Kraft, der da lautet: Es naht das Ende der Welt. Alles wird zugleich kommen. Zugleich stürzen, fallen, krachen. Der Furor des Verschwindens ist unbestechlich – weder gibt es Abfolgen noch Ursache-Wirkungs-Verhältnisse, es gibt nur noch Gleichzeitigkeit. Und blicken wir mit dieser Gewissheit kurz zurück auf die Jahre 2010 und 2011 als einen besonderen Abschnitt der Zeitläufte, ein gut verschnürtes Bündel Weltgeschichte: In selber Zeit und selbem Raum wie die Völker in Tunesien, Ägypten, Libyen gegen ihre Unterdrücker rebellierten, erschienen in Frankreich Bücher, die den Aufstand prophezeiten und die Empörung gegen die Herrscher übers Kapital forcierten. Und zur selben Zeit verschleierten Aschewolken aus einem isländischen Vulkan den Himmel über halb Europa und paralysierten bei ausbleibendem Flugverkehr die globale Just-in-time-Ordnung. In Japan gab es Tsunami, Erdbeben und Kernschmelze, in Deutschland wütete der sogenannte EHEC-Erreger, und auf der Sonne ereignete sich eine gigantische Eruption, woraufhin 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ein dramatischer Sturm einsetzte, bei dem riesige Partikelmengen ins All geschleudert wurden, mit, wie es hieß, verheerenden Auswirkungen auf unseren Planeten. Dann bebte im Kurdengebiet der Osttürkei die Erde in einer amtlichen Stärke von 7,2 auf der Richterskala, massenweise Tote waren zu beklagen, und zur selben Zeit brauchte das marode Griechenland im Endspiel um seine Existenz abermals einen einige Milliarden Euro prallen Rettungsschirm, während der deutsche Zeitgenosse noch immer in dem seit Jahrzehnten schlimmsten Verhängniszusammenhang von Krisen und Hyperkrisen gefangen war. Europa war in der Krise, der Euro war in der Krise, das Politische war in der Krise, die Politik war in der Krise, die Koalition, die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, der Finanzmarkt, der Kapitalismus, die Banken waren in der Krise, die Hoffenden, die Liebenden, ja, der Mensch an sich war in der Krise.
Ist das menschliche Leben nicht vielmehr der fatale Gesamtzusammenhang einer einzigen, großen, alles überwölbenden Krise, die jeder Einzelne zu bewältigen hat und nicht bewältigen kann? Vielleicht könnte man sagen: Das Leben ist eine Krise an sich. Ein System an unermüdlicher, nie gelöster Krisenprophetie, Krisenangst, Krisenprävention, Krisentherapie. Permanent Strategien zur Krisenbewältigung zu entwerfen und anzuwenden – im Sinne der Bewältigung eines vom Unglück bedrohten Lebens –, ist mühsam, auszehrend, verunsichernd und vor allem existenziell bedrohlich. Mit nichts scheint der Mensch schlechter zurechtzukommen als mit Komplexität und Unberechenbarkeit – beides aber charakterisiert den Fortschritt, und Fortschritt ist der Gott des Systems aus Gläubigern und Schuldnern. Jedem Fortschritt inhärent ist die Panik vor dem Fortschreiten. Mal äußert sie sich dezent, mal unüberhörbar. Man gibt gewohntes Terrain auf, löst den Anker und stellt sich den Wogen des unberechenbaren Meers: So ist des Fortschritts Risiko seit Jahrhunderten. Und Unberechenbarkeit, die Tochter des Fortschritts, übt ungehörig, wie sie ist, gegenüber dem Drang zu Kontrolle und Ordnung veritablen Ungehorsam.
Deuten also nicht alle inneren und äußeren Umstände des vergangenen Jahrfünfts auf die nahenden letzten Tage der Menschheit hin? Während der Finanzkrise stand die Welt augenscheinlich einen Fußbreit vor dem Abgrund – innere Aushöhlung, Kollaps des Systems, Bruch der Organisationsstruktur. Dann bebte in Haiti die Erde und ließ ein ganzes Land verschwinden, es bebte die Erde in Neuseeland, und der Schlund verschlang ganze Dörfer. Es schwoll die Angst vor einem Beben im Yosemite-Nationalpark und in San Francisco, und irgendwo zuckte immer ein Boden. Zeitgleich geschahen weitere Katastrophen, nicht bedingt durch den fatalen Klimawandel, sondern durch Kollision der Platten unter den Weltmeeren, auf die Eingeweihte schon lange gewartet hatten; beständig arbeitete die Tektonik fort – Überschwemmungen, Zerstörungen, Tod und Trauer bedrohten Abertausende von Existenzen und Leben, die Medien brachten unendliche Geschichten von Leid, Schmerz, Trauer und innerer Verwüstung. Dann kam der siebenmilliardste Mensch auf die Welt, und der Ökonom Wolfgang Fengler schrieb aus seinem Büro der Weltbank in Nairobi in einem Zeitungsaufsatz: »Der Bevölkerungstheoretiker Thomas Malthus weissagte Ende des 19. Jahrhunderts, den Menschen werde die Nahrung ausgehen, wenn die Weltbevölkerung so rasant wachse. Damals hatte die Welt weniger als eine Milliarde Menschen. … Im Augenblick erhöht sich die Zahl der Weltbevölkerung jedes Jahr um 80 Millionen Menschen.« Was anderes als das Ende ist daraus zu schließen?
Schließlich passierte es. Elfter März 2011. Ein Horror-Beben im Pazifik. Eine tektonische Plattenverschiebung. Gigantische Tsunamis, sechs, acht, zehn Meter hohe Wellen, Tausende Tote, Zehntausende Vermisste, zahllose Traumatisierte. Der Reaktor war geborsten, es drohte eine radioaktive Verseuchung ungeahnten Ausmaßes, es drohte die Kernschmelze. Das Endzeit-Fanal der jüngsten Geschichte hatte einen Namen: Fukushima.
Es war die stärkste jemals registrierte Erschütterung. Sie löste einen Tsunami aus. Bis zu 40 Meter hohe Wellen verwüsteten die Nordostküste der Insel Honshu. Orte wurden weggerissen, Straßen fortgespült. 19 000 Menschen starben. Es war die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten: 210 Milliarden Dollar. Der Vorstand der Munich Re, Torsten Jeworek, sagte Anfang 2012: »Eine Serie schwerster Naturkatastrophen wie im abgelaufenen Jahr gibt es nur selten. Es handelt sich hierbei um Ereignisse, deren Wiederkehrperioden zum Teil bei einmal in 1000 Jahren liegen.«
Der Nordosten Japans wurde zuletzt im Jahr 869 von einer vergleichbar verheerenden Flutwelle getroffen. Fukushima aber wurde zur Katastrophe durch jene Technik, die angetreten war, das Leben berechenbar zu machen.
Deutete also nicht alles auf das Ende der Welt hin, vielleicht tatsächlich am 21. Mai 2011, wie der amerikanische Laienprediger Harold Camping seit langem raunte? Doch was geschah an diesem Tag? Nichts. Er verging, ohne dass in der Welt Umstürzenderes geschah als die üblichen Morde und Totschläge, die kleinen geschäftlichen oder zwischenmenschlichen Katastrophen, die bunte Phänomenologie des menschlichen Leids als kreatürliches Schicksal. Kein Höllenfeuer, kein speiender Drache, keine Eruption, kein Asteroid, nicht einmal ein kleines Erdbeben, geschweige denn die Epiphanie des Bösen in Gestalt eines Vulkanausbruchs oder einer Homosexuellenparty. Nein, schlichtweg nichts. Auf phänomenale Weise versagte Campings Vorhersage des »Judgement Day«, mit dem auf großflächigen Plakaten in amerikanischen Großstädten oder auf den Philippinen, in Vietnam, Mexiko und Neuseeland geradezu polternd das Ende der Welt angekündigt wurde – begleitet von audiotonen Prophezeiungen via »Family Radio« und auf »Judgement Day«-Fahrten des entsprechend lackierten Family-Radio-Busses. Das Motto der Hörfunkwelle lautete: »Feeding God’s sheep«, wahlweise »Weide meine Schafe«, ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes. Der Weltuntergangshörfunk, so wurde aus den USA berichtet, trieb sein Anliegen gar so weit, dass der Text »Gay Pride: Sign of the End« wegen seiner die Schwulen verhetzender Sprache von der Homepage genommen werden musste.
Doch dieser 21. Mai ging zu Ende, wie er begann: als kalendarisches Faktum. Und er mündete freundlich in den 22. Mai, und die freudentaumelnde Entrückung der Gerechten, wie sie die Radioprediger vorhergesagt hatten, blieb aus. Mit der sogenannten »Entrückung« freilich sollte das dramatisch umflorte Ende der Welt seinen Lauf nehmen; Aberhunderte christlicher Fundamentalisten warteten an jenem Samstag vergeblich auf das schwere Erdbeben, mit dem der Weltuntergang um Punkt 18 Uhr amerikanischer Ortszeit eingeläutet werden sollte. Weil auch Propheten irren (autodidaktische zumal) und weil Irren womöglich menschlich ist, korrigierte sich der damals 90-jährige amerikanische Radioprediger und selbsternannte Bibelforscher Harold Camping, ein gelernter Bauingenieur und Vater von sieben Kindern, in peinvoller Zerknirschung und stufte die angekündigte »Entrückung« auf ein »geistliches Gericht« herunter – nicht allerdings, ohne auf den definitiven Weltuntergang am 21. Oktober 2011 zu verweisen, der dann aber, wie der gute Mann dröhnte, noch viel dramatischer als angenommen ausfallen werde: »Am 21. Oktober«, prophezeite Camping, »wird die Welt zerstört. Und es wird alles auf einmal passieren.«
In wahrscheinlich absichtsvoller Ironie gab die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta daraufhin Verhaltensregeln für den Weltuntergang aus und ließ wissen, dass es im Fall einer Invasion der Zombies zunächst ratsam sei, eine Notfall-Ausstattung mit Wasser- und Lebensmittelvorrat im Haus zu haben. Zuletzt folgte das Versprechen der Regierungsbehörde: »Sollten Zombies durch die Straßen schlendern, wird das...