Vorwort
Dieses Buch ist das Ergebnis eines kapitalen Schwindelanfalls. Nach über 20 Jahren als Journalistin mit Stationen in den USA und dem Nahen Osten, mit ausgedehnten Reisen durch Nordamerika, Russland und Zentralafrika habe ich nicht den großen oder größeren Überblick gewonnen, sondern Zweifel an der eigenen Perspektive bekommen. Ich habe die Orientierung verloren. Nicht dass ich allein stünde mit dieser Erfahrung. Inzwischen ist sie ein westliches Lebensgefühl. Was meine Generation für die globale Hausordnung gehalten hat, löst sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf.
Mein Berufsleben begann im Frühling 1989, also in einem Schicksalsjahr, in der Lokalredaktion der taz in West-Berlin. Die Redaktion stellte mich ein, weil ihr eine Reportage von mir über den »Polenmarkt« gefallen hatte. Das war damals eine Brachfläche auf dem Potsdamer Platz. Polnische Bürger, seit 1988 mit größerer Reisefreiheit ausgestattet, verkauften dort billige Produkte aus Osteuropa. Geschmuggelte Zigaretten, Plastikteller, Zwei-Mark-T-Shirts, Schnaps, eingelegte Gurken, Kristallgläser, Schraubenzieher. Der Markt war völlig frei von multikultureller Romantik. Die Berliner fanden die preiswerten Angebote unwiderstehlich und die damit verbundene Anwesenheit der Polen unerhört. Die Polen schätzten die Kauflust der Einheimischen, hassten ihre Arroganz und fuhren mit wertvoller D-Mark und gefestigten anti-deutschen Vorurteilen wieder nach Hause.
Diese neue Durchlässigkeit des »Eisernen Vorhangs« hätte man für ein Zeichen bevorstehender großer Umbrüche halten können. Doch mir erschien der »Polenmarkt« damals wie eine exotische Story, fest eingebettet in das Korsett des Ost-West-Konflikts. Ich ahnte nicht im Geringsten, dass diese berechenbare Welt noch genau ein halbes Jahr Bestand haben würde – bis zum Mauerfall am 9. November 1989.
Nicht dass es vorher langweilig gewesen wäre. Zum Selbstverständnis der taz-Redaktion gehörte es, fast alles aufregend zu finden und sich über fast alles aufzuregen. Wir sahen uns als Kollektiv kritischer Journalisten, die herrschende Meinungen hinterfragten, Machtstrukturen grundsätzlich suspekt fanden und die Welt immer aus der Perspektive der Schwächeren betrachteten.
Was wir auch taten. Aber trotz allen linken Bewusstseins natürlich mit einem westlichen Blick. Denn so leidenschaftlich wir Zustände als reaktionär, unmoralisch und ausbeuterisch geißelten, so gern wir immer wieder den ökologischen oder politischen Untergang beschworen, wähnten wir uns insgeheim doch auf einem festen Fundament. Das bestand aus einer westlichen Wohlstandsgesellschaft; einem stabilen Frieden in Europa, befestigt durch den Eisernen Vorhang; und der Überzeugung, dass der Westen, also wir, im guten wie im schlechten Sinne Tempo und Richtung globaler Entwicklungen vorgibt. All das bildete das Gerüst für meinen Beruf, für mein Berichten über die Welt. Auf meinen realen und imaginären Landkarten blinkten jahrelang die klassischen Schaltstellen der Macht auf: Washington, Paris, Moskau, die Wall Street und die Börsen in Tokio, Frankfurt und London. Die Linien der Landesgrenzen bewiesen in meinen Augen die Unantastbarkeit von Nationalstaaten. Die Ortsmarken der rituellen Gipfeltreffen der UN, der EU, von G8 oder G20 vermittelten den Eindruck der Beherrschbarkeit von Wandel und Krisen – auch wenn ich darüber aus der Warte der Gegendemonstranten berichtete.
Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer und über anderthalb Jahrzehnte nach dem 11. September 2001 ist von diesen Gewissheiten nicht mehr viel übrig geblieben. Der Westen existiert weiterhin als Himmelsrichtung. Als geopolitische Macht und normstiftende Einheit schrumpft er rapide, löst sich womöglich auf, erfindet sich vielleicht neu. Frieden und Wohlstand sind in Europa nicht mehr selbstverständlich – und waren es ja auch nie gewesen. Der Glaube, dass wir den Lauf der Welt bestimmen, hat sich als Hybris erwiesen. Meine mental maps, an denen ich mich orientiert hatte, taugen nicht mehr. Sie haben vielleicht nie getaugt.
Bücher haben viel zu dieser heilsamen Erschütterung beigetragen. Die europäisch-amerikanische Monokultur in der Debatte über Weltordnungen, Werte und Globalisierung ist glücklicherweise zu Ende. Längst mischen sich afrikanische, asiatische und arabische Stimmen ein. Meist drei- oder viersprachig aufgewachsen, ebenso vertraut mit den Klassikern westlicher Philosophie und Geschichtsschreibung wie mit der Geistesgeschichte Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens, demontieren Autoren und Autorinnen wie Achille Mbembe, Cemil Aydin, Teju Cole, Pankaj Mishra, Kamila Shamsie, Arundathi Roy oder Nadeem Aslam die Geographie der herrschenden Weltsicht.
Den endgültigen Anstoß zu diesem Buch gab trotzdem ein Europäer. »Abendländer haben in einmaliger Weise die Weltgeschichte verengt, indem sie das wenige, was sie über die Entwicklung der Menschheit wussten, von den Völkern Israels, Griechenlands und Roms herleiteten«, schrieb der Franzose Henri Cordier, einer der führenden Linguisten und Ethnologen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. »Folglich ignorierten sie all jene Reisende und Entdecker, die in ihren Schiffen das Chinesische Meer und den Indischen Ozean durchquerten oder durch die immensen Weiten Zentralasiens bis zum Persischen Golf ritten. Tatsächlich ist also der größere Teil des Globus mit all den anderen Kulturen, die sich von den Griechen und Römern unterschieden, aber nicht weniger zivilisiert waren, jenen unbekannt geblieben, die die Geschichte ihrer kleinen Welt aufgeschrieben haben in dem Glauben, sie schrieben Weltgeschichte.« Die Lektüre dieser Zeilen fühlte sich an wie ein aufmunternder Schlag auf den Hinterkopf von einem, der schon vor über hundert Jahren erkannt hatte, dass die ausschließlich westliche Perspektive die Sehfähigkeit stark beeinträchtigt.
Dieses Buch ist kein Abgesang auf vergangene, vermeintlich bessere Zeiten. Es ist auch keine Abrechnung mit dem Westen. Es sind Reisen und Recherchen durch Länder und Epochen. In meiner Ratlosigkeit bin ich einfach noch einmal aufgebrochen auf der Suche nach Wegen, Schnittpunkten, Weichenstellungen, die ich vorher nicht gesehen hatte. Und nach Geschichten, die ebenso von der Wahrnehmung des Westens in Asien, Afrika und dem Nahen Osten erzählen wie von unserem Selbstverständnis des Westens als ewigem Hauptdarsteller.
Meine Stationen scheinen willkürlich gewählt. Venedig, Mogadischu, Guangzhou, Bagdad, Alexandria, Słubice – um nur einige zu nennen. Ich hatte in der Tat keinen festen Plan. Ich hatte nur eine faszinierende Weltkarte, die für mein Vorhaben zunächst völlig ungeeignet erschien. Sie stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der amerikanische Kontinent fehlt, weil Europa von dessen Existenz damals noch nichts wusste. Aber sie ist ein herrliches Kunstwerk. Und sie ist ein Bekenntnis zum Zweifel. Der Kartograph, ein venezianischer Mönch namens Frater Mauro, hat sie mit Hunderten von Kommentaren und kurzen Geschichten beschriftet, manche erklärend, manche fragend. Er war vielleicht der erste Kartenzeichner, der zugab, dass die Welt sich permanent verändert, sosehr man sie auch mit Längen- und Breitengraden, mit Ortsangaben und topographischen Details festzuhalten versucht. Diese Karte schien mir ideal, die neue Geographie des Ungewissen zu erkunden und zu entdecken, was mir alte Sicherheiten nimmt. Mauro ist der Grund, warum diese Reise durch Raum und Zeit in Venedig beginnt.
Als ich dieses Buch zu schreiben begann, war ich längst nicht mehr Redakteurin bei der taz, sondern Nahost-Korrespondentin der ZEIT mit Sitz in Beirut. Ich bin Ende 2013 in den Libanon gezogen, mitten hinein in eine Region, die noch nie eine Oase des Friedens war. Jetzt ist sie zu einem expandierenden Katastrophengebiet geworden und wird es für einige Zeit bleiben. Dort treten gleichzeitig und mit geballter Wucht all die globalen Umbrüche auf, die schon jetzt dieses 21. Jahrhundert prägen: Die Krise des Nationalstaates; die eklatante ökonomische Ungleichheit, verschärft durch den Klimawandel; der Machterhalt von Diktatoren um den Preis der Zerstörung des Landes; die Verlockung des militanten religiösen Fanatismus; und ein irrwitziger und irregeleiteter »Krieg gegen den Terror«, ausgelöst durch das zweite epochale Ereignis in meinem Berufsleben nach dem Fall der Mauer: die Terroranschläge auf New York und Washington am 11. September 2001. Die habe ich in den USA erlebt. Beim vorläufig dritten epochalen Ereignis war ich bereits im Nahen Osten: der Wahl des Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA – einer amerikanischen Tragödie mit ungewissem Ausgang für die Welt.
Journalisten sollen solche Ereignisse beschreiben und erklären. Aber mir ist in den vergangenen Jahren immer wieder der Boden unter den Füßen weggerutscht. Manchmal buchstäblich. Aus Nationen sind Fragmente geworden, aus Völkern Flüchtlinge, aus Städten Trümmerlandschaften. Manche Menschen, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin, kennen seit ihrer Kindheit nichts als Krieg oder Ausnahmezustand. Fast alle, die ich in Asien und in Afrika getroffen habe, wissen, was wir in Westeuropa und den USA vergessen haben: dass die eigene Existenz innerhalb weniger Monate, manchmal innerhalb eines Tages oder eines Sekundenbruchteils von der Normalität ins Chaos kippen kann. Am allerbesten wissen das die Menschen im Nahen Osten. Irgendwann hatte ich mich in meinem neuen Berichtsgebiet an dieses Lebensgefühl einigermaßen gewöhnt. Trotzdem stieß ich immer wieder an die Grenzen meines Berufs. Mir fehlten oft die Worte, um zu beschreiben,...