Einleitung
On Bullshit
Dominanz des Bullshits – die Tragödie der Wissenschaft – Falschliegen fühlt sich wie Rechthaben an – Lernen wie die Hunde – Darwinismus der Kooperation – die Überzeugungskraft guter und schlechter Argumente
«Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt.»
Der inspirierend direkte Anfangssatz des Essays «On Bullshit» des amerikanischen Philosophen Harry S. Frankfurt drückt eine einfache Wahrheit aus und spricht damit einen wichtigen Aspekt menschlicher Kommunikation an. Bullshit, das ist Frankfurts Definition zufolge jede Mitteilung, die versucht, den Empfänger von etwas zu überzeugen, ohne Rücksicht darauf, ob es wahr oder falsch ist. Seine Beobachtung, dass solch wahrheitsfernes Gerede nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel ist, läuft der üblichen Darstellung öffentlicher Diskurse und Debatten zuwider, wonach im Aufeinandertreffen der Ideen stets jene gewinnt, die die besseren Argumente und überzeugenderen Belege für sich reklamieren kann. Diskurse des Vernunftwesens Mensch, sagt diese Erzählung, dienen der Suche nach der Wahrheit, und ihr Auffinden ist eine noble Gemeinschaftsleistung.
Kaum eine Darstellung kollektiver Wahrheitsfindung könnte falscher sein, oder jedenfalls irreführender. Die Gesetze, die Streitgespräche und Debatten leiten, sind nur in Ausnahmefällen die sogenannt rationalen, und oft spielen ganz andere Faktoren als die Suche nach der Wahrheit eine derart starke Rolle, dass man beinahe fassungslos zuhört: Wie kann man scheinbar aufrichtig unplausible Argumente für etwas herbeizerren, das doch offensichtlich falsch ist? Und der ermüdende Verlauf vieler privater und öffentlicher Debatten ist nur die Spitze eines titanischen Eisberges.
Denn auch die Wahrnehmung der Debattenteilnehmer ist ja nicht, was das Wort selbst uns zu versprechen scheint. Sie folgt ihren eigenen verborgenen Gesetzen. Und die sind weit entfernt vom idealisierten Bild, das der Aufruf an jeden Unwissenden malt, er möge doch bitte einfach seine Augen öffnen und hinschauen, dann werde er schon sehen. Dieses Bild von der Wahrnehmung als einem Mittel zur direkten Destillation der Wahrheit aus den unsortierten Wirrnissen der Welt, als dem aufrichtigen Versuch, die Puzzlestücke auf der Suche nach dem verborgenen Puzzlemotiv richtig zusammenzusetzen, ist nicht einfach nur falsch. Nein, dieses Bild, das unser eigenes Gehirn uns über das Wesen unserer Wahrnehmung vorgaukelt, ist falsch mit Hintergedanken. Es versucht, uns von bestimmten Dingen zu überzeugen, ohne Rücksicht auf die tatsächliche, objektive Wahrheit. Es ist, mit anderen Worten, Bullshit.
Kluge Argumente oder Bullshit: Aus der Entfernung sieht alles aus wie heiße Luft.
Mit seiner Beobachtung der Allgegenwart des Bullshits traf Frankfurt jedenfalls punktgenau ins Herz der Dinge. Endlich sprach einer aus, was alle unterschwellig ahnten, endlich wurde das Unbehagen in Worte gefasst. Der zunächst in einer Literaturzeitschrift erschienene Aufsatz wurde 2005 vom Hausverlag der Princeton University als Büchlein veröffentlicht und trat einen weltweiten Siegeszug an. Aus der Beobachtung, dass Propagandalügen unsere Gegenwart und unsere Diskussionen durchziehen wie Schmelzrisse die antarktische Eisplatte, wurde ein internationaler Bestseller.
Eine schöne und plausible Geschichte, aber leider ist auch sie Bullshit, denn erstmals erschienen war der Aufsatz schon 1986, zwischen der Erstpublikation und dem Bestsellerstatus lagen also zwanzig lange Jahre.
Nun kann man sich eine andere Geschichte bauen, wonach eben für Frankfurts Idee die Zeit 1986 noch nicht reif war. Die amerikanische Öffentlichkeit brauchte erst die industriell organisierte Bullshitausbringungsmaschinerie des Clinton-Skandals und hatte erst die Verlogenheit der öffentlichen Propaganda für den dritten Irakkrieg erleben müssen, um Frankfurts Beobachtungen so recht schätzen zu können. Vielleicht war damals, in den letzten Sekunden vor dem weltweiten Siegeszug der Bullshitkrake Internet, insgesamt noch gar nicht genug plausibel klingender Blödsinn in die Welt gestemmt, um den breiten Bedarf für seine Analyse zu wecken.
Diese Erklärungen fühlen sich beim Lesen vermutlich diffus einleuchtend an, denn sie besitzen als Narrativ eine gewisse innere Stringenz und behaupten vorstellbare kausale Zusammenhänge, von einer Art, wie wir sie zu kennen glauben, und das sind ja die besten kausalen Zusammenhänge von allen. Solchen inneren Stringenzen und Erzählungen von Ursache und Wirkung folgen wir jederzeit gern. Wir werden uns im Verlaufe dieses Buchs genauer ansehen, warum das eigentlich so ist, ja sogar so sein muss.
Aber, um es noch mal zu unterstreichen, dergleichen kausale Erzählungen und speziell die hier angebotenen Erklärungen für die zwanzigjährige Verzögerung der Bullshitanklage haben eine interessante Schwäche: Sie sind selber Bullshit. Sie kommen nämlich komplett ohne Belege aus, also ohne das, was Wissenschaftler etwas förmlich und steif Daten nennen.
Diese Haltung wurde vom amerikanischen Journalisten und Humoristen Mark Twain ganz gut zusammengefasst, als er sarkastisch schrieb: «Lassen Sie die Wahrheit niemals einer guten Geschichte im Weg stehen.» Oder vielleicht wird sie noch besser dadurch zusammengefasst, dass das Zitat überhaupt nicht von Mark Twain stammt, obwohl man es online mehrfach findet und Sie mir vermutlich gerade geglaubt haben. So wie auch viele andere populäre Zitate nicht von ihren angeblichen Urhebern stammen.
Ernüchternd? Enttäuschend?
Thomas Henry Huxley ist für seine vehemente Verteidigung der Evolutionstheorie als Darwins Bulldogge in die Geschichte eingegangen. Der Biologe wurde der Stammvater eines ganzen Clans bedeutender Wissenschaftler und Autoren. Unter seinen Enkeln finden sich mit Aldous Huxley, dem Autor der «Schönen neuen Welt», mit Julian Huxley, dem Erstdirektor der Unesco, und mit dem Physiologen Andrew Huxley, der an einem kunstvoll zerlegten Riesenkalmar die Mechanismen der Signalleitung in Nerven demonstrierte und dafür mit seinen Kollegen John Eccles und Alan Hodgkins den Nobelpreis einfuhr, mindestens drei intellektuell schwergewichtige Nachfahren. Thomas Henry jedenfalls nannte den «Totschlag einer wunderschönen Theorie durch hässliche Fakten» in einem Vortrag vor der British Association die «große Tragödie der Wissenschaft». Und in dieser richtigen Beobachtung, dass nämlich das Widerlegen einer falschen Theorie durch Beobachtung uns nicht als Triumph der Erkenntnis, als Fortschritt, als Licht in der Dunkelheit, sondern eben als eine Tragödie erscheint, als Ermordung der Schönheit selbst, liegt eine übergeordnete und weitergehende Tragödie, die Tragödie nämlich der Wahrnehmung.
Dass sich oft nicht das Richtige für uns schön, gut und eben richtig anfühlt, sondern das Althergebrachte, das von mächtigen Autoritäten Gestützte und das überzeugend, will sagen: laut und mit mächtig Schmackes Vorgetragene, das führt dazu, dass Aberglaube und Irrlehre eine auf den ersten Blick erstaunliche Beharrlichkeit aufweisen. Dass diese Mechanismen der Wahrnehmung durchaus ihren Sinn haben, dass es sich aus einleuchtenden Gründen gut, aufregend und belebend anfühlt, ihnen nachzugeben und den Instinkten zu folgen, die uns die Evolution mitgegeben hat, dass aber aus den irrtümlichen Glaubenssätzen, die sich da so gut anfühlen, oft schädliche und mitunter katastrophale Folgen erwachsen, ist das Wesen dieser Tragödie. Es sollte uns insgesamt eine Lehre sein.
Ist es aber nicht.
Wie die amerikanische Journalistin Kathryn Schulz in ihrem Buch «Being Wrong» schreibt, fühlen sich Rechthaben und komplett Falschliegen leider exakt gleich an. Mit gutem Gefühl und fester Überzeugung glauben wir den größten Quark und staunen dann gar nicht schlecht, wenn uns die empirischen Fakten auf den Boden der Tatsachen zurückholen. «Das war falsch? Aber es fühlte sich doch so richtig an», rufen wir erstaunt, während aus dem Fesselballon unserer Irrtümer mit kläglichem Rauschen die heiße Luft entweicht und uns die Tatsachen wie Bleigewichte an den Füßen hängen.
Denn wie der amerikanische Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Neil DeGrasse Tyson schrieb, ist das Gute an der Wissenschaft, dass ihre Erkenntnisse wahr sind, egal ob man an sie glaubt oder nicht. Weil Tyson diesen Satz twitterte, hatte er ein bisschen vereinfachen müssen: Natürlich sind wissenschaftliche Theorien nicht automatisch wahr. Ihre Wahrheit ist noch nicht einmal unabhängig von anderen Dingen, die wir für wahr halten. Ob ein Elektron Gras frisst oder nicht, hängt natürlich davon ab, ob wir ein Elektron für ein elektrisch geladenes Elementarteilchen halten oder für einen wiederkäuenden Paarhufer. Aber sobald wir uns dafür entschieden haben, dass die Kuh Elektron heißen soll, ist es eine empirische Frage, was die Elektronen auf der Weide zu sich nehmen. Wir ebenso wie die Elektronen selbst können uns einbilden, dass sie Kekse knabbern, aber die objektive Wahrheit wird ans Licht kommen: «Moment mal, das ist Gras. Wir haben die ganze Zeit Gras gefressen.» (Gary Larson)
Und diese Unterwerfung unter das Urteil objektiver Messergebnisse unterscheidet die Unternehmung Wissenschaft von Religionen, Aberglauben, esoterischen Moden und allen anderen Geschmacksrichtungen des allgegenwärtigen Bullshitcocktails. Und wenn man als Lebewesen ein praktisches Interesse daran hat, erfolgreich durch die...