1. Kapitel
Leider doch kein so großer Schritt für die Menschheit: Die Mondlandung der Apollo 11 und das Woodstock-Festival
Menschen, wohin man auch schaut. Zwei gewaltige Massenversammlungen prägen den Sommer des Jahres 1969. Insgesamt anderthalb Millionen kommen im Abstand von wenigen Wochen zusammen, um jeweils einem utopischen Ereignis beizuwohnen; einem Ereignis, in dem die Versammlungsteilnehmer – jede Gruppe für sich – den Anbruch einer neuen Ära erkennen, wenn nicht gar: den Fortschritt der Menschheit auf eine nächsthöhere Evolutionsebene, auf eine Ebene, auf der die Angehörigen der Gattung nun endlich einsehen, dass es zwischen ihnen mehr Verbindendes als Trennendes gibt. Zweimal feiern im Sommer 1969 zwei unüberschaubare Mengen von Menschen den Beginn einer neuen und helleren Zukunft, den Eintritt einer lange ersehnten Hoffnung, den Beginn eines planetarischen Zeitalters; und beide Male handelt es sich um Utopien, die im Moment ihrer scheinbaren Realisierung schon wieder verloren sind. Diese Dialektik aus Utopie und Utopieverlust, aus der Sehnsucht nach einer erdumspannenden Gemeinschaft und der Vereinzelung der Menschen durch kollektive Enttäuschung wird für die siebziger Jahre prägend sein – insofern könnte man vielleicht sagen, dass die siebziger Jahre im Sommer 1969 beginnen.
Beide Massenversammlungen finden in ländlichen Gebieten an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika statt, die Teilnehmer reisen mit Autos an. Bei der ersten von beiden geht es äußerst zivilisiert und wohlgeplant zu, bei der zweiten herrscht hingegen das nackte Chaos. Zu der ersten Massenversammlung kommt das Publikum paar- oder familienweise in eigenen oder in gemieteten Wagen mit Campinganhängern oder in Wohnmobilen. Man zeltet oder campt ordentlich nebeneinander entlang der Sichtachsen, die einen freien Blick auf das erwartete Jahrhundertereignis erlauben. Die Menschen sitzen auf Plastikstühlen an Plastiktischen, sie trinken aus Plastikbechern und essen von Plastikgeschirr; sie schlafen in Plastikzelten in Schlafsäcken aus Plastik; sie genießen es, von all diesem Plastik umgeben, an der frischen Luft und im Grünen zu sein, und sie freuen sich alle gemeinsam auf das Spektakel, wegen dem sie sich hier in der Natur versammelt haben: den bislang größten Triumph, den die Menschheit in der Bezwingung der Natur zu verzeichnen hat; einen Triumph über die Schwerkraft; einen Triumph über die Beschränkung des Lebens auf jenen Planeten, auf dem dieses Leben entstanden ist. Die runde Million von Menschen, die sich an diesem Wochenende im Juli 1969 in Brevard County im US-amerikanischen Bundesstaat Florida versammelt, wartet auf den Start der ersten bemannten Mondmission, Apollo 11.
Die zweite und kleinere der beiden Massenversammlungen findet einen Monat später und etwa zweitausend Kilometer weiter nördlich statt. Am 15. August kommt etwa eine halbe Million Menschen in Bethel im US-Staat New York zusammen, um ein nach dem nahegelegenen Ort Woodstock benanntes Musikfestival zu feiern. Jimi Hendrix, Grateful Dead und Janis Joplin treten hier auf, Crosby, Stills & Nash und Country Joe McDonald, die Helden der amerikanischen Hippiekultur der späten sechziger Jahre; aber auch ein junger, noch weitgehend unbekannter Gitarrist namens Carlos Santana und die ruppige britische Rockgruppe The Who. Die Attraktion dieser Veranstaltung ist enorm, schon einige Tage vorher kampieren die ersten Besucher auf dem Gelände. Am Ende hätte das Publikum, wie jenes beim Raketenstart, leicht aus einer Million Menschen bestehen können: So viele sind nach Schätzungen der Behörden an diesem Wochenende nach Bethel unterwegs. Aber nur die Hälfte von ihnen kommt überhaupt in die Nähe des Festivalgeländes. Derart groß ist der Ansturm der Massen, dass die Straßen der Umgegend vollständig verstopfen. Endlose Staus umgeben den Ort, an dem die Besucher doch eigentlich die reine Natur finden wollten: «Walk around for three days without seeing a skyscraper or a traffic light», ist in den ersten Ankündigungen für das Woodstock-Festival versprochen worden; keine Wolkenkratzer und keine Verkehrsampeln, dafür viel frische Luft: «Fly a kite, sun yourself. Cook your own food and breathe unspoiled air.» Lass einen Drachen steigen, nimm ein Sonnenbad. Koch dein eigenes Essen und atme unverschmutzte Luft.
Sie wollen die Natur spüren und Musik hören und Drogen nehmen, vor allem wollen sie auf diese Weise Teil einer großen Familie werden. Sie alle fühlen sich einsam in der Welt, in die sie hineingeboren wurden; sie sind unzufrieden mit der Gesamtsituation; sie möchten nicht so leben, wie ihre Eltern es ihnen vormachen: in den engen patriarchalen Familienstrukturen der amerikanischen Mittelschicht, mit einem vorgezeichneten Lebensweg. Stattdessen suchen sie nach einer neuen Familie; nach Menschen, die genauso unzufrieden sind wie sie selber; die genauso denken und fühlen, sich anziehen und die Haare schneiden oder eben gerade nicht schneiden. Es geht um die Freiheit von vorgegebenen Konventionen und Frisurenmodellen. «Freedom» heißt denn auch das meistbejubelte Stück, das der Folksänger Richie Havens im Eröffnungskonzert des Festivals singt. «Freedom» beschwört nicht nur die Freiheit als solche, sondern auch das Freiheitsgefühl, das durch das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft gestiftet wird, also: den familiären Zusammenhalt der jungen Hippies, die sich vor der Bühne versammelt haben. In ihnen, singt Richie Havens, hat er die Brüder und Schwestern gefunden, die ihm Halt bieten, wenn er sich einmal wieder wie ein Waisenkind fühlt, «when I feel like a motherless child».
Die Folksängerin Melanie Safka singt anschließend von all den «beautiful people», die sie im Publikum vor sich sieht. Und «beautiful», schön, sind diese Menschen gerade deswegen, weil sie sich umeinander kümmern: «and if you take care of me / then maybe I’ll take care of you». Das erhabene Gefühl der Zusammengehörigkeit wird durch die Faszination der unübersehbaren Menschenmengen noch übertroffen. «Früher waren wir nur wenige», sagt Janis Joplin während ihres Auftritts, «jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.»
Eine halbe Million Menschen versammelt sich im August 1969 zum Woodstock-Festival: ein erhabener Anblick. «Früher waren wir nur wenige», verkündet Janis Joplin auf der Bühne, «jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.
Am Nachmittag des dritten Tages tritt der Farmer Max Yasgur, auf dessen Gelände das Festival stattfindet, vor das Publikum und hält eine kurze Ansprache. «This is the largest group of people ever assembled in one place», sagt er; das sei die größte Menge von Menschen, die sich jemals an einem einzelnen Ort versammelt habe. «Wir hatten keine Ahnung, dass es so viele sein würden», darum habe es ein paar Unannehmlichkeiten gegeben, und man müsse den Veranstaltern dafür danken, dass sie sich um alles derart umsichtig gekümmert haben. «Aber das Wichtigste ist: Ihr habt der Welt bewiesen, dass eine halbe Million Kinder – und ich nenne euch Kinder, denn meine eigenen Kinder sind älter als ihr –, dass eine halbe Million junger Leute zusammenkommen kann, um drei Tage lang Spaß und Musik zu haben und nichts als Spaß und Musik.» Danach segnet er die Besucherscharen vor ihm mit einer großen, weitausholenden Geste.
Max Yasgur trägt eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, eine Hornbrille und einen sauberen, kurzen Haarschnitt. Mit diesem Styling dürfte er in der halben Million Menschen, die an diesem Wochenende bei ihm zu Gast sind, der Einzige sein. Die Besucherinnen und Besucher des Festivals tragen durchweg bunte und weite Kleidung, viele sind auch nur spärlich angezogen; wenn sie ihre Haare frisiert haben, dann so, dass die Frisuren nicht als solche zu erkennen sind. Man sieht Schlaghosen, Hemden, Blusen und Kostüme mit aufgedruckten Blumen oder auch aufgedruckten Pantoffeltierchen. Viele Männer laufen aufgrund der sommerlichen Temperaturen und zur Demonstration ihrer zivilisationskritischen Grundeinstellung mit entblößter Brust herum und gar nicht so wenige Frauen auch. «Free the Nipples» – befreit die Nippel – lautet eine Devise der Hippiebewegung, die an diesem Ort massenweise umgesetzt wird. Viele Frauen tragen Blumengebinde im Haar, und gar nicht so wenige Männer tun es ihnen gleich. Viele Männer sind auch in wallende Gewänder gekleidet, die ebenso gut für eine Frau geschneidert sein könnten. Viele Frauen haben ihre Haare kurz geschnitten, wie man es in der westlichen Mehrheitsgesellschaft sonst nur von Männern kennt, während viele Männer ihre Haare lang und lockig tragen. Die langhaarigen Menschen beiderlei Geschlechts neigen dazu, ihre Frisuren mit farbenfrohen Stirnbändern zu bändigen. Es gibt also eine klare Tendenz zur geschlechtergrenzenüberschreitenden Bekleidung, die sich am sichtbarsten aber wohl darin äußert, dass sehr viele Frauen auf dem Festivalgelände Hosen tragen.
Aber nicht nur die traditionellen Geschlechtergrenzen sollen hier überschritten werden, sondern auch die Grenzen zwischen den Kulturen. Die Stirnbänder, ebenso wie die bunten Druckmotive auf den wallenden Gewändern, zitieren Götter- und Stammeszeichen der nordamerikanischen Ureinwohner. Man sieht aber auch Ponchos, die unmittelbar aus der Kultur der südamerikanischen Ureinwohner importiert worden sein könnten, oder bunte Dashikis, wie...