Kapitel 2
Trauern, um glücklich zu sein
Ganz oben auf der Liste der Dinge, die ich überhaupt nicht mag, steht: mitten aus einem tollen Traum aufzuwachen.2
Finden Sie das nicht auch schrecklich? Sie liegen im Bett und haben diesen unglaublichen Traum, der mit dem wirklichen Leben rein gar nichts zu tun hat. Einfach nur gut. Und gerade, wenn es am besten wird, wachen Sie auf. Moment mal! Nein! Das hat gerade Spaß gemacht.
Am ärgerlichsten ist das, wenn der Traum davon handelte, Stress zu entkommen. Was Sie zum Aufwachen bringt, sind Sie selbst, weil Sie sich nämlich im Traum auffordern, bloß nicht aufzuwachen – so gut ist der Traum.
Als ich mich daranmachte, dieses Kapitel zu schreiben, hatte ich mir Stift und Papier auf dem Nachttisch zurechtgelegt. Wenn ich dann aus einem richtig guten Traum ohne jede Verbindung zum wirklichen Leben aufwachte – so hatte ich es mir vorgestellt – könnte ich ihn schnell aufschreiben und mich so daran erinnern. Meiner Meinung nach war das eine großartige Idee, aber leider träumte ich nur von einer Schüssel gezuckerter Cornflakes.
Im Ernst – man wird alt und bemitleidenswert, wenn man davon träumt, gezuckerte Cornflakes zu essen statt der ungezuckerten.
Trotzdem ist es offenbar ein ehernes Gesetz, dass mich mitten in einem tollen Traum etwas aufweckt.
Traumstörer
Man sagt, das Leben sei nur ein Traum. Wenn das stimmt, schreckt man aber viel zu oft aus dem Schlaf hoch. Ich wette, das ist Ihnen mehr als einmal passiert. Ich meine die Zeiten, als alles wunderbar zu laufen schien. Doch dann geschah irgendetwas, und dann gerieten Sie in raue See. Ich bin oft am Ende, wenn meine Träume aufhören.
Vielleicht passierte Ihnen das schon in der Kindheit, als Ihr Vater und Ihre Mutter Sie baten, sich hinzusetzen, und auf einmal das Wort Scheidung im Raum stand.
Vielleicht war es der Mensch, mit dem Sie Ihr weiteres Leben verbringen wollten, der Ihnen sagte, dass das einfach nicht funktionieren würde.
Vielleicht war es ein Anruf: Ein Unfall war geschehen, und Sie sollten sofort ins Krankenhaus kommen.
Vielleicht war es ein Text, der nicht für Ihre Augen bestimmt war, und in dem Sie von der Affäre erfuhren.
Vielleicht teilte Ihr Chef Ihnen mit, dass die Stelle, auf der Sie schon jahrelang arbeiteten, gestrichen würde.
Sie lebten Ihren Traum, und dann rüttelte Sie das Leben wach. Es drängte sich in Ihren Traum. Aufzuwachen bedeutet, etwas zu verlieren – Geld, Gesundheit, Arbeit, Unschuld, einen Menschen, der Ihnen viel bedeutet.
Leben heißt auch verlieren. Sie werden an Ihre Grenzen stoßen, am Ende sein. Darauf sollten Sie sich einstellen.
Sechswortgeschichten
Ernest Hemingway schloss einmal eine Wette ab. Ich kann mir vorstellen, dass er das öfter tat, aber diese spezielle Wette kam beim Essen mit anderen Schriftstellern zustande, und seither macht sie die Runde.
Die anderen wetteten um zehn Dollar, dass er keine Kurzgeschichte in sechs Worten schreiben könnte. Hemingway nahm die Wette an, zog eine Serviette hervor und schrieb die folgende Geschichte darauf nieder:
Zu verkaufen, Babyschuhe, noch nie getragen.
Hemingway wusste um die Macht der Worte, sogar einiger weniger Worte – diese Knappheit zeichnete seinen Stil aus. Die anderen hätten lieber mit einem der großen russischen Romanschriftsteller wetten sollen. In diesen sechs Worten steckt wirklich eine Geschichte, und eine anrührende noch dazu.
Das können Sie auch. Sie könnten mir mit sechs Wörtern – unterschiedlichen Wörtern – Ihre Geschichte erzählen. Wie würde Sie aussehen?
• Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.
• Ich gehe. Unsere Ehe ist vorbei.
• Wir brauchen Sie hier nicht mehr.
• Aber wir können gern Freunde bleiben.
• Die Chemotherapie schlägt leider nicht an.
• Sie können leider keine Kinder bekommen.
• Eine Rose vom Sarg für dich.
Das ist der Übergang vom Traum zur Trauer. Aber was, wenn es alles anders wäre? Wenn ich die Gleichung umdrehen könnte, aus einem Albtraum aufwache, um etwas Schönes zu träumen? Wenn meine Trauer in einen Segen mündet?
Das ist noch ein Beispiel dafür, wie Jesus das Leben auf den Kopf stellt und von innen nach außen wirkt. Wenn wir enttäuscht und niedergeschlagen sind und wir das Gefühl haben, wir seien am Ende, schlägt er eine neue Seite auf und zeigt uns eine neue Geschichte, die von Hoffnung und Rettung handelt.
Als Jesus mit seiner Predigt fortfährt, die er auf einem Berg nicht weit vom See Genezareth hält, zeigt er, dass das Leben ganz anders aussehen kann, wenn man es durch die Brille des Reichs Gottes betrachtet. In Gottes Reich, so sagt er, ist alles heruntergesetzt, was vorher ein teures Preisschild trug, und das billige Mitbringsel ist nun extrem wertvoll. Der Milliardär wird zum armen Schlucker. Der Obdachlose ist König.
Schauen wir uns den Zusammenhang in Matthäus 5-7 noch ein wenig näher an. Matthäus sagt uns, dass eine Volksmenge zusammengekommen war, um Jesus predigen zu hören. Das griechische Wort bedeutet eigentlich „eine große Gruppe nicht identifizierbarer Menschen“. In den Jahren, die ich als Vortragsredner unterwegs bin, habe ich etwas über große Gruppen nicht identifizierbarer Menschen gelernt: Alle bringen ihre Geschichten mit, die von Leid und zerplatzten Träumen erzählen. Menschen um sich herum zu versammeln, bedeutet, traurige Geschichten zu sammeln. Das gilt sogar für ein Treffen von Warenhausweihnachtsmännern.
Ich bin mir dessen besonders bewusst, wenn ich in meiner Gemeinde predige. Ohne es zu wollen, habe ich die Menschen im Blick, die ich gut kenne – Menschen, die das Leben aus ihren Träumen gerüttelt hat. Links sitzen die Eltern, deren Tochter an Krebs erkrankt ist, hinten sitzt eine Witwe, die der Gedanke erschreckt, nach dem Gottesdienst in ein leeres Haus zurückzukehren. Und rechts sehe ich den jungen Mann, der gerade von seinem dritten Entzug nach Hause gekommen ist.
Manchmal sehe ich ein Ehepaar, das getrennt sitzt. Und ich kenne auch die Geschichte, die dahintersteht, so wie auch einige andere Geschichten. Doch Jesus kennt sie alle.
Ich frage mich, ob Jesus die Volksmenge auf dem Berg musterte und die zahllosen traurigen Geschichten sah. Wir wissen nicht, was ihm durch den Kopf ging, doch was er sagte, verblüfft uns – und seine Zuhörer muss es damals ebenfalls verblüfft haben. Er beginnt mit den Seligpreisungen, Antithesen, die alles umwerten. Diese Seligpreisungen: Alles klingt falsch.
Wir haben die erste Seligpreisung betrachtet: „Glückselig die Armen.“ Ja, klar! Ins Schwarze getroffen, Jesus! Wer fühlt sich denn glückseliger als die Leute, die wirklich nichts zur Verfügung haben? Ich sehe die Leute schon mit den Augen rollen. Dieser Rabbi macht wohl Scherze. Und dann kommt er zur nächsten Seligpreisung, und die übertrifft die erste sogar noch.
Glückselig sind …
Na, was kommt jetzt wohl? Wie würden Sie diesen Satz ergänzen, wenn Sie davon ausgehen, wie diese Welt funktioniert? Glückselig sind:
• die, deren wildeste Träume wahr werden.
• die, die die besten Jobs bekommen.
• die, die ein Supermodel heiraten.
Jesus setzt diesen Satz so fort:
Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
(Matthäus 5,4; ELB)
Einen Moment mal. „Glückselig die Trauernden“? Mehr hat er nicht zu bieten?
Im ersten Jahrhundert, in einem Zeitalter hoher Kindersterblichkeit und kurzer Lebenserwartung, als viele Menschen Hunger litten und das eigene Land besetzt war, sagt er diese Worte in der Bergpredigt. Ein Großteil seiner Zuhörer gehörte zu diesen Trauernden. Und niemand von ihnen steht auf und ruft: „Ja, du hast recht! Trauer ist das Größte!“
Wir haben schon erwähnt, dass Jesus häufig zu einem Paradoxon griff, aber das hier geht doch deutlich weiter, oder? Langsam wird es lächerlich. Widersprüchlich. Jesus sagt hier doch so etwas wie: „Glücklich sind die Traurigen.“
Die Situation betrauern
Für den Anfang wäre es ganz gut herauszufinden, was Jesus eigentlich meint, wenn er trauern sagt. Die Bibel liefert dafür einige Beispiele.
Zunächst einmal trauern wir über unsere tatsächliche Lebenssituation.
Die Realität reißt uns aus unseren Träumen, und zwar zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Wir haben uns diese Realität weder ausgesucht noch eingeladen. Sie tritt die Tür ein und kommt herein. Irgendetwas, worüber wir keine Kontrolle haben, verändert alles.
Ich würde Ihnen liebend gern fünf praktische Tipps an die Hand geben, wie man diesen Traumkillern aus dem Weg geht, aber das geht nicht. Das Leben hat es so an sich, dass jeder irgendwann aufwacht. Jeder hat es einmal erlebt, dass man sich nach dem Gestern sehnt, als man noch nicht wusste, wie gut man es hatte, kurz bevor die Welt über einem zusammenbrach. Wenn das geschieht – und wenn es noch nicht geschehen ist, wird es irgendwann geschehen –, sagt Jesus: Glückselig bist du.
Vielleicht kann man diesen Satz einfach aus dem richtigen Blickwinkel...